Читать книгу PUNKTUM. - Wolfgang Priedl - Страница 17
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ОглавлениеDie drei Männer haben bereits kurz nach Sonnenaufgang ihre Zimmer verlassen. Der alte Thilo, Seniorchef des Hauses, hatte ihnen ihr bestelltes Frühstück auf der Terrasse serviert.
»Ein ganz schön mürrischer Typ«, meint der große Hagere.
»Ist ihm nicht zu verübeln. Schau auf die Uhr. Wenn ich nicht freiwillig aufgestanden wäre, würde ich noch missmutiger unterwegs sein, um diese Tageszeit. Wir sollten froh sein, dass er uns das Frühstück zubereitet hat«, sagt der Kleinere und räuspert sich.
»Sag, er war doch früher der Chef hier? Oder täusche ich mich?«, fragt der Hagere in die Runde.
»Ja, war er, bis er Norman das Hotel übertragen hat. Heute kümmert sich der Alte um den Garten und die Boote. Soviel ich mitbekommen habe, ist er bereits seit Jahren in Pension.«
»Freunde, so leid es mir tut, mir pressiert's. Ich muss zusehen, dass ich rechtzeitig beim Kongress bin. Die wollen meinen Vortrag hören. Sind noch gut zweihundert Kilometer – also, bis zum nächsten Mal. Ciao«, sagt der Glatzkopf, rafft sein Gepäck an sich und eilt zum Fahrzeug. Nach zehn Minuten sieht Thilo, wie auch die beiden anderen aufbrechen. Als sie losfahren, schaut er ihnen lange hinterher.
»Norman, du kannst schon hinausfahren. Ich erledige hier alles. Ich glaube, mehr als fünf Forellen werden wir heute nicht benötigen. Wir haben nur einen Hotelgast und zwei Tischreservierungen. Wenn es abends wieder schüttet, dann wird das eine ruhige Zeit«, hört Norman die Stimme seines Vaters sagen.
»In Ordnung. Ich bin bald zurück«, erwidert er und stakst zum Bootssteg hinunter.
»Die Angel mit den Ködern habe ich dir bereits ins Boot gelegt!«, ruft ihm Thilo nach. Zum Dank hebt sein Sohn die rechte Hand.
Der Steg knarrt leise unter Normans Gewicht. Dumpf schallen die Schritte auf den schweren Holzbalken. Er zieht das kleine blaue Ruderboot heran und springt geschmeidig hinein. Solche Grazie hätte man ihm aufgrund seines Körperbaues nicht zugetraut. Im Sitzen rückt er die Angel entlang der Bordwand zurecht. Ein kleiner Plastikkübel dient ihm als Schöpfwerkzeug. Eimer für Eimer kippt er das Regenwasser der letzten Nacht, aus dem Boot, in den See.
Mit langen, kräftigen Ruderschlägen zieht er auf den dunkelgrünen, zu dieser frühen Stunde fast schwarzen See hinaus. Er sieht hinüber zur Steilwand, wo er den besten Fangplatz vermutet. Er korrigiert etwas seinen Kurs. Hauchzarte Dunstschleier wälzen sich langsam am Westufer entlang, erforschen jeden Strauch, schmiegen sich um sämtliche Bäume. Die Sonne spiegelt sich im See und zeichnet einen goldenen Streifen auf die Wasseroberfläche. Die kleinen Wellen, die von Normans Boot aus spielerisch zu den Ufern laufen, brechen die Sonnenstrahlen und lenken sie in alle Himmelsrichtungen ab, und erwecken die goldfarbene Bahn zu quirligem Leben.
Norman rudert der Steilwand entgegen. Noch wenige Ruderschläge, dann würde er sein Ziel erreicht haben. Langsam hebt er die schweren, in Bootsfarbe lackierten Blätter aus dem Wasser und verstaut sie längsseits. Er befestigt den Köder am Haken, wirft die Angel aus und beobachtet das gemächliche Auf und Ab des Schwimmers. Er muss an die Frau denken, die er gestern mittags begrüßte. Sie war nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht hat sie einen Ausflug unternommen. Als er abends, um halb elf, das Hotel abschloss, war sie jedenfalls noch nicht zurück. Gerne hätte er sich mit ihr unterhalten. Über die vielen Jahre hinweg waren sie Freunde geworden, die sich stundenlang Geschichten erzählen konnten. Er hofft, dass sich heute Abend die Gelegenheit dazu bieten würde. Er freut sich darauf, mit ihr ein Gläschen ihres Lieblingsweines, den er immer wieder bei seinem Weinlieferanten, nur für sie, bestellte, zu trinken und um Neuigkeiten auszutauschen.
Plötzlich zuckt der Schwimmer. Norman ergreift die Angel. Wieder verschwindet der Schwimmkörper unter der Wasseroberfläche und wird in die Tiefe des Sees gezogen. Ruckartig zieht der Wirt die Rute zurück. Ein Prachtexemplar einer Regenbogenforelle hat angebissen. Nach kurzem Kampf hievt er sie ins Boot und ergreift mit festem Griff den zappelnden Raubfisch. Krallt seinen Daumen und Zeigefinger in dessen Kiemen. Packt den Kopf des Fisches und mit einem gekonnten, kräftigen Ruck bricht er ihm gnadenlos das Genick. Im nächsten Augenblick hängt die Forelle bewegungslos in seiner Hand. Norman füllt den Eimer mit Wasser und wirft den toten Fisch hinein.
Er überlegt, ob er an dieser Stelle bleiben soll, oder einen neuen Platz aufsuchen sollte. Sein Blick tastet dem Ufer entlang. Plötzlich erkennt er eine Gestalt, die am Ende des Steilhangs liegt.
Wer sonnt sich bereits früh am Morgen, noch dazu am Fuße des Abbruchs? Auf dieser Gesteinshalde, fragt er sich und rudert zur Felswand. Vielleicht wird seine Hilfe benötigt? Trockenen Fußes ist diese Stelle nicht zu erreichen. Nur schwimmend oder mit einem Boot. Instinktiv erhöht Norman die Schlagzahl. Er dreht sich um. Der Körper ist bekleidet. Hose, Hemd und Schuhe. Daher ist es nicht anzunehmen, dass dieser Mensch zu der Stelle geschwommen ist, aber ein Boot sieht er nicht. Soviel er sich erinnert, fehlt auch keines am Steg.
Er dreht sich nochmals um. Der Körper liegt kopfüber. Die Gliedmaßen stehen in unnatürlichem Winkeln ab. Schrecklich verrenkt. Dem Wirt durchfährt ein grauenerregender Gedanke: ›Es wird sich doch niemand über die Wand in den Tod gestürzt haben?‹
Normans Boot stößt unsanft gegen einen Felsen. Er verliert beinahe das Gleichgewicht.
Ohne auszusteigen, erkennt er, dass hier jede Hilfe zu spät kommt. Der Körper liegt mit dem Kopf abwärts, das Gesicht halb ins Wasser getaucht. Das rechte Knie ruht auf einem großen Stein, es ist unnatürlich nach hinten durchgebogen. Die weißen Tennisschuhe sind stellenweise dunkelrot gefärbt. Die Jeans an manchen Stellen aufgerissen. Das T-Shirt teilweise vom Rücken gefetzt. Norman erkennt den Verschluss eines Büstenhalters.
Er schreit auf, er brüllt: »NEIN!«
Gleich darauf nochmals. Die Wälder auf der einen und die Steilwand auf der anderen Seite des Sees werfen seine Schreie mehrfach hin und her, als würden sie mit einem, sich zerbröselnden Tennisball spielen. Jedes Mal ein wenig leiser, bis sie endgültig von der Stille verschluckt werden.
Ohne das zertrümmerte Gesicht gesehen zu haben, ahnt er, wer vor ihm liegt. Dicke Tränen laufen ihm über die breiten Wangen. Die Hände zittern wie Espenlaub. Er ringt nach Luft.
Hektisch wendet er die Nussschale und rudert mit mächtigen Schlägen zurück zum Steg. Schon von Weitem hört er seinen Vater rufen: »Warst du das vorhin, der so geschrien hat?«
»Warte, bin gleich bei dir!«, ruft Norman, ohne den Kopf zu wenden. Steif klettert er auf den Bootssteg. Die tote Forelle, die mit dem Bauch nach oben und offenem Maul im Eimer schwimmt, lässt er im Boot.
»Vater, sie ist tot. – Sie liegt auf der Abraumhalde der Erlöserwand …« Der Schock spiegelt sich in Normans Gesicht wider. Schier unerträgliche Müdigkeit erfasst ihn.
»Wer ist tot? Wer liegt da drüben?«, fragt der alte Thilo mit erregter Stimme.
Sein Sohn versucht, den Namen der Toten zu artikulieren, aber seine Stimmbänder versagen kläglich ihren Dienst. Zittrig zeigt er mit dem Arm in Richtung des Seeblickzimmers.
Thilo schaut hinauf und erkennt, was ihm Norman mitteilen will. Er greift sich mit beiden Händen an den Mund. Vor Schreck reißt er die Augen weit auf und starrt seinen Sohn ungläubig an.
»Bist du dir sicher?«, presst der Alte die Worte zwischen den Fingern hervor.
Norman antwortet mit wirrem, zustimmendem Kopfnicken.
»Hast du die Polizei verständigt?«, fragt der Alte.
Norman schüttelt den Kopf.
»Wir müssen sie sofort verständigen … «
»Mein Mobiltelefon – liegt – liegt – in der Küche«, stammelt Norman und reibt sich über seine geröteten Augen.
»Ich hab meines hier … «, antwortet der alte Mann entsetzt und wählt die Notrufnummer.
»Danke.« Norman ist erleichtert, dass nicht er mit der Polizei sprechen muss.
»Bergmann hier. Wir haben einen Toten gefunden … am Bergsee … nein, nicht ich, mein Sohn, Norman, Norman Bergmann … die Leiche liegt drüben, am Fuße der Steilwand. Ist vermutlich von der Aussichtsplattform gestürzt … Danke … Wann werden Sie hier sein? … Schnellstmöglich. Aha. Ich verstehe…. Ja, wir warten auf der Hotelterrasse auf Sie. … Mein Name? Thilo Bergmann, ich bin Normans Vater. … Bis gleich … Auf Wiederhören.«
»Wer kommt?«
»Sie schicken eine Streife. Kripo wird verständigt. Wer genau, wissen sie nicht. Es hängt davon ab, wer heute Dienst hat. Er hat irgendetwas von Selbstmord gesagt und da ist eine Abteilung so und so vom LKA zuständig.«
Norman steht noch immer wie versteinert am Bootssteg und fixiert mit seinen Blicken die Erlöserwand. Unfähig sich zu rühren. »Weißt du, dass ich sie sehr mochte? Pa.«
»Ja, das ist mir nicht verborgen geblieben. War in all den Jahren nicht zu übersehen.«
»Ich glaube, sie hat heute Nacht nicht in ihrem Zimmer übernachtet.«
»Bist du dir sicher?«
»Lass uns nachsehen. Ich muss es wissen … «
Thilo schnappt sich den Eimer mit dem toten Fisch und sie stapfen hinauf zum Hotel. Norman blickt an der Rezeption auf das Schlüsselbrett. Der Schlüssel für das Zimmer 301 – Seeblickstüberl – fehlt. Sie fahren mit dem Aufzug nach oben. Klopfen an die Zimmertür. Keine Antwort.
Norman zeigt auf den Schlüssel, der im Schloss steckt. Thilo drückt die Klinke und öffnet die Tür. Das Bett ist unberührt. Kein Gepäck zu sehen. Die Etagere ist leer. In der Minibar fehlt nichts. Keine persönlichen Dinge stehen herum.
»Wie gibt es das? Ihr erster Weg war immer auf ihr Zimmer. Sie hat mich doch gestern begrüßt und meinte, sie sei durstig. Ich habe ihr gesagt, dass die Minibar voll ist, und der Zimmerschlüssel steckt. Sie wollte sich später bei mir melden. Hat sie nicht getan. Vielmehr sah ich sie am Nachmittag mit unserem Pfarrer in Richtung Seeblick aufsteigen. Der kam aber alleine den Steig wieder herunter. Ohne sie. Ich habe sogar eine Weile zugewartet … «
»… steht ihr Auto am Parkplatz?«
»Der alte Golf? Den habe ich das ganze Wochenende nicht gesehen. Die einzigen Autos, die in der Früh hier gestanden sind, waren die Fahrzeuge der Gäste und der unser Jeep. Die drei Männer sind heute Morgen abgereist.«
»Das ist eigenartig … «, sagt Thilo leise. Nachdenklich spricht er weiter: »Pass auf, wenn die Polizei kommt, beantworte nur ihre Fragen. Erzähle ihnen nichts, was über die Fragen hinausgeht. Halte dich mit Informationen zurück … «
»… Warum das?«, unterbricht ihn Norman.
»Erzähle ich dir später, in einer ruhigen Minute. Ich habe einen Verdacht. Ist eine lange, traurige Geschichte. – Vertraue mir bitte. Ich will in nichts unnötig hineingezogen werden. Ich will nicht, dass man falsche Schlüsse zieht«, beschwört Thilo seinen Sohn.
Norman nickt irritiert.
Als die beiden im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl steigen, hören sie das Heranbrausen des Martinshorns der Polizei. Sie gehen hinaus auf die Terrasse, wo zwei Uniformierte die Treppe heraufkommen. Im Hintergrund, auf dem Parkplatz blinken eintönig die blauen Lichter des Einsatzwagens. Sie begrüßen die Polizisten und stellen sich einander vor.
»Und wo ist die Leiche?«, will der Größere wissen.
»Sie finden sie drüben, bei der Felswand«, antwortet Norman und zeigt in die Richtung.
»Wie kommt man dort hin? Gibt es einen Weg?«
»Nein, die Stelle ist nur mit einem Boot zu erreichen. Oder sie schwimmen. Trockenen Fußes geht's nicht.«
Der kleinere der beiden Polizisten greift zu seinem Telefon und gibt die Informationen weiter.
»Die Kriminalpolizei ist unterwegs«, sagt er und steckt sein Mobiltelefon wieder in die Brusttasche.
»Kripo? Wieso Kripo?«, will Norman wissen.
»Die Polizei muss bei ›gewaltsamen Tod‹ eingeschalten werden. Egal, ob Unfall oder Mord. In dem Fall, scheint es sich um Selbstmord zu handeln … «
»Selbstmord?«, fragt Norman zögerlich. »Kann es sich nicht um einen Unfall gehandelt haben?«
»Egal. Von dieser Wand sind doch schon einige Menschen in den Freitod gesprungen … «
»Das ist aber Jahrzehnte her … «
»… Auch wenn es Jahrzehnte her ist, das bedeutet nicht, dass es nicht jederzeit wieder passieren kann. Aus diesem Grund gehen wir vom Schlimmsten aus. – Von Suizid.«
Thilo und Norman nicken, senken ihre Blicke zu Boden, als wollten sie nach entsprechenden Erinnerungen suchen.
Ein weiterer Einsatzwagen trifft ein. Die Beamten unterhalten sich. Schreiben Notizen in ihre Blöcke. Nach einer Weile hört man aus der Ferne das typische Folgetonhorn der Feuerwehr. Aufgrund des Echos, hätte man meinen können, dass es eine Vielzahl an Fahrzeugen sei, die zu einem Waldbrand gerufen worden sind.
»Wozu die Feuerwehr?«, fragt Norman seinen Vater. Dieser antwortet mit Achselzucken. Rümpft ein wenig die Nase.
»Geht es dir besser?«, fragt Thilo.
»Es muss.« Norman lässt eine Pause entstehen. »Es muss«, wiederholt er, resignierend.
»Komm, gehen wir hinein. Wenn sie etwas wollen, dann werden sie uns schon finden.«
Vom Feuerwehrwagen werden Zillen abgeladen und zum See getragen. Es herrscht geschäftiges Treiben. Es wird laut gerufen. Anweisungen werden erteilt. Hüfthohe Ständer werden am Parkplatz verteilt und mit rot-weißen Plastikbändern verbunden. In regelmäßigen Abständen ist das Wort: POLIZEI. Aufgedruckt.
Eine metallene Zille mit zwei Wachebeamten legt vom Ufer ab. Sie paddeln zur Felswand hinüber. Auf halber Strecke beschließen die Männer, sich ihrer Jacken zu entledigen. Die Sonne nähert sich unaufhaltsam dem Zenit.
Die Polizisten nehmen die Leiche in Augenschein. Sie versuchen, nahe heranzukommen. Der Vordere kann dem Leichnam ins Gesicht sehen. Jedenfalls an die Stelle, wo es sein sollte. Er kann nur einen grässlichen Brei, geformt aus Fleisch und Knochen erkennen. Als wäre das Antlitz von einer Müllpresse zuerst zerquetscht und anschließend von einem Häcksler bearbeitet worden. Er wendet sich ab, dreht sich zur gegenüberliegenden Seite des Bootes, und übergibt sich.
»Das ist nichts für uns. – Hier müssen die Fachleute, die Leichenbestatter oder meinetwegen die Ärzte ran. Lass uns umkehren«, sagt der Ruderer und wäscht sich mit Seewasser das restliche Erbrochene aus den Mundwinkeln.
Auf dem Parkplatz treffen immer mehr Menschen ein. Meist Familien, die mit ihren Kindern einen Tagesausflug unternehmen. Sie wollen mit Wandern, oder mit den Booten am See, einen geruhsamen Tag verbringen. Obwohl es nicht viel zu sehen gibt, bleiben sie stehen und verfolgen neugierig das Treiben. Versperren unnötig den Weg. Gerüchte, aufgrund aufgeschnappter Wortfetzen, verbreiten sich in Windeseile unter den Gaffern. Immer wieder müssen sie gebeten werden, die Absperrungen zu respektieren.
Auch der ›Postillion‹, die Gratiszeitung des Schwarzatales, ist bereits vertreten. Die ältere Redakteurin steht interessiert auf der Terrasse und genießt ihr erstes Glas Wein. Man kann förmlich spüren, dass dies nicht ihr ›erster Fall‹ ist. Sie strahlt die grenzenlose Ruhe der üppigen Erfahrung aus.
Auf der Schattenseite des Parkplatzes entsteigt ein gut aussehender, durchtrainierter Mann missmutig seinem Fahrzeug. Dunkle Bartstoppeln besprenkeln sein markantes Kinn. Er schiebt mit beiden Händen die gepflegten, langen Haare in den Nacken und klemmt eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. Der angespannte Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er nur zähneknirschend hier herauf gefahren ist. An diesem Morgen war er gerade dabei, zum Peilstein am Rande der Tiefebene, aufzubrechen, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten erreichte. Mürrisch hatte er die Freunde davon unterrichtet, dass wieder ausgerechnet am Wochenende die Pflicht ruft, und er ihr Treffen absagen muss. Er vertröstete sie auf den nächsten Tag, falls sich der Sachverhalt rasch aufklärt. Sehnsüchtig schaut er hinauf zum Flammenkogel und stellt sich vor, wie er sich mit dem neuen Gleitschirm in der Thermik über den Gipfel tragen lässt, um anschließend durch das Seitental Richtung Lengthal zu schweben. Er seufzt wehmütig, stopft das Poloshirt in die Jeans, setzt die Sonnenbrille auf und wackelt gemächlich zur Absperrung hinüber. Die Westernstiefel klackern unüberhörbar über den Asphalt. Er hebt das Plastikband der Umgrenzung empor, um darunter durchzuschlüpfen, wird aber von einem drahtigen Polizisten daran gehindert. Der Mann zieht seine Dienstmarke aus der Gesäßtasche und hält sie dem Wachebeamten unter die Nase. »Oberkommissar Holzinger. Peter Holzinger«, stellt er sich vor. »Wer hat hier das Sagen?«, fragt er ihn mit tiefer, sonorer Stimme.
Der Polizist zeigt auf einen weiteren Uniformierten, der sich mit einem Kollegen unterhält und bittet ihm zu folgen.
Sie erzählen Holzinger von dem grausigen Fund, und dass sich der eine beim Anblick der schrecklich zugerichteten Leiche übergeben musste.
»Sie sagten, dort oberhalb der Felswand gibt es eine Aussichtsplattform?«, fragt der Kriminalbeamte.
»Ja, wir haben den Zugang zum Weg, der nach oben führt, abgesperrt. Nur für den Fall der Fälle.«
»Ausgezeichnet. – Die Sperre bleibt vorläufig aufrecht. – Ich werde die Spurensicherung sicherheitshalber informieren.«
Der Oberkommissar holt sein Mobiltelefon hervor und informiert die Spurensicherung in der Provinzhauptstadt. Sie wird in einer Stunde Vorort sein. Holzinger macht die Runde, begrüßt einen nach dem anderen persönlich und wechselt mit jedem von ihnen einige Worte. So ist es für ihn am einfachsten, sich rasch einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Er erfährt, dass der Chef des Hotels, der die Leiche gefunden, und dessen Vater, der die Polizei verständigt hat, im Gasthof, zu finden seien.
Peter Holzinger stapft die Treppen zur Terrasse hinauf. Oben verweilt er für einen Moment, und wirft erneut einen sehnsüchtigen Blick Richtung Flammenkogel. Den Wirt und seinen Vater kann er nicht erspähen. Als er die Gaststube betritt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht, nimmt die Sonnenbrille ab und sagt: »Da hätte ich Gift darauf nehmen können. Der ›Postillion‹ ist wieder einmal schneller als die Polizei erlaubt … «
»Wunderschönen Samstag, Herr Kommissar«, erwidert die in die Jahre gekommene Redakteurin des Postillions. »Haben Sie schon Neuigkeiten für uns? Unfall, Mord, Selbstmord. Unsere Leser lechzen nach Informationen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Woher haben Sie die Info, dass hier ein Unfall passiert ist?«
»Das ist ein Redaktionsgeheimnis. Aber ich kann Ihnen versichern, wir sind nicht das einzige Blatt, das von dem Vorfall Wind bekommen hat.«
»Und warum sind Sie heute zu zweit?«
»Das liebe Fräulein an meiner Seite ist eine junge Kollegin – von der Konkurrenz. Darf ich vorstellen: Claudia Bigler vom ›Kurier‹.«
Claudia erhebt sich und reicht ihm die Hand. »So trifft man sich früher als erhofft, Herr Holzinger. Jetzt habe ich ein Gesicht zur Stimme«, lächelt sie den Kommissar an.
»Wie klein doch die Welt ist, Frau Bigler.«
Für Claudia klingt der Tonfall des Kriminalisten in natura weit imposanter als am Telefon. Eine angenehme Gänsehaut kriecht ihrem Rücken entlang.
»Wenn die Damen mich entschuldigen wollen, die Arbeit wartet … «, sagt Holzinger und hält nach den beiden Wirten Ausschau. Er erspäht sie hinter der Rezeption.
»Herr Bergmann? Thilo und Norman?«, fragt der Kommissar die Wirtsleute.
»Ja?«
»Holzinger, Kripo. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Warten sie, wir kommen zu Ihnen.«
Claudia greift nach ihrem Diktafon und schaltet auf ›Aufnahme‹, schiebt sie es unter die Tageszeitung und sagt: »Nehmen sie unseren Tisch. Meine Kollegin und ich wollen uns sowieso noch draußen umsehen.« Mit Nachdruck komplimentiert sie die Redakteurin des Postillions zur Tür und sieht aus den Augenwinkeln, dass die Herren an ihrem Tisch Platz nehmen.
Thilo erkundigt sich, ob er dem Kommissar etwas zu trinken anbieten dürfte.
»Ja, wäre nett. Ich hätte gern ein Glas Mineralwasser … «
»Kaffee dazu?«, fragt Norman.
»Nein danke. Später vielleicht – Herr Bergmann, Sie haben die Leiche heute Morgen gefunden?«
»Ja. – Bei der Felswand, als ich beim Fischen war. Es war so gegen halb acht.«
»Ist Ihnen – außer der Toten – etwas aufgefallen?«
Norman überlegt. »Nein, nichts Herr Kommissar. Ich habe sie nur zufällig entdeckt, als ich nach einem guten Angelplatz Ausschau gehalten habe. Und dabei habe ich die Leiche dort liegen gesehen.«
»Sind Sie aus dem Boot ausgestiegen?«
»Nein. Ich bin herangerudert und man hat von Weitem erkennen können, dass es sich um einen Toten handelt. – Haben Sie die Leiche gesehen? … Nein? … Dann werfen Sie einen Blick darauf. So wie sie dort liegt, so kann nur ein Toter liegen.«
»Ich werde es mir nachher ansehen, wenn wir den Leichnam bergen.«
»Haben Sie die Tote erkannt?«
»Eigentlich habe ich den Kopf nur von der Rückseite gesehen. Sie liegt bäuchlings auf den Felsen. Alles ist blutverschmiert.«
Der Kommissar bringt eine Notiz nach der anderen zu Papier und wendet sich an den alten Thilo. »Wie viele Gäste haben Sie derzeit im Hotel?«
»Keinen. Die Zimmer, die wir letzte Nacht vermietet hatten, also die Gäste sind heute frühmorgens, so gegen sechs Uhr, abgereist. Ein Gast, der ein Zimmer gebucht hatte, ist erst gar nicht angereist.«
»Hatten Sie gestern Abend Restaurantgäste?«
»Ja, eine zwölfköpfige Jagdgesellschaft – mit Anhang – war hier. Von sieben bis zehn. Und die drei Männer, die heute früh morgens abgereist sind.«
»Das heißt, dass gestern abends 27 Gäste hier waren und – zwölf von ihnen mit Anhang?«
»Ja. Ich war der dreizehnte Jäger, wenn sie es so wollen. Alle anderen waren in Begleitung. Meine Frau ist leider bei der Geburt meines Sohnes … «
» … und keiner hat das Restaurant verlassen? … So für eine halbe Stunde oder länger«, schneidet ihm Peter das Wort ab.
»Nein. Niemand. Das wäre mir aufgefallen. Mein Vater saß ja an ihrem Tisch, der kann Ihnen das bestätigen«, mischt sich Norman ins Gespräch.
Thilo nickt zustimmend und sagt: »Mein Sohn kümmert sich eigentlich um das Hotel und den Service.«
»Die Jäger kamen so gegen viertel acht, einer von den Hotelgästen mittags und die restlichen beiden ungefähr um sechs, halb sieben. Ich habe ihnen persönlich die Zimmerschlüssel beim Einchecken gegeben«, ergänzt Norman.
»Haben Sie Angestellte?«, fragt Holzinger weiter.
»Natürlich. Ein Zimmermädchen, aber die hatte schon Dienstschluss und einen Kellner, der seit zwei Tagen krank ist. Er ist am Mittwoch beim Mountainbiken gestürzt und hat sich den Oberarm gebrochen. Er fällt für mindestens vier Wochen, wenn nicht länger, aus.«
»Sonst niemand? Keinen Koch … «
»… der bin ich. Ich bin auch der Koch«, mischt sich Norman ins Gespräch.
»OK – ich benötige von Ihnen eine komplette Liste der Personen. Könnten Sie mir die Namen auf einem Blatt Papier zusammenschreiben?«, bittet Holzinger. »War sonst noch jemand gestern hier?«
Thilo legt seinem Sohn die Hand auf den Unterarm und sagt: »Unser Pfarrer, Joseph Moser, der wie immer in der Kapelle – gleich da drüben – nach dem Rechten sehen wollte, er war mit einem neuen Auto oder Leihwagen hier. Ich habe ihn den Steig herunter gehen gesehen. Schien in Eile gewesen zu sein, denn ich wollte ihm ein kleines Bier spendieren, aber er lehnte ab. … « Thilo fährt sich mit dem Mittelfinger über seine Stirnfalten. »… dann war da noch der Bierführer Klaus von der Bärenbrauerei. Der hat sich im Anschluss an die Getränkelieferung an der Theke ein Mineralwasser gegönnt. – Ach ja, zwei Pärchen – Wanderer – waren hier, die nach ihrem Spaziergang auf der Terrasse Bier und Kaffee getrunken haben. Sonst habe ich niemand gesehen«, ergänzt der alte Thilo kopfschüttelnd.
Der Kommissar notiert die Aussagen, fügt persönlichen Notizen hinzu und bedankt sich für die ausführliche Auskunft. Er greift nach dem Glas, leert es auf einen Zug, nickt den beiden Wirten zu und geht Richtung Terrasse.
Die Bergmanns bleiben am Tisch sitzen. »Norman warte, ich muss dir etwas erzählen«, sagt Thilo zu seinem Sohn.
In diesem Augenblick trifft die Spurensicherung ein. Zwischenzeitlich ist auch der Leichenwagen vorgefahren.
Der Kommissar schaut zu Claudia hinüber und lächelt ihr zu.