Читать книгу PUNKTUM. - Wolfgang Priedl - Страница 13
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ОглавлениеKurz nach dem Wetterleuchten entluden sich die Wolken. Ein schweres Unwetter wütete für Stunden in der Region. Es schüttete, dass man meinen konnte, das Ende der Welt sei angebrochen. Genauso schnell wie das Gewitter aufzog, ebenso rasch war der Spuk wieder vorbei.
Die Scheinwerfer des Autos tauchen die Gebirgsstraße in ein eigentümliches Licht. Viele kleine Äste liegen verstreut auf der längst aufgetrockneten Fahrbahn. Die Abkühlung tut gut. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 23:32.
Joseph biegt in den Parkplatz des Berghofs ein. Das Hotel liegt bereits im Dunkeln. Kein Licht erleuchtet mehr das Restaurant. Die Laternen wiegen sich im kalten Wind. Der Pfarrer steigt aus dem Wagen, hört leise Männerstimmen von der Hotelterrasse und schreitet gemächlich zum Bootssteg hinüber. Er schaut vom Ende des Steges zurück zum Seeblickzimmer, in dem kein Licht brennt.
Den Tod eines lieben, langjährigen Freundes erlebt man nicht jeden Tag. Joseph sehnt sich plötzlich selbst nach einer verständnisvollen Schulter.
Als er bei dem alten, todkranken Bauern heute seine tröstenden Worte sprach, fiel ihm das Wort ›erlösen‹ auf. Der Erlöser, der am Kreuz für uns gestorben ist, erlöse uns von dem Übel. – Wovon will uns Gott erlösen? Von unserem mühevollen Leben? Um was zu erreichen? Das ewige Leben? Gott erlöst uns von einem kurzen Leben, um es gegen ewiges Leben zu tauschen?!
Nein, die Heilige Schrift muss man im Ganzen lesen – nicht einzelne Sätze extrahieren und sie neu zusammensetzen.
Aber wurde sein langjähriger Freund heute Abend wirklich erlöst? Nur weil er ohne Bewusstsein, ohne Herzschlag in seinem Bett lag.
Er wurde er von seinem Siechtum erlöst. … Doch er hat es mit seinem Leben bezahlt. – Eine zu einfache Lösung.
Wäre es da nicht logischer gewesen, wenn er ihn schon früher von seinen Qualen erlöst hätte. Ihm gnadenvolle Sterbehilfe angedeihen lassen hätte? Einzig, sein Freund hat ihn nicht darum gebeten. Wäre es deshalb moralisch verwerflich gewesen? Aber wenn er dazu aufgefordert worden wäre? Hätte er sich je zu Gottes rechter Hand aufgeschwungen? Hätte er je die Rolle des Erlösers übernommen? Wenn ja – wann hätte er die Rolle übernehmen dürfen, wann war der richtige Zeitpunkt, um zu handeln – um ihm den ultimativen Frieden angedeihen zu lassen, den sich verzweifelnde, leidende Menschen so sehnlich herbeiwünschen?
Joseph verheddert sich immer tiefer in seinen Gedanken. Kälte steigt in ihm auf. Sie überdeckt seine Fantasien. Er schaut hinaus auf den See und hat Mühe, die tiefschwarze Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Nur schemenhaft erkennt er die Steilwand, an die sich scheinbar ein schweres, schwarzes Leichentuch schmiegt.
Der kühle Wind bahnt sich seinen Weg unter Josephs Soutane, als wollte er sich dort wärmen. Dem Pfarrer fröstelt.
Verstört, über den Tag nachdenkend, stapft er zurück zum Parkplatz, an den Booten vorüber, in denen Wasserlachen im Rhythmus der Wellen von einer Seite zur anderen schwappen. Er hört das gleichmäßige Plätschern der Dünung an den Bootsplanken und fragt sich, ob er heute alles richtig gemacht hat.
Joseph ist froh, nicht mit dem Motorrad zum See gefahren zu sein. Es ist einfach zu kalt.