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Man kann die Zeit weder anhalten, noch zurückdrehen. Vergangenes nicht ungeschehen machen. Schlechte Erlebnisse werden schneller vergessen als Gute. Stimmt das? Dramatische Ereignisse bleiben jedenfalls länger im Gedächtnis. Psychotraumatische Vorkommnisse nisten sich hingegen tief in unserem Unterbewusstsein ein. Sie können niemals aus dem persönlichen Geschichtsbuch gestrichen werden. Bestenfalls konservieren, verarbeiten oder verdrängen wir sie. Ohne vor deren unvermuteter Rückkehr sicher zu sein. Sie können aber auch für immer in uns schlummern.

Sie vergraben sich in den hintersten Winkeln unserer Ganglien. Sie schlafen dort länger, als ein Winterschlaf sich hinzieht. Wenn sie ruhen, bemerken wir sie nicht. Und eines Tages erwachen sie, kriechen langsam, Schicht um Schicht, wie Regenwürmer bei Schlechtwetter, Richtung Oberfläche, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Es dauert Tage, Wochen, Jahre oder sogar Jahrzehnte. Wie Bomben, die während des Krieges, von Flugzeugen abgeworfen wurden und nicht zündeten. Sie liegen verborgen, in tiefen Abgründen. Sie landen in einem See, verstecken sich. Oder schlagen abgrundtiefe Löcher ins Erdreich, um ihrerseits wieder meterhoch von tonnenschwerem Gestein verschüttet zu werden. Rosten – billigem Eisen gleich – vor sich hin. Niemand weiß, ob ihre vernichtende Kraft jemals von Neuem zum Vorschein kommen wird.

Doch eines Tages, durch welchen Umstand immer, zeigen sie ihr alles zerstörende Wesen. Verursachen kollaterale Schäden an ihrer Umgebung. Sie sind in der Lage, jedes Gestein mit Leichtigkeit beiseite zu schleudern, lassen Flutwellen entstehen, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausbreiten. Genau darin besteht die unterschätzte Gefahr. Gewöhnung an das drohende Unheil birgt enormes Risiko.

Dörfer, die an längst erloschenen Vulkanen gebaut oder Atomkraftwerke die auf seismisch aktiven Bruchlinien errichtet sind, beweisen nur, dass die Bedrohung, derer man sich nicht vordergründig bewusst ist, als inexistent wahrgenommen wird.

Den Regenwurm, der bei zu viel Wasser im Boden seinem Heil an der Oberfläche zustrebt, nehmen wir nicht wahr. Wir sehen ihn auch nicht im hohen Gras, wenn er längst den angestammten Lebensbereich verlassen hat. Nur wer gezielt nach ihm Ausschau hält, wird ihn finden.

Dieser Wurm, diese Zeitbomben sind der Grund für die schleichende Veränderung unseres Wesens, unserer Stimmungslagen. Hoch und Tiefs wechseln sich in immer kürzer werdenden Abständen ab. Man kann es nicht beschreiben: Körperlich unangenehme Symptome werden dem Stress, dem man am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, zugeschrieben. Oder der letzten sportlichen Betätigung, bei der man sich anscheinend übernommen hat. Oder einem Infekt, den man übergangen hat. Viele Gründe werden gefunden und manches falsch interpretiert. Wir erstellen laienhafte Diagnosen. Erst wenn man bereit ist, in sich hineinzuhören, sich dem Unterbewusstsein zu stellen, kann man seinen Gefühlen und deren Ursachen entgegentreten. Nur dann hat man eine geringe Chance, rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sich auf die große, alles vernichtende Explosion vorzubereiten. Das Unvermeidliche nicht geschehen zu lassen.

Die Frau, die mit ihrem Wagen auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs ist, ist sich der Gefahr, in der sie sich befindet, nicht bewusst. In ihr schlummert eine Bombe von verheerender Zerstörungskraft.

An diesem Vormittag sind ungewöhnlich viele Fernlastzüge unterwegs, die sie im Minutentakt überholen. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie hat einzig ihr Ziel vor Augen. Die Landschaft abseits der Autobahn interessiert sie nicht. Die Fahrzeuge, die an ihr auf der Überholspur vorbeipreschen, interessieren sie nicht. Selbst die Musik in ihrem Auto beachtet sie nicht. Nichts kann ihre Stimmung zum Besseren wenden.

Sie verheddert sich immer tiefer in ihren Erinnerungen, fragt sich, warum es ihr schlecht geht. Sie verringert noch mehr ihre Geschwindigkeit. Ihr Blickfeld verengt sich von Kilometer zu Kilometer. Sie hofft, dass es ihr am Ziel besser gehen würde.

Das tiefe, laut warnende Tröten eines Sattelschleppers, der gerade dabei ist, sie zu überholten, reißt sie unsanft in die Realität zurück. Sie erschrickt, denn beinahe hätte sie die Ausfahrt verpasst. Ihre Hände transpirieren. Schweißnass liegen sie auf dem feinen Leder ihres Lenkrades. Sie kramt ein Tuch aus dem Handschuhfach hervor. Wischt sich ihre Handflächen trocken und legt es auf ihren Schoss, um es jederzeit in Griffweite zu haben.

Die Bundesstraße kommt ihr heute länger vor als sonst. Ab und zu blickt sie hinunter in das Bachbett der Schwarza. Wie zwei Verliebte, eng aneinandergeschmiegt, winden sich die Straße und der große Bach durch das Tal. Einmal befindet sich das Wildwasser mit den majestätischen Schaumkronen zu ihrer linken, ein anderes Mal zu ihrer rechten Seite. ›Nur noch wenige Kilometer. Und dann rufe ich an‹, ermuntert sie sich, als sie den wohlvertrauten Wegweiser erreicht.

Sie setzt den Blinker und biegt vom Lengthal aus in die schmale kurvenreiche Straße ein, die zum Bergsee hinaufführt. Wie oft war sie diese Landstraße in all den Jahrzehnten schon gefahren? Bereits vor dreißig Jahren quälte sie ihren uralten VW-Käfer 1302 bergwärts. Sie riecht den Wagen noch heute riechen, denn sie besitzt die Gabe, sich Gerüche einzuprägen. Sie scheinen für ewige Zeiten in ihre Gehirnschale eingebrannt zu sein. Wie in Stein gemeißelt. Und sie kann jede Duftnote jederzeit abrufen, wann immer sie es will. Sie ist in der Lage, sie auf die blumigste Art zu beschreiben. Sie erschnuppert die geringsten Nuancen. Genauso wie sie in diesem Augenblick den Mief des alten Käfers, mit seinem billigen Plastikgeruch und dem allgegenwärtigen Abgasgestank im Wageninneren, in ihrer Nase verspürt. Sie versucht, die damit verbundenen Erinnerungen zu verdrängen.

Mit ihrem modernen Audi A1 merkt sie nur wenig von der Steigung. Leise schnurrt der Wagen der kurvigen Straße entlang, die sich seit damals stark verändert hat. Viele der engen Kurven sind durch Brückenbauten begradigt worden. Lawinengalerie reiht sich an Lawinengalerie. Die dereinst häufigen Straßensperren gehören der Vergangenheit an.

›Zwei Kurven noch, dann bin ich am Ziel.‹

Sie biegt in den großen, fast leeren Parkplatz ein. Normans alten Jeep erkennt sie sofort. Daneben parken drei weitere Autos der Luxusklasse.

»Gott sei Dank – wenig Betrieb heute«, atmet sie erleichtert auf und stellt ihren Wagen neben den anderen ab. Schaltet den Motor aus. Zieht die Handbremse an. Greift nach ihrem Tuch und reibt sich die Hände trocken. Die Anspannung weicht aus ihrem Körper. Sie nimmt sich vor, nie wieder in einem Gemütszustand – wie auf der Autobahn – ein Fahrzeug zu lenken.

Sie wischt sich winzigen Schweißperlen von der Stirn. Mit unsäglicher Kraft und Schnelligkeit heizt die Sonne den Innenraum des kleinen Wagens auf. Sie öffnet die Tür, um frische Luft hereinzulassen. Sie atmet kräftig ein, saugt die kühle Brise tief in ihre Lunge, und lässt sie mit einem lang gezogenen Seufzen wieder entweichen.

Kurz überlegt sie, ob sie ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holen sollte. Sie steigt aus und merkt, wie sehr sie die Fahrt körperlich angestrengt hat. Sie ist müde, sie ist durstig. Ungemein durstig. Ihr Gepäck lässt sie im Wagen und trottet zum heimeligen Hotel, das zwischen dem idyllischen See und dem Parkplatz liegt.

Jedes Mal, wenn sie den alten Steinbau mit seiner großen, einladenden Terrasse sieht, muss sie an das Stanley Hotel in Estes Park, in Colorado denken, in dem der Film ›Shining‹ mit Jack Nicholson gedreht worden ist. Der ›Berghof‹ hat aber bei Weitem nicht die endlosen Ausmaße. Außerdem liegt er an einem malerischen See, ist viel kleiner und strahlt mehr Gemütlichkeit aus. Seit dreißig Jahren besucht sie bereits dieses Juwel hier in den Bergen. Der Efeu, der sich mit der Zeit an den Wänden emporgearbeitet hat, scheint es vor Wind und Wetter zu schützen, und alle, die sich in den Gemäuern aufhalten.

Der Torbogen am Eingang, vor den Treppen, ist ebenfalls dicht mit Efeu überwuchert. Daneben lehnt eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben steht: »Herzlich willkommen im Berghof. Heute fangfrische Forellen« Sie liest, lächelt müde und nickt.

Die Frau schleppt sich die Stufen hinauf zur Terrasse. Es macht den Eindruck, als würde sie sich am Handlauf emporziehen. Zwei Männer sitzen an einem Tisch und prosten sich mit großen Biergläsern zu.

Im Empfangsbereich des Hotels ist niemand zu sehen. Sie geht durch die alte, mit Butzenscheiben und groben Intarsien verzierte Schwingtüre. Blickt in die Speisestube. Menschenleer. Kurz überlegt sie, ob sie die Rezeptionsklingel betätigen sollte, um den Wirt herbeizurufen. Sie entdeckt ihn hinter der Durchreiche zur Küche, eine große, schwere Gusseisenpfanne schwenkend. Norman, der in die Jahre gekommene Chef des Hauses und Koch in einer Person, ist von einer übermächtigen Rauch- und Dampfwolke umgeben. Nur schemenhaft sind seine Umrisse zu erkennen.

»Norman!«, ruft die Frau.

Der Koch schaut von der dampfenden Pfanne auf und erkennt die Ruferin sofort. Ein breites, freundliches Lächeln überzieht sein rundliches Gesicht.

»Bin gleich bei dir – Moment bitte!«

»Mach dir keine Umstände!«, ruft sie zurück. »Ich habe Zeit. Viel Zeit sogar.«

»Zimmer wie üblich – Seeblickzimmer. Ist schon hergerichtet. Minibar ist voll. Solltest durstig sein, bediene dich. – Der Schlüssel steckt.«

Und wie es sie dürstet. »Danke, du bist ein Schatz. – Man sieht sich nachher.«

Die Frau dreht sich um und schleppt sich zum Aufzug. Die Anzeige sagt ihr, dass die Kabine jeden Augenblick im Erdgeschoss eintreffen wird. Die Türe gleitet zweigeteilt zur Seite. Ein stämmiger, muskulöser Mann steigt aus dem Lift. Glatzköpfig, geschätzte fünfundsechzig Jahre alt. Trägt Freizeitkleidung. Er gibt den Weg frei und grüßt.

»Bitte sehr«, sagt er.

»Danke«, murmelt die Frau, ihren Blick zum Boden gerichtet. Sie steigt in die leere Kabine und drückt auf die Nummer 3 – Dachgeschoss.

Plötzlich, die Tür hat sich noch gar nicht komplett geschlossen, zuckt sie wie vom Blitz getroffen zusammen. Sie holt, durch die Nase, tief Luft. Schnuppert. Sie wankt. Ihre Knie werden weicher und weicher. Es scheint, als würde sie alle Kraft dieser Welt verlassen. Sie muss sich an der rückwärtigen Wand abstützen. Schwindel erfasst sie. Der lang gezogene Gong dröhnt in ihren Ohren. Sie legt ihre Hände an ihren Kopf, um den Lärm zu dämpfen. Die Tür öffnet sich, aber sie steigt nicht aus. Sie drückt die Taste ›E‹ für Erdgeschoss. Die Türhälften schließen sich. Während der Lift nach unten fährt, hat sie Zeit, sich zu sammeln. Was war mit ihr geschehen? Warum hat sie die Kraft verlassen?

Es war der würzig-ledrige Duft in dem Aufzug. Dieser einzigartig herbe Männerduft. Genau der, den sie mit einem südländischen Typ mit gewelltem, langem Haar verbindet. Sollte sie diesem Mann von damals, heute hier und jetzt wieder begegnen?

Zittrig, vorsichtig um sich blickend, verlässt sie die Aufzugskabine. Aus der Küche hört sie appetitliches Prasseln. Dazwischen das typische Hämmern eines Schlögels, der Fleisch mürbe klopft. Sie betritt zögerlich die Gaststube, von der man durch das Panoramafenster einen uneingeschränkten Blick auf die weitläufige Terrasse hat.

Der Kahlköpfige steht bei den beiden Männern. Er greift nach einem vollen Bierglas. Sie prosten sich zu. Sie trinken. Der Glatzkopf dreht sich Richtung See. Jetzt erkennt die Frau sein Gesicht.

Sie sucht Halt. Findet keinen. Wendet sich zur Eingangstür. Der Fluchtweg scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ihre Kräfte drohen sie jederzeit zu verlassen. Sie bäumt sich innerlich auf. Versucht, die Orientierung zu behalten. Visiert das Treppengeländer vor dem Haus an. Ergreift es. Stützt sich unbeholfen ab. Presst ihre Hüfte gegen den verchromten Handlauf. Die Reibungswärme auf ihrer linken Handfläche steigt stetig an. Sie schafft es auf wackeligen Knien hinunter zum Parkplatz. Erreicht schweißgebadet ihr Fahrzeug. Startet wie in Trance. Ruft jahrelang eintrainierte Bewegungsabläufe ab. Tritt das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Lässt die Kupplung schnalzen. Reifen quietschen.

Der Audi A1 rast der ersten Kurve entgegen.

PUNKTUM.

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