Читать книгу PUNKTUM. - Wolfgang Priedl - Страница 9
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ОглавлениеAnna tippt die letzte Programmzeile in den Sourcecode. Sie startet einen Probelauf und beobachtet angespannt ihren rechten Computermonitor. Eine Eingabemaske erscheint. Sie nickt zufrieden, beugt sich langsam zur Tastatur, gibt einen imaginären Namen ein und vervollständigt die restlichen Eingabefelder. Sie drückt auf >>ENTER<<.
Auf dem zweiten Monitor, in einem leeren, schwarz hinterlegten Fenster, erscheinen lange Zahlenreihen, vermischt mit kryptischen Zeichen. Das Window füllt sich rasch. Die Symbole scrollen wie von Geisterhand nach oben. Viel zu schnell, um mit den Augen zu folgen. Plötzlich Ruhe. Anna dreht bedächtig am Mausrad und das Anzeigefeld bewegt sich Zeile für Zeile. Sie stoppt und hebt ihre Hand von der Maus. Zufrieden breitet sich ein Lächeln um ihren Mund aus. Langsam erfasst es ihr ganzes Gesicht.
»Na, wer sagt’s denn – funktioniert«, lobt sie sich flüsternd.
Sie greift nach dem Telefon, tippt auf eine Nummer aus dem Kurzwahlverzeichnis und wartet, bis es läutet.
»DATAPOOL – was kann ich für Sie tun?«, meldet sich die wohlvertraute Stimme ihrer Mitarbeiterin.
»Ich bin es – Anna – lade soeben den neuen Sourcecode auf den Server«, antwortet sie grußlos, als würde das Gespräch schon einige Zeit andauern. »Die Sicherheitsabfrage funktioniert jetzt mit unserer Verschlüsselung. So – findet ihr ab sofort in meinem Verzeichnis«,
»Super. Danke Boss. – Deine Buben warten bereits sehnsüchtig. Ich leite die gute Nachricht sogleich weiter … Nochmals vielen Dank. Wir wünschen dir ein schönes Wochenende, Boss.«
»Ich euch auch. Ciao.«
Anna schaut auf ihre goldene Cartier-Uhr. Es ist knapp vor vier. Ihre Mutter hat noch immer nicht zurückgerufen. Sie checkt ihre SMS. Keine Nachricht von ihr, dafür findet sie eine Mitteilung von Claudia, ihrer engsten Freundin: ›Um fünf beim Italiener?‹
Sie tippt, ohne auf die Tastatur zu sehen: ›ok ba‹.
Anna wendet sich wieder ihrem Rechner zu und startet ihr wöchentliches Backup-Programm, klont ihre Festplatte 1:1. Anschließend lehnt sie sich in ihrem Drehstuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Ihr Computer rattert gleichmäßig. Mit einem tiefen Seufzer ergreift sie das Mobiltelefon. Drückt auf ›MAMA‹. Sie lässt es läuten. Lange läuten. Sehr lange läuten. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. – Piep.«
»Hallo Mama, bitte rufe mich zurück, – wo immer du bist. Mache mir langsam Sorgen.«
Anna schüttelt den Kopf. Aus welchem Grund antwortet ihre Mutter nicht? Bereits den zweiten Tag nicht. Von Birgit, einer ihrer Mitarbeiterinnen und gleichzeitig beste Freundin, hat sie erfahren, dass sie sich den Freitag freigenommen hat. Warum hat sie es nicht ihrem letzten Gespräch erwähnt? Ungewöhnlich, denn ihre Mutter meldet sich fast täglich. So gut wie nie hört sie einen ganzen Tag lang nichts von ihr. Meist ruft sie ohne triftigen Grund an, lediglich um »Hallo« zu sagen.
Zeitweilig hat Anna das Gefühl beschlichen, als wolle sie ihr nur mitteilen, dass sie noch am Leben sei, dass es ihr gut ginge. Ihre Äußerungen hat sie oft nur als Klangteppich, wahrgenommen, ohne die einzelnen Worte und ihre Bedeutung zu hören. So wie Kleingedrucktes, als Grauwert auf einem Blatt Papier. Sie kennt jedes ihrer Vokabel. Auswendig. Kann die Reihenfolge ihrer Sätze antizipieren.
An manchen Tagen nervt ihre Mutter sie mit ihren Anrufen. Anna beschlich das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, als ob sie ein unmündiges Kind wäre, das an der Hand geführt wird, damit es nicht davonläuft. Aber heute ist sie erwachsen. Ihr kommender Geburtstag wird ein runder sein. Dreißig Jahre. Sie bedarf keiner schützenden Hand mehr. Bei nächster Gelegenheit wird sie mit ihrer Mutter über dieses Thema sprechen. – Zumindest will sie es anklingen lassen.
Doch heute ist es anderes. Anna hat sich im Laufe der Zeit an Marias Anrufe gewöhnt. Sie könnte die Uhr danach stellen. Wenn dieses Telefonat ausbleibt, dann fehlt etwas in ihrem Tagesablauf.
Soweit sie zurückdenken kann, hat sie ihre Mutter immer als beste Freundin gesehen. Deshalb spricht sie Maria ebenfalls mit ihrem Vornamen an; ausgenommen es handelt sich um ernste Belange, in solchen Fällen verwendet sie das Wort ›Mama‹, oder kurz ›Ma‹. Bei derart seltenen Gelegenheiten revanchierte sich ihre Mutter mit der Anrede ›Kind‹. Eine amüsante Erinnerung reiht sich an die nächste. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln.
Ihre Armbanduhr sagt ihr, dass es höchste Zeit ist, um sich stadtfein zu machen. Im Schlafzimmer öffnet den vollen Kleiderschrank. Welches Outfit wäre das Beste? Sie wirft einen Blick aus der geöffneten Balkontür. Es ist warm. Es ist sehr warm – und schwül obendrein. Der erste Sommertag, an dem das Thermometer mittags auf achtundzwanzig Grad im Schatten kletterte. Jetzt zeigt es immer noch fünfundzwanzig an.
Rock, T-Shirt, Blazer, High Heels – genau das Richtige.
Anna betrachtet sich im Spiegel. Sie wischt mit dem Zeigefinger über ihre neckischen Sommersprossen, die sich beidseits ihrer Nasenwurzel unregelmäßig verteilen. Das weiße T-Shirt mit dem V-Ausschnitt schmiegt sich hauteng an ihren Oberkörper. Der kurze schwarze Minirock in Kombination mit ihren Stilettos betont ihre schlanken Beine und lässt sie noch länger erscheinen.
»Na, da sehen wir betörend aus«, schmeichelt Anna ihrem Spiegelbild. Sie streicht ihren engen Rock glatt. An der Wohnungstür wechselt sie ihre hochhackigen Schuhe gegen ihre weißen Turnschuhe aus.
Der kleine Italiener, mit dem riesigen Holzofen, ist nur ein paar Häuserblocks entfernt.
In dem Gastgarten vor dem Lokal sind so früh am Abend nur wenige Tische belegt. Von Weitem sieht Anna ihre Freundin. Der Kellner neben ihr stützt sich salopp auf einer Sessellehne ab, während er mit der Anden Hand Richtung Himmel zeigt. Wenn es nur um eine Bestellung ginge, wäre seine Körperhaltung zu lässig; Claudia scheint in ihrem Element zu sein. Sie sieht verändert aus. An dem dunkelgrauen Businessanzug liegt es nicht. Anna grübelt. Mustert ihre Freundin von oben nach unten.
»Salute!«, ruft Claudia ihr entgegen. »Was machen die Bits und Bytes?«
»Sie warten am Server, um ausgelesen zu werden. Und wie geht es unserer ›lokalen Chefredakteurin‹? Wohl wieder beim Recherchieren des Lokalkolorits?« Sie deutet vielsagend mit dem Kopf zum Kellner.
»Habe ich schon erwähnt, dass du unmöglich bist?«
»Öfters, Claudia. Glaube mir … öfters.« Anna lässt sich lachend auf den Sessel fallen.
»Apropos ›Recherchieren des Lokalkolorits‹ – wenn ich dich ansehe, frage ich mich, wer von uns beiden heute etwas vorhat. Du siehst ja zum Anbeißen aus.« In Claudia Stimme schwingt ein Anflug von Neid mit.
»Weil du gerade vom Anbeißen sprichst: Ich habe einen Mörderhunger … «, lenkt Anna geschmeichelt vom Thema ab.
»Der Kellner hat mir soeben Lasagne empfohlen. Steht nicht auf der Speisekarte. Frisch zubereitet. Und Ravioli – stehen ebenfalls nicht auf der Karte.«
»Überredet, ich nehme die Ravioli«, entscheidet sich Anna, ohne lange nachzudenken.
»Ich die Lasagne. … Wein? Den Üblichen?«
»Ja, bitte.«
Claudia wendet sich an den Kellner, um zu bestellen.
Die beiden tauschen die Neuigkeiten der letzten Woche aus. Die Redakteurin ist sich nicht sicher, ob sie über die Ereignislosigkeit der vergangenen Tage froh sein sollte oder nicht. Es war ungewöhnlich still gewesen. Um die Seiten des ›Kuriers‹ zu füllen, hatte sie die Beiträge jedes noch so unbedeutenden Ereignisses, breitgewalzt. Keine befriedigende Aufgabe für sie.
»Wir haben mit einem Artikel über Hundekot eine halbe Seite gefüllt. Stell dir das einmal vor«, alteriert sich Claudia und nippt an ihrem Weinglas. »MMMHHH. – In den könnte ich mich verlieben.«
»In wen könntest du dich verlieben?«, fragt Anna abwesend.
»Hallo – Anna. Ich bin’s!«, ruft Claudia aus. »Du bist ja mit deinen Gedanken total woanders. – In den Wein könnte ich mich verlieben, habe ich gesagt.«
»Ja – der ist sehr gut«, erwidert Anna, ohne aufzublicken.
Claudia rückt ihren Stuhl näher an ihre Freundin heran. »Wo drückt der Schuh? Probleme im Job? Ärger mit deinen Mitarbeitern?«
Anna antwortet nicht sofort. Sie legt die Stirn in Falten. »Nein, die Firma läuft. Habe heute sogar ein riesiges Erfolgserlebnis eingefahren. Meine Buben haben sich bei der Implantierung der von uns entwickelten Krypto-Routine schwergetan. Ich hab das Problem gelöst – funktioniert.«
»Hier programmiert der Chef noch höchstpersönlich. Das nenne ich Mitarbeitermotivation … «
Der Kellner serviert ihre bestellten Speisen. »Guten Appetit.«
»Danke.«, flüstert Anna.
»Komm, lass es dir schmecken. Reden wir nachher weiter … wenn du willst.« Claudia läuft das Wasser im Mund zusammen.
»Gute Idee. Ich warne dich, ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«
»Nur zu, dafür gibt es die beste Freundin. Klingt zumindest spannender als die vergangene Woche … Mahlzeit«, erwidert Claudia voll Neugier.
Genussvoll speisen die beiden. Wiederholt betonen sie, dass sich der Koch heute wieder selbst übertroffen hat.
Die karge Konversation lässt in Claudia die Spannung, die Neugier steigen. Ihr beruflicher Instinkt, ständig auf der Jagd nach Neuigkeiten zu sein, ist geweckt worden. Sie wird von Minute zu Minute ungeduldiger. Zuletzt kann sie es kaum mehr erwarten, zu erfahren, was ihre Freundin auf dem Herzen hat. Sie kommt ihr verändert vor. Der Job ist es nicht. So viel weiß sie bereits. Es muss etwas Wichtiges sein, denn selten noch hat sie ihre Freundin so kurz angebunden erlebt.
Kaum hat sie ihren Teller geleert, fordert sie sie auf, von ihrem Kummer zu erzählen.
Anna würgt den letzten Bissen hinunter. »Claudia, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ein Beispiel: Du gehst jeden Tag um dieselbe Uhrzeit, zum Bäcker und begrüßt die Verkäuferin. Du kaufst täglich zwei Semmeln. Bestellst sie mit denselben Worten. Und immer hörst du die gleiche Antwort. Es geht so weit, dass dich die Verkäuferin nur zu sehen braucht, um zwei Semmeln – ohne Nachfragen – in eine Papiertüte zu werfen und sie dir anschließend über den Tresen zu reichen. Nonverbale Konversation. Manchmal hat sie sie sogar schon griffbereit, vorbereitet. Die Münzen hast du abgezählt in der Hand und bezahlst. Und eines Tages passiert es: Du betrittst die Bäckerei und es steht eine neue Verkäuferin hinter dem Verkaufspult. Was denkst du in diesem Moment?«
Claudia runzelt ihre Stirn und setzt zur Antwort an. Doch Anna wehrt ab, lässt sie nicht zu Wort kommen: »Dir schießen tausende Gedanken durch den Kopf. Ist sie auf Urlaub? Ist sie krank? Hat sie gekündigt? Wann kommt sie wieder? Ist sie verunfallt? Liegt sie im Krankenhaus? Könnte man ihr helfen? – Du kaufst das Gebäck. Aber den ganzen Tag über schwirren dir die Gedanken über die Verkäuferin durch den Kopf. Du nimmst dir vor, dich morgen nach ihr zu erkundigen. Solange du den Grund nicht kennst, lassen dir deine Gedanken keine Ruhe … «
»Worauf willst du hinaus?«, fragt Claudia.
»Worauf ich hinaus will, ist einfach: Du kennst meine Mutter. Sie ruft mich täglich, oft auf die Minute genau, an. Gestern nicht – heute nicht. Gestern kam nur eine SMS: ›Melde mich später‹, das war’s. Jetzt muss ich ständig an sie denken. Ich habe ein ungutes Gefühl in der Magengegend.«
»Warum rufst du sie nicht an?«
»Ich habe es heute mehrmals probiert. – Bin stets in der Mailbox gelandet«, seufzte Anna entmutigt.
»Hast du es bei ihr im Labor versucht?«
»Natürlich. Ich habe mit Birgit, mit Frau Santora gesprochen. Sie meinte, Maria hat sich heute freigenommen, weil sie einen Freund besuchen will … «
»… Deine Mutter hat einen Freund?«, fragt Claudia überrascht.
»Gute Frage. – Eigenartig – nicht? Ich habe noch keinen Mann an ihrer Seite gesehen. Sie hat auch keinen erwähnt. Und jetzt, so von heute auf morgen, gibt es plötzlich einen Freund. – Sie nimmt sich sogar einen Tag frei, um ihn zu treffen. Das ist merkwürdig. Oder?«
»Wie soll ich sagen, ich kenne deine Mutter, seit wir beide im Sandkasten gespielt haben. Sie ist zwar mir gegenüber ein wenig reserviert, trotzdem habe das Gefühl, dass sie mich mag. Ich glaube daher, sie einschätzen zu können. Was du mir soeben von ihr erzählt hast, ist nicht die, die ich kenne. Du hast Recht: Ich wäre ebenfalls besorgt. … besser gesagt: beunruhigt – du weißt schon … «
Mit einem tiefen Seufzer checkt Anna ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht. Kein Anruf in Abwesenheit.
»Andererseits: Deine Mutter ist erwachsen. Sie hat ein Anrecht auf Privatleben. Vielleicht hat sie nach all den Jahren jemanden kennengelernt und macht sich ein heißes Wochenende. … «
»Das ist nicht dein Ernst.« Anna schüttelt ihren Kopf. »Schließe nicht von dir auf andere. – Schon gar nicht von dir auf meine Mutter. – Und komme mir nicht mit deinen One-Night-Stands Ansichten. Maria ist kein Twen. Sie ist fast sechzig Jahre alt … «
»Was glaubst du? Mit sechzig spielt Sex keine Rolle mehr in deinem Leben, gibt es keine Liebe auf den ersten Blick und all die Dinge? – Können ihr ihre Hormone keinen Streich spielen? Vielleicht kommt sie dienstags zurück und wird von einer leuchtenden, alles überstrahlenden Aura umgeben. Frei nach dem Motto: Ich hatte vor kurzem Sex. Du nicht. Ich habe gewonnen. – Du nicht.«
»Claudia, – hallo – aufwachen. Wir sprechen hier von meiner Mutter … «, rügt Anna ihre Freundin scharf.
»Entschuldige, ich sollte mit meinen Sprüchen ein wenig hinter dem Berg halten. Sorry. … Sag, ist Maria in einem Social Media Kanal vertreten?«
»Ja, WhatsApp. Sporadisch. Hab ich versucht. Fehlanzeige. Diese App öffnet sie nur, wenn sie Fotos verschickt.«
»Gut, worauf wartest du? Willst du dich das ganze Wochenende quälen und in nebulosen Sorgen ergehen … «
Anna zuckt resignierend mit den Achseln. Ihre Freundin hat Recht. Sie kann nur abwarten. Ob sie – bis sie Antworten auf ihre Fragen erhält – sich in ständigem Unbehagen ergeht oder nicht, liegt ausschließlich an ihr. Leichter gesagt, als getan.
»Anna, ich sehe, uns muss etwas einfallen, das dir hilft. Folgender Vorschlag: Wir checken die umliegenden Spitäler und erkundigen uns, ob jemand mit dem Namen deiner Mutter eingeliefert wurde. Sollten wir nicht erfolgreich sein, dann ist das bereits eine gute Nachricht. – Was hältst du davon?«
Anna nickt zögerlich. »Super Idee, aber willst du zwanzig – oder mehr – Krankenhäuser anrufen?«
»Nein. Hör zu: Erstens haben wir in der Redaktion keinen Hinweis auf einen schweren Unfall. Das ist schon einmal positiv. Und was die Liste der Spitäler angeht, da habe ich eine Idee: Ich habe diese Woche mehrmals den Holzinger Peter – von der Kripo – sekkiert, habe ihn wiederholt nach einer Story gefragt. Er hatte zwar nie etwas für mich, aber ich glaube, wir funken auf derselben Wellenlänge. Waren immer sehr amüsante Gespräche. Ein Wort gab das andere. Er hat mir angeboten, dass ich mich jederzeit bei ihm melden darf, wenn der Schuh drückt. Und jetzt drückt er. Mit etwas Glück ist er noch in Amt und Würden. Soll ich ihn für dich anrufen?«
Anna nickt wieder. Hoffnung keimt auf, während Claudia in ihrem Mobiltelefon nach der Nummer sucht.
»Es läutet … «
»Tomacic.«
»Grüß Gott, Claudia Bigler spricht. Ich möchte bitte mit Herrn Dr. Peter Holzinger sprechen … «
»… Tut mir leid, Oberkommissar Holzinger ist vor zehn Minuten ins Weekend entflohen. Kann ich Ihnen weiter helfen?«
Claudia zögert kurz. »Äh, nein danke. Wäre privat gewesen. Danke jedenfalls. Wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.«
»Wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiederhören.«
Kaum hat sie ihr Telefon zur Seite gelegt, wird ihr bewusst, wie gerne sie mit dem Kommissar gesprochen, sie diese sonore Stimme vernommen hätte. »Soll ich es auf seiner Privatnummer probieren?«, Sie kreist mit dem Finger über dem Display.
»Ja, warum nicht? – Oh, ich verstehe, du willst nicht nur wegen mir mit ihm sprechen … «
»Anna, soweit sind wir … äh … bin ich noch lange nicht«, antwortet Claudia mit gespielter Entrüstung. Indigniert schüttelt sie ihren Kopf und tippt auf die Privatnummer. »Ruhe jetzt, es bimmelt.«
Eine tiefe Bassstimme meldet sich: »Holzinger«.
»Äh, grüß Gott. Bigler spricht. Claudia Bigler vom … «
»… vom Kurier. – Habe Sie sofort an der Stimme erkannt. Was kann ich gegen Sie tun?«, scherzt Peter.
»Herr Holzinger, Sie können sich vorstellen, dass ich Sie nicht grundlos am Wochenende störe. Aber ich sitze hier mit meiner Freundin. Und die hat ein Problem. Ihre Mutter wird vermisst … «
»Seit wann?«
»Na ja, eigentlich erst seit heute. Ist eine lange Geschichte. – Normalerweise meldet sie sich jeden Tag. Aber gestern kam nur ein SMS, dass sie sich später melden würde. Doch sie hat sich nicht gemeldet … «
Nach einer kurzen Pause fragt Holzinger: »Und wie kann ich Ihnen bei der Sache helfen?«
»Na ja, wir dachten, sie könnten überprüfen, ob es einen Unfall gegeben hat. Hier im Umkreis. Bei Ihnen gehen ja alle Meldungen zentral ein. Wenn Sie nachschauen könnten, ersparen Sie uns, eine Menge von Krankenhäusern anzurufen.«
»Ich bin leider nicht mehr im Büro. Von zuhause aus habe ich keinen Zugriff auf das System. – Sie sagen, Sie haben versucht, Sie telefonisch zu erreichen?«
»Ja … «
»Seit gestern? Das ist eine sehr kurze Zeitspanne. Haben Sie es in ihrer Wohnung nachgesehen?«
»Nein … «
»… ich würde Ihnen raten, zuerst in ihrer Wohnung nachsehen. Vielleicht ist sie dort, oder es gibt konkrete Hinweise.«
»Daran haben wir noch gar nicht gedacht, weil wir von einer Mitarbeiterin erfahren haben, dass sie möglicherweise einen Freund besuchen wollte. … «
»Warum rufen sie nicht ihren Freund an? Vielleicht ist sie tatsächlich bei ihm.«
»Nächstes Problem: Wir kennen seinen Namen nicht. – Geschweige denn, wo er wohnt.«
»Andere Freunde?«
Claudia drückt auf das Lautsprechericon, damit Anna mithören kann.
»Nein. Fehlanzeige. Meine Freundin sagt, ihre Mutter habe keine Freunde. Zumindest kennt sie keine. Die einzige nähere Bekannte, von der sie weiß, ist eine Arbeitskollegin und von der wissen wir, dass sie sich den heutigen Tag freigenommen hat, um einen Freund zu besuchen.«
»Wenn ich Sie beruhigen darf: Vermisste Personen tauchen in der Regel nach spätestens 72 Stunden wieder auf. Checken Sie zunächst die Wohnung. Und ich kann Ihnen Folgendes anbieten: Sollte ich noch jemanden in meinem Büro erreichen, der autorisiert ist, sich in unser System einzuloggen, dann werde ich ihn um Überprüfung bitten. Ist das ein Angebot?«
›Was für eine Stimme‹, schwirrt es Claudia durch den Kopf. »Äh … «, stammelt sie. »Großartig. – Das wäre super, wenn Sie das für mich machen könnten.«
»Ich rufe zurück, sobald ich etwas erfahren habe. Erwarten Sie sich aber nicht zu viel. Ich kann nichts versprechen. Sie sind unter dieser Nummer erreichbar?«
»Ja, das ganze Wochenende. Ist meine Privatnummer. – Jederzeit«, entfuhr es verwundert Claudia. Sie unterbricht die Verbindung und starrt auf das Display. Was hatte sie gesagt? Das ganze Wochenende und Privatnummer und jederzeit?
»Woher hast du seine private Telefonnummer?«, setzt Anna erstaunt nach.
»Äh … Von einem seiner Mitarbeiter – als ich ihn diese Woche nicht erreichen konnte. Er hat gemeint, er sei in der Mittagspause. Wenn es dringend ist, wäre er auf seinem privaten Handy erreichbar. Er hat mir die Nummer gegeben.«
»Und du hast sie sofort gespeichert … Egal, wir sollen jetzt einfach warten … «
»… hast ihn ja gehört.«
»Wie lange wird das dauern? … «, fragt Anna und trommelt mit den Fingern am leeren Weinglas.
»Beruhige dich. Eines nach dem anderen. Zunächst gönnen wir uns einen Prosecco, warten auf Peters Rückruf und anschließend beratschlagen wir unsere next steps. OK?«
»Gute Idee. Wir warten auf Peters Rückruf und betrinken uns zwischenzeitlich«, neckt Anna.
Claudia schlägt ihrer Freundin mit flacher Hand auf den Oberschenkel. »Ich hole uns den ›Sprudel‹.«
Sie steht auf und wackelt mit ihren Beinen, damit die eng anliegende Hose ihres dunkelgrauen, längs gestreiften Businessanzuges wieder nach unten rutscht. Anna sieht ihrer schlanken hochgewachsenen Freundin hinterher. Die hohen Absätze ließen sie noch größer erscheinen. Sie kommt aber nicht dahinter, warum sie heute verändert aussieht. Den Hosenanzug kennt sie, die Pumps auch.
Schwungvoll kehrt Claudia mit den Proseccogläsern zurück, setzt sie auf dem Tisch ab und stellt sich breitbeinig vor ihre Freundin. Anna mustert sie von Kopf bis Fuß.
»Weil wir vorhin von veränderter Umgebung gesprochen haben: Fällt dir nichts auf?«, fragt Claudia und hält ihre Hände unter ihren Haaransatz.
»Natürlich, – jetzt wo du mich mit der Nase darauf stößt: Du hast eine neue Frisur … «
Claudia dreht sich mit abgespreizten Armen um die eigene Achse.
»… Du siehst fantastisch aus. Der Pony passt zu den rotblonden Haaren. Steht dir hervorragend. Spießt sich auch nicht mit deinem Businessoutfit. Sehr stimmig. Sag, wie groß bist du eigentlich?«
»Einen Meter fünfundsiebzig«, antwortet Claudia.
»Fünf Zentimeter größer als ich … «
Claudias Telefon klingelt. Sie wirft einen Blick auf das Display, während sie Platz nimmt. »Peter«, haucht sie aufgeregt zu Anna und berührt das Hörersymbol. »Bigler«, sagt Claudia förmlich und drückt auf das Lautsprechersymbol.
Peter erzählt, dass er Richard Tomacic, seinen Freund und Boss erreicht hat. Dieser habe alle gemeldeten Unfälle in näherer Umgebung durchgesehen, doch ohne Ergebnis. Er hat niemanden gefunden, auf den der Name oder die Beschreibung passen würde. Zu guter Letzt erwähnt der Kommissar, in einem Nebensatz, dass er jetzt bei ihr etwas gut hätte; einen Stein im Brett habe. Claudia stimmt ihm zu: »Herr Holzinger. Ich würde Sie gerne auf einen Kaffee einladen – bei nächster Gelegenheit. Ihr Stein bleibt aber nach wie vor im Brett.« Kurz darauf beendet sie das Gespräch.
»Sag, Liebste, bist du zuweilen nicht ein wenig zu aufdringlich? Zu direkt, meine ich. Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, du hättest ›ES‹ nötig«, rügt Anna ihre Freundin.
»Und wie ich ›ES‹ nötig habe. Ist das wirklich so augenfällig? … «
»Ja. – Beinahe peinlich.« Anna huscht ein mitfühlendes Lächeln über die Lippen.
»Aber zu meiner Verteidigung: Er hat eine furchtbar erotische Stimme … «
»… und eine Frau, fünf Kinder, Schmerbauch und eine Hakennase«, stichelt Anna.