Читать книгу PUNKTUM. - Wolfgang Priedl - Страница 12
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ОглавлениеDer kleine Wagen rast die Bergstraße zu Tal. Er nützt die gesamte Straßenbreite. Schneidet die Kurven. In manchen hebt das hintere, kurveninnere Rad, vom Asphalt ab, wie ein Rüde, der sein Revier markiert. Entgegenkommende Fahrzeuge blinken wie wild mit ihren Scheinwerfer. Leitplanken kommen gefährlich nahe.
Eine dicke Staubwolke steigt auf, als die Frau ihren Audi auf dem geschotterten Parkplatz vor dem alten Haus, neben der Kirche, zum Stehen bringt. Nur wenige Zentimeter vor dem schweren Motorrad, einer schwarzen ›Triumph Tiger 1050‹.
Langsam öffnet sie die Wagentür. Das Lenkrad ist klitschnass. Schweißperlen, die der Fahrerin in die Augen rinnen, verursachen ein unangenehmes Brennen. Ihre Augen sind rot unterlaufen. Ihre Stirn lehnt erschöpft am lederumspannten Volant.
Das Tor des Pfarrhauses öffnet sich. Ein Mann tritt ins Freie. Er trägt eine Soutane. Freudig sieht er zu dem schwarzen Wagen hinüber, während er versucht, mit wedelnden Armbewegungen, die Staubwolke vor seinem Gesicht zu vertreiben.
»Hallo, Maria. – Bist heute aber flott unterwegs. Wollten wir uns nicht im ›Berghof‹ treffen?«
Die Frau sitzt noch immer – in sich zusammengesunken – am Fahrersitz.
»Maria – was ist? Ist dir nicht gut? – Komm, ich helfe dir … «
Besorgt greift der Pfarrer nach ihrer Hand und zieht sie aus dem Wagen, zu sich herauf. Umarmt sie liebevoll. Dabei merkt er, dass die Frau total durchnässt ist. Drückt sie noch fester an sich, so als wolle er ihr Kraft spenden, ihr fühlen lassen, dass sie in Sicherheit ist, dass sie beschützt wird.
Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust, ohne zu antworten.
Der Pfarrer erkennt, dass in diesem Augenblick jedes gesprochene Wort ein Wort zu viel ist. Er schweigt und streichelt Maria zärtlich ihren Haaren entlang, über ihren Rücken. Schließlich beruhigt sie sich, hebt ihren Kopf, sieht in seine Augen und drückt ihm ein Küsschen auf den Mund.
Sanft schiebt der Pfarrer seine Freundin in Richtung Haus. Maria umfasst die Hüften ihres Freundes. Wie ein frisch verliebtes Paar gehen sie durch das breite Haustor. Im Wohnzimmer lässt sie der Priester auf die Couch gleiten. »Hast du noch ein frisches T-Shirt dabei?« Sie nickt. »Im Auto?« Nickt noch einmal. »Gib mir den Autoschlüssel, ich hole es dir.«
»Ist offen … Danke Joseph. … Du bist ein Engel.«
Der Geistliche kehrt mit einem trockenen T-Shirt zurück. Maria erhebt sich mit einem tiefen Seufzer von der Couch. Ohne Scham öffnet sie ihre Bluse und streift sie ab. So, als wäre es das Alltäglichste der Welt, sich vor einem Pfarrer zu entkleiden. Sie nimmt das T-Shirt und zieht es sich über. Nachdem sie sich wieder in die Couch sinken lässt, mustert Joseph seine Freundin von der Seite. All ihre Schönheit scheint für immer von ihr gegangen zu sein, als wäre sie ein Schatten ihrer selbst.
»Maria – was ist los? So habe ich dich noch nie erlebt. Total durch den Wind. – Total von der Rolle«, versucht Joseph seine Freundin zum Reden animieren.
Sie schluchzt. Schnappt nach Luft. Atmet abgehackt.
»Erzähl – was liegt dir auf der Seele? Quälen dich wieder Panikattacken? Ist es erneut diese innere Unruhe, die dir den Schlaf raubt? Deine Albträume … Du weißt, solange ich das grundlegende Problem nicht kenne, kann ich dir nicht helfen. Du weißt, wie erleichternd es sein kann, wenn man jemanden von seinen Sorgen erzählt. Oft ergeben sich, bereits während des Erzählens die Lösungen von selbst, ohne dass ich dir helfen müsste. Liebes, sprich zu mir … «
Aber Maria schweigt. Presst ihr Lippen aufeinander. Schließlich hebt sie schweigend ihren Kopf und sieht ihren Freund mit blutunterlaufenen, verschwollenen Augen an.
»Ich kenne dich nun schon Jahrzehnte lang. Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander. Du kannst mir alles sagen«, forderte sie der Pfarrer erneut auf.
Der gütige, aber doch fordernde Blick ihres Freundes verleiht ihr Kraft. Gibt ihr Mut. Und schließlich erzählt Maria: »Joseph, du weißt genau, dass ich dir alles erzähle. Bis auf den einen Abend kennst du mein ganzes Leben. Minutiös. Was mir an damals widerfahren ist, holt mich in meinen Träumen immer wieder ein. Und in letzter Zeit häufen sich diese schrecklichen Visionen. Und was sie bei mir auslösen, das kennst du zur Genüge. Haben wir oft vielfach durchgekaut. Die Träume verlangen von mir, mich zu rächen. Aber du sagst mir immer, es sei mir verboten. Verboten aufgrund meines Glaubens, der in einem wesentlichen Teil auf den Lebenserfahrungen des Menschen basiert. Du sagst immer, Rache würde mich nicht glücklich befriedigen, würde mir keine Genugtuung verschaffen. Ich würde meine Rachegefühle gegen schwer wiegendere Schuldgefühle eintauschen … «
»Gott fordert von uns, dass wir den Menschen, die uns Böses angetan haben, vergeben, und davon profitieren, wenn wir uns von aller Bitterkeit befreien. Wie heißt es in der Heiligen Schrift: Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes. Und er verspricht uns: Mein ist die Rache, ich werde vergelten.«
»Siehst du Joseph, Gott versichert mir, dass er meine Rache übernimmt. Aber wann? – Genau den gleichen Satz hast du mir schon vor vielen Jahren gesagt. Ich habe auf weitere Nachforschungen verzichtet, um nicht in die Lage versetzt zu werden, Rache zu üben. Ich habe darauf vertraut, dass es Gott für mich … «, Maria zögert und vollendet nach einer kurzen Pause den Satz. »… erledigt.«
»Zuweilen mahlen Gottes Mühlen sehr langsam. Seine Wege sind unergründlich. Uns Menschen bleibt nur, an ihn zu glauben … «
»Und mit dem Vergeben tue ich mir verdammt schwer. Meine Albträume erinnern mich ständig daran. Sie verhindern, dass ich das Geschehene hinter mir lassen kann. Dass ich es abschütteln kann. Je öfter ich von diesen Träumen heimgesucht werde, desto schwerer lasten sie auf mir. Ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kraft habe, gegen sie anzukämpfen. Oft bitte ich Gott – vor dem Einschlafen – mich von den Qualen zu erlösen.«
»Wie oft hast du denn diese Albträume?«, fragt Joseph besorgt nach.
»In den letzten zwei Wochen – beinahe jede Nacht. Ich gehe bereits am Zahnfleisch.«
»Kannst du mir bitte erzählen, was das für Träume sind, die dich derart aus der Bahn katapultierten?«
»Joseph, es ist kein Traum mehr. Er ist beinharte Realität geworden. Ich stand meinem Albtraum leibhaftig gegenüber. Ich habe ihr heute ins Auge gesehen. Ich bin vor ihm geflohen, um bei dir Schutz zu suchen, bevor ich Dinge tue, die ich mein Leben lang bereue. Ich suche Schutz vor den Albträumen, aber auch Schutz vor mir selbst. Mit deiner Hilfe alleine ist es nicht mehr getan. … Es muss etwas geschehen.« Maria klingt verzweifelt.
»Keine Sorge, ich beschütze dich. Versprochen«, versucht Joseph, sie zu beruhigen.
»Den einzigen Ausweg, den ich sehe, heißt: Rache. Auch wenn es mir Gott verbietet. Rache ist menschliches Bedürfnis. Und heute hat sich dazu die Möglichkeit ergeben, Vergeltung zu üben. … Ich werde … «
»… Nichts wirst du«, fällt ihr Joseph barsch ins Wort und versucht dabei, nicht aufzubrausen. »Wenn du Rache rein philosophisch, ohne Gott, betrachtest, wirst du zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich versuche, es auf den Punkt zu bringen: Falls dir Schlechtes von deinem Umfeld angetan wird, dann stell dich aufrechten Kopfes hin und zeige, dass es dir gut geht. Das ist eine härtere Strafe für sie, als wenn du ihnen Ungemach antust.«
»Joseph … bitte … Verwirre mich nicht zusätzlich. Alleine das Gespräch mit dir hat mir schon geholfen, meinen Schock zu verarbeiten. Eigentlich will ich zurück, zum Berghof. Kommst du mit?«
»Maria, du bist noch lange nicht so weit, um ein Fahrzeug zu lenken. Ein Wunder, dass du es heil zu mir geschafft hast. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich wollte sowieso zum Kirchlein hinauf. Mein neuer Wagen ist zwar bestellt, aber noch nicht geliefert. Wir nehmen deinen. Erstens können wir auf der Fahrt weitersprechen, zweitens hast du gleich dein Gepäck zur Hand. Ich werde Norman bitten, mich zurückzufahren.«
Maria ist über den Vorschlag erleichtert. Jetzt, noch einmal an diesem Tag, ein Fahrzeug zu lenken, so gut fühlt sie sich nicht. Außerdem ist sie sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn sie die drei Männer nochmals sieht. Ein guter Freund an ihrer Seite kann in dieser Situation von großem Nutzen sein.
Joseph steuert den kleinen Audi bedächtig die Bergstraße hinauf. Seine Freundin erscheint ihm gefasster als zuvor. Doch, als sie auf den Parkplatz einbiegen, erblickt Maria die drei großen Limousinen. Sie bittet Joseph, die gegenüberliegende Seite anzusteuern, gleich in der Nähe des Kirchleins, der Waldkapelle.
Zögerlich steigt Maria aus dem Wagen.
»Willst du ins Hotel?«, fragt der Pfarrer.
»Nein, nein, das hat Zeit«, wehrt seine Freundin mit matter Stimme die Frage ab. Angesichts der drei Männer auf der Terrasse überlegt Maria, ob sie heute überhaupt im Berghof übernachten will. Vielleicht könnte sie ja im Pfarrhaus schlafen.
Joseph nimmt sie an der Hand und schlendert mit ihr zum Kirchlein. Während der Pfarrer im Inneren nach dem Rechten sieht, zupft Maria welke Blätter von den Rosenstöcken. »Ich will zum Seeblick«, lässt sie ihren Freund plötzlich wissen.
»Zum Seeblick? In deinem Zustand? Bist du dir sicher. Du weißt, der Aufstieg ist beschwerlich.«
»Joseph, ich war schon oft dort oben. An diesem Ort habe ich immer Ruhe gefunden. Das hilft mir. Willst du mich begleiten? Würde mir viel Spaß bereiten.«
»Selbstverständlich. Mache ich. Warte, ich hole mir nur die Bergschuhe aus der Sakristei. Du gehst mit deinen Tennisschuhen?«
Maria nickt.
Nachdem er seine Schuhe gewechselt hat, schlendern sie durch den Wald hinüber zum See, wo ihnen ein Wegweiser die Richtung zum Seeblick weist. Zu Beginn ist die Steigung noch mäßig, aber je mehr sie an Höhe gewinnen, desto beschwerlicher wird der Weg. Mehrfach kommen sie an kleinen Ausbuchtungen vorüber, die einen wunderschönen Ausblick über das Tal gewähren. An einer pausieren sie, und Maria genießt die beeindruckende Gegend. Am liebsten würde sie sie umarmen. Streichelt sanft den See mit ihren Blicken. Sie sieht zum Parkplatz, wo die drei Autos noch immer parken. Ob sie bald verschwinden werden, fragt sie sich. Ihre Gedanken beginnen um den Mann mit dem typischen herben Herrenduft, den sie seit Jahren mit sich trug, zu kreisen. Keinen ihrer Gedankenstränge kann sie zu Ende denken, kann sie endgültig abschließen. Wie aus dem Nichts entspringen immerzu neue Bilder vor ihrem geistigen Auge. Sie ist froh, Joseph an ihrer Seite zu wissen.
Dem Pfarrer bleibt ihre Geistesabwesenheit, ihre Versonnenheit, nicht verborgen. Als sie die Aussichtsplattform erreichen, fragt er sie: »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«
Seine Freundin antwortete ihm mit einem Knappen: »Relativ«, während sie sich ein Lächeln abringt.
Joseph legt ihr den Arm um ihre Schultern. Schweigend stehen sie eng umschlungen und betrachten das Smaragdgrün des Sees. Ruhig, friedlich liegt er vor ihnen. Die spiegelglatte Oberfläche wird nur von einem Ruderboot gestört, das auf das Hotel zusteuert.
»Der alte Thilo kehrt zurück. Hat wohl wieder eine kleine Seerundfahrt gemacht, um sich fit zu halten – feiert er heuer nicht seinen fünfundachtzigsten Geburtstag?«, bemerkt der Geistliche rhetorisch.
Maria löst sich aus der Umarmung ihres Freundes und geht in Richtung Abhang. Für Joseph zu nahe. Er macht ein paar rasche Schritte auf sie zu und zieht sie vehement zurück. Dabei verliert er fast das Gleichgewicht. Seine Schuhe haben den Halt auf dem geschotterten Untergrund verloren.
»Was war das denn? … «, will sie von ihm wissen und reibt sich die Schulter.
»Ach nichts, bin nur ausgerutscht.«
Anscheinend hört sie die Antwort nicht, vielmehr setzt sie zu einem ähnlichen Gespräch an, wie sie es heute schon einmal geführt hatten. Joseph versucht, wieder mit den gleichen Argumenten zu überzeugen. Er sucht verzweifelt nach einer ultimativen Lösung für Maria. Doch er findet keine. Aussichtslose Verzweiflung scheint nun auch von ihm Besitz zu ergreifen. Er ist am Ende seines Lateins angelangt! Er setzt auf Zeit. Er hofft, dass all die Worte, die er in den vergangen Dekaden mit ihr gewechselt hatte, endlich greifen würden.
Oder gibt es doch eine ganz andere Lösung, die er bisher nicht in Erwägung gezogen hat?
In diesem Augenblick klingelt sein Mobiltelefon. »Moser. Grüß Gott! … äh, wann? … Geben Sie mir eine dreiviertel Stunde. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Schlechte Nachricht?«, fragt Maria neugierig.
Josephs Miene wirkt wie aus Stein gehauen. Tiefe Besorgnis spricht aus seinen Augen. »Eines meiner Schäfchen möchte das Sakrament der Krankensalbung, die ›letzte Ölung‹ wie sie früher genannt wurde, empfangen. Es geht dem Ende zu. Maria, kannst du mich ins Dorf zurückfahren?« Eigentlich will Joseph nicht von seiner Freundin chauffiert werden, aber wie sollte er sonst ins Tal kommen? Dass Norman sofort für ihn Zeit hat, davon kann er nicht ausgehen.
»Hier ist der Autoschlüssel. – Ich bleibe noch eine Weile hier«, schlägt Maria vor und drückt ihm den Wagenschlüssel in die Hand. »Ich möchte den Ausblick genießen und meine Gedanken ordnen. Du hast mir heute schon sehr geholfen … «
»Kann ich dich wirklich hier alleine lassen?« Seine Freundin nickt mehrmals. »Gut, aber bleibe nicht zu lange, schau, dort drüben ziehen bereits die ersten Gewitterwolken über den Bergkamm. – Ich bringe dir den Wagen später wieder.«
»Joseph, das ist nicht nötig. Ich brauche bis Sonntag kein Auto. Wenn doch, melde ich mich bei dir. Und das soll jetzt nicht heißen, dass du nicht jederzeit willkommen bist. Wir bleiben in telefonischem Kontakt.«
Joseph beschleicht ein ungutes Gefühl, bei dem Gedanken, seine Freundin hier oberhalb der Felswand zurückzulassen.
Maria drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. »Wir sehen uns. – Auf Wiedersehen.«