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Anna verweigert sich ihren samstäglichen Prosecco. Sie fährt hinaus zum Stadtrand, wo sie aufgewachsen ist. Wo ihre Mutter eine schöne große Wohnung besitzt. Auf der Fahrt hört sie die aktuellen Nachrichten zur vollen Stunde. Nichts, das sie beunruhigen könnte. Anna hofft insgeheim, dass ihr ihre Mutter öffnen würde, wenn sie klingelt.

Sie drückt auf den Knopf neben dem Namen Steiger. Wartet. Presst nochmals ihren Finger auf den Kopf. Tiefer. Keine Antwort.

Schließlich schließt sie das Haustor auf und nimmt die Treppen nach oben. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Was wäre, wenn sie ihre Mutter regungslos am Boden vorfände, nachdem sie von der Leiter gestürzt war? Halb verdurstet. Bewusstlos. Nur eine von zahlreichen Vorstellungen, die sie beim Hinaufgehen quälen.

An der Wohnungstür läutet sie erneut. Klopft an die Tür. Lauscht.

Nichts.

Anna dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, öffnet langsam die Tür und betritt in die Wohnung. Sie riecht die abgestandene Luft und ruft laut nach ihrer Mutter. Stille. Keine Antwort.

Mittlerweile haben sich ihre Augen an die ungewöhnliche Dunkelheit angepasst. In jedem Zimmer sind die schweren Vorhänge vorgezogen. Grau in Grau erkennt man gerade noch die Umrisse der Wohnungseinrichtung. Anna tippt auf den Lichtschalter. Kein Strom. Sie betätigt im Sicherungskasten die FI-Schalter. Aus dem Schlafzimmer hört sie das leise, eintönige Piepsen des Radioweckers. Sie geht zu den Fensterfronten und zieht die Vorhänge zur Seite. Anschließend kippt sie die Fenster, öffnet die Balkontür und lässt frische Luft in die Wohnung strömen.

Anna fragt sich, womit sie anfangen sollte. Wonach wollte sie suchen? Ihre Mutter war anscheinend verreist. Es sieht jedenfalls danach aus. Fenster geschlossen, von Vorhängen verhüllt, die beiden Sicherheitsschlösser an der Eingangstür, doppelt versperrt.

Sie beginnt zögerlich jedes Zimmer zu inspizieren. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet, wie auf den Fotos der Hochglanz-Einrichtungsmagazine. Keine herumliegenden Zeitungen, keine getragenen Kleidungsstücke die auf Sesseln hängen, stören die Ordnung. Sogar der Notizblock wird feinsäuberlich von einem Bleistift griffbereit flankiert. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, was wiederum typisch für Menschen ist, die Angst vor der Außenwelt haben.

Das ist meine Mutter, denkt Anna. Sie betritt das Badezimmer. Sie schaut auf die Etagere. Ihr fällt sofort auf, dass die Zahnbürste fehlt. Auch ihr heiß geliebtes Parfum befindet sich nicht auf dem angestammten Platz. Sie öffnet den Unterschrank. Der Haarföhn liegt nicht an seiner Stelle. Der Kulturbeutel glänzt ebenfalls durch Abwesenheit.

Anna erinnert sich an die zahllosen Diskussionen, als sie noch hier gewohnt hat, und als sie nach dem Duschen die einzelnen Utensilien nicht an ihren Ort zurückgelegt hat. Wie oft hat sie damals gesagt: ›Ma, die Welt geht nicht unter, nur weil ich das Ding nicht sofort auf seinen Platz zurückgegeben habe.‹. Ihre Mutter hat immer mit dem gleichen Satz geantwortet: ›Die Welt geht deshalb nicht unter, aber du machst es mir schwerer. Ich habe die doppelte Arbeit. – Ich bin diejenige, die ständig hinter dir herräumen muss!‹

Anna hat damals ihre Mutter nicht verstanden. Heute weiß sie, wovon sie gesprochen hat. Heute weiß sie, wie selbstverständlich es sein kann, blind nach Gesuchtem zu greifen. Und dafür ist sie ihrer Mutter dankbar, dafür liebt sie sie.

Anna wechselt ins Schlafzimmer hinüber. Der Radiowecker blinkt in kurzen Abständen. Sie inspiziert den Bekleidungskasten. Die kofferartige Reisetasche fehlt. Sie faltet die Türen des Schrankes auf. Ein belegter Kleiderbügel reiht sich an den nächsten. Sie lässt ihren Zeigefinger von einem Kleid zum anderen springen. Das blaue Lieblingskleid ihrer Mutter fehlt, genauso wie das weiß-rot-gestreifte.

Meine Mutter muss tatsächlich verreist sein. Zu ihrem Joseph? Sie ist abgereist, ohne mich zu informieren, ohne nur ein Sterbenswörtchen mir gegenüber zu erwähnen, spukt es ihr durch den Kopf.

In Anna steigt leiser Groll auf. Sie sieht sich weiter um. Auf dem kleinen Beistelltisch findet sie Prospekte von den umliegenden Supermärkten. Jeder reklamiert die günstigsten Preise für sich. Noch billiger kommt man mit den jeweiligen Rabattmarken davon. So groß die ausgelobten Verkaufspreise der diversen Artikel auch gedruckt sind, um die zeitliche Beschränkung der Sonderangebote entziffern zu können, bedarf es hingegen Spürsinn und einer übergroßen Lupe.

Anna sucht weiter. Im Seitenteil des Kastens entdeckt sie – von einem Stapel Pullover verdeckt -, einen Karton. Sie legt die Kleidungsstücke auf das Bett und zieht die große Schachtel hervor.

Sie setzt sich auf das Bett und hebt den Deckel ab. Fotos. Haufenweise Fotos.

Anna greift hinein und krallt sich einen Packen. Es sind Bilder aus Annas Jugend. Sie findet eines, als sie mit ihrer Mutter in Cinque Terre, mit seinen bunten Häusern, besucht hatte. Ein anderes zeigt sie vor dem Eiffelturm, gefolgt von einer Reihe Strandfotos, Badeurlaube am Meer, Wanderausflüge und dergleichen. Hin und wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Anna versinkt in den Erinnerungen von damals. Greift nach einem weiteren Stapel. Schlussendlich leert sie den Karton gänzlich.

Was würde meine Mutter jetzt sagen, wenn sie dieses Durcheinander auf ihrem Bett sähe, fragt sich Anna.

Ein Foto, das ihre Mutter mit einem Hochzeitspaar, und einem ihr unbekannten Mann zeigt, erregt Annas Aufmerksamkeit. Auf der Rückseite steht ein Kalendertag und handschriftlich: ›Brautpaar mit Trauzeugen‹. Das war vor meiner Geburt, stellt sie fest, als sie das Datum überprüft. Ein Weiteres zeigt ihre Mutter mit einem Mann. Südländischer Typus, durchtrainiert, mit dunklen, langen Haaren. Auf der Rückseite: Trauzeugen.

Anna fragt sich, wo das Dirndl, das Maria auf dem Foto trägt, wohl geblieben war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es je in ihrem Schrank gesehen zu haben. Jedenfalls hat sie in diesem Kleid ungemein sexy ausgesehen. So viel Mut hat sie ihrer Mutter nicht zugetraut. Vielleicht gehörte ihr das Dirndl gar nicht, sondern sie hatte es sie sich für die Trachtenhochzeit nur geliehen.

Anna steht mit dem Foto in der Hand auf und betrachtet sich im Spiegel, der an der Innenseite der Tür angebracht ist. Ihr fällt auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter, in ihrem Alter, sieht. Selbst die kleinen Grübchen an ihren Wagen scheinen ident zu sein. Auch die wenigen Sommersprossen befinden sich an den gleichen Stellen. Sie vergleicht die Nase, die Mundpartie und ihren Oberkörper. Sie findet keinen wesentlichen Unterschied. Was hatte Birgit heute im Kaffeehaus gemeint? ›Wäre nicht der Altersunterschied, dann hätte man sie und ihre Mutter für Zwillinge gehalten‹. Anna schmunzelt. Sie hat nicht nur viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt, sondern auch viel von ihrem Wesen.

Sie schiebt die Fotos mit der flachen Hand zusammen und lässt sie über die Bettkante zurück in die Schachtel fallen. Sie nimmt den Karton, stemmt ihn hoch und will ihn auf seinen Platz zurückschieben. Doch irgendetwas scheint sich zu spießen. Anna greift mit ihrer Hand nach oben ins Fach, tastet den Boden ab und findet einen orangefarbenen Umschlag. Anschließend hüpft sie in die Höhe, um den restlichen Fachboden sehen zu können. Sie erkennt eine kleine, flache Plastikschachtel und ein Fläschchen, stellt sich auf die Zehenspitzen und angelt sich die beiden Dinge.

Neugierig öffnet sie die kleine, luftdicht verschlossene Schachtel und findet darin ein fein säuberlich zusammengefaltetes, dunkelblaues Halstuch. Ein herber, angenehmer, aber schwacher Geruch verbreitet sich. Sie presst das Tuch auf ihre Nase. Eindeutig ein Herrenparfüm. Ihr empfindlicher Geruchssinn erkennt: Amber, Baummoos, Moschus, und Sandelholz. Das ist kein Duft, den ihre Mutter selbst getragen hat oder trägt. Anna faltet das Tuch wieder, legt es fein säuberlich in die Schachtel zurück und drückt den Deckel auf.

Auf dem Fläschchen klebt ein neutrales Etikett, auf dem handschriftlich das Wort: KETAMIN zu lesen ist. Sie hält es gegen das Licht und schüttelt es. Die kleine Flasche ist prall gefüllt, bis hin zum oberen Rand.

Anna überlegt: KETAMIN, das Wort kommt ihr bekannt vor. Sie ist sich sicher, es schon einmal gehört zu haben. Nur in welchem Zusammenhang? Jedenfalls ist das kein Medikament, denkt sie. Wäre es eines, dann würde es ihre Mutter im Arzneischrank aufbewahren.

Anna nimmt das Kuvert zur Hand. Es ist verschlossen. Der obere Rand ist fein säuberlich verklebt. Auf dem Umschlag befindet sich ein Stempel ihrer Firma. Daneben der händische Vermerk: Birgit Santora / Ergebnis: Spektralanalyse / DNA-Analyse.

Anna ist verwirrt. Sie fragt sich, ob sie das Kuvert öffnen soll? Nein, keinesfalls, denkt sie. Es wird seinen Grund haben, warum es verschlossen ist. Ein Zeichen, dass selbst ihre Mutter keinen direkten Zugriff auf den Inhalt haben will. Außerdem scheint es Birgit zu gehören, schließlich steht ihr Name darauf. Vielleicht bewahrt sie das Kuvert für ihre Freundin auf. Sorgsam legt Anna alles wieder an seinen Platz zurück.

Wo könnte sie noch nachsehen, um einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Mutter zu finden? Sie ist ratlos.

OK, eines ist klar: Wie sie von Birgit erfahren hat, ist ihre Mutter derzeit auf Kurzurlaub. Hat sie ja schon öfter gemacht. Mit einem Joseph. Sie muss wohlauf sein, denn wenn sie einen Unfall erlitten haben, oder in einer Klemme stecken, dann hätte sie sich längst bei ihr gemeldet. Der Gedanke gefiel ihr. Damit lassen sich ihre Sorgen – für den Augenblick – besänftigen.

Anna läuft die Treppe nach unten, in die Garage, um zu überprüfen, ob der funkelnagelneue Audi A1 ihrer Mutter auf seinem Parkplatz steht. Der Wagen fehlt.

Sie greift zum Telefon. Weder verpasste Anrufe, noch Kurznachrichten werden angezeigt.

Sie versucht nochmals, ihre Mutter zu erreichen. Sie wird direkt in die Mailbox weitergeleitet. Bevor sie nach der obligaten Ansage den Piepton hören würde, unterbricht sie bereits die Verbindung.

Anna schüttelt ihren Kopf und ruft als nächstes Claudia an.

»Bigler?«

»Hallo. Können wir uns abends treffen?«, fragt sie ihre Freundin bedrückt.

»Kann ich dir noch nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten einmal ein Wochenende hier verbringen.«

»Schade – Melde dich, wenn du zurück bist. Brauche jemanden zum … « Ihre Freundin hat das Gespräch bereits unterbrochen. Anna schüttelt den Kopf und steckt verwundert das Mobiltelefon in ihre Tasche.

PUNKTUM.

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