Читать книгу Das Erbe - Wolfgang Ziegler - Страница 12
Die Tür im Fels
ОглавлениеPawlek durchstieg vorsichtig den brüchigen Schutt am Grunde des schmalen Seitentales, bemüht, keine unnötigen Geräusche in der ruhigen Gebirgsnacht zu verursachen. Links und rechts wuchsen dichte Tannen zum nachtdunklen Himmel. Nur dem silbernen Mondschein war es zu verdanken, daß er nicht die mitgebrachte Lampe einsetzen mußte. Ab und an tauchten hellgraue Gesteinsflächen zwischen den Bäumen an den steilen Hängen auf, dann wieder die mächtigen Brocken gesprengter Bauten. Leise fluchend bahnte er sich noch etwa zehn Minuten den unsichtbaren Weg durch ein immer dichter werdendes Unterholz und Geröll in dem dunklen Grund.
Die Hänge und Bäume rückten schließlich immer enger zusammen, als er endlich die gesuchte Stelle erreicht hatte. Hier schloß sich das schmale Seitental des Steinberges in einer hohen Wand aus ebenfalls waldbestandenen, grauen Felsen. Es ging eigentlich nicht mehr weiter. Die namenlose Schlucht endete übergangslos am steilen Anstieg der rauhen Berghänge. Verschnaufend setzte sich Pawlek auf einen der umwucherten Felsbrocken und schaute auf das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr: noch eine Viertelstunde bis Mitternacht. Erschrocken fuhr der einsame Wanderer zusammen, als plötzlich ein großer Nachtvogel mit rauschendem Gefieder dicht über die nahen Baumkronen strich. Mißtrauisch beobachtete er die ihm unheimliche Umgebung. Im Dämmerlicht des Mondes fühlte er sich hier alles andere als wohl. Ganz in der Nähe befand sich zudem noch der damals heimlich zugesprengte Stollen mit den toten Ukrainern, die in einem stinkgeheimen Abschnitt gearbeitet hatten. Man richtete kurz darauf den gesamten oberen Seitentalabschnitt wieder so her, daß alles völlig naturbelassen wirkte. Fremde würden hier einstige menschliche Eingriffe nie auch nur im Entferntesten vermuten.
Endlich war es soweit. Ein leises, kaum wahrnehmbares Pfeifen drang aus der tannenbestandenen Felswildnis der nahen Bergwand. Daraufhin stand Pawlek sofort auf und leuchtete sich kurz mit der Lampe selbst an.
„Nun komm schon her!“ krächzte die bekannte Stimme Hahnfelds aus der Dunkelheit ihm entgegen. Mit unsicheren Schritten auf dem umherliegenden Gesteinsschutt näherte sich Pawlek dem geheimen Zugang. Da wurde er noch mal blitzschnell mit einem starken Handscheinwerfer angestrahlt.
„Was soll das“! entfuhr es ihm erschrocken und verärgert.
„Ich muß doch sehen, ob auch alles in Ordnung ist, du Narr. Sicher ist sicher.“ Hahnfeld erfaßte ihn grob am Oberarm und beförderte ihn schnell und unsanft in das dunkle Mannluk hinein. Beunruhigt sah der Besucher des Kommandanten eine dunkle Waffe in dessen Hand glänzen. Sogar der Finger war am Abzug gewesen ...
„Ich kann nichts dazu, wenn hier wieder plötzlich die Leute rumschleichen“, entrüstete er sich mit leisen Worten, nachdem sie den hinter dem Schott liegenden kleinen Raum betreten und das Außenluk sofort hinter sich verschlossen hatten.
„Jetzt setz dich erstmal hin und erzähle mir in Ruhe, was da plötzlich los ist.“ Hahnfeld gab sich seinem ehemaligen Adjutanten gegenüber wieder leutselig, steckte die Waffe weg, behielt ihn aber unentwegt scharf im Auge.
Dieser berichtete zuerst von dem unerwarteten Besuch bei sich im Dorf. „Und dann ist da noch etwas. Ich beobachte schon eine Weile zwei Typen, die früher auf der Baustelle III als Elektriker arbeiteten. Sie stammen aus dem Nachbarort. Anscheinend wollen die sich als Nachkriegsschatzgräber betätigen.“
„Was heißt hier Nachkrieg! Wir befinden uns noch immer im Kampf, du Idiot!“ blaffte Hahnfeld scharf zurück. „Du weißt wohl nicht mehr, worum es hier geht?“ wobei seine Hand in Richtung der hinter ihn liegenden Felswand deutete, in der eine massive Stahltür Zugang ins Innere des Berges verhieß. „Und wenn da irgendwelche Saupolen versuchen in unserem Dreck zu schnüffeln ...“, seine Stimme wurde leise und gefährlich. „Dann wirst du umgehend dafür sorgen, daß es das letzte Mal war. Aber bitte so, daß es sich in euren Käffern weit umherspricht. Und was den Kerl betrifft, der da bei dir auftauchte. Das scheint nicht ganz ohne zu sein. Da überlege ich mir was. Sag‘ sofort Bescheid, wenn der wieder erscheint, und sieh dir in den nächsten Tagen mal unauffällig die Gegend an. Mach eine Patrouille in die Berge, der war sicher mit einem Auto da. Suche nach Spuren. Aber vorerst nichts gegen den Mann unternehmen. Ich möchte wissen, was da bloß auf einmal losgeht. Die beiden Schatzsucher, wie du sie nennst, verschwinden mir schnellsten - verstanden!?“.
„Ich kann sie nicht einfach auf offener Straße über den Haufen schießen“, entgegnete Pawlek. „Da müßte ich sie schon in den Bergen oder den Ruinen selbst abpassen können.“
„Das ist mir schon klar. Du mußt eben aufpassen. Wenn du sie festgestellt hast, dann wirst du wohl wieder ihre Spur aufnehmen können. Hast du eine Ahnung, wo die sich rumgetrieben haben?“
„Sie müssen auf den Hochflächen des Berges rumgekrochen sein. Jedenfalls haben sie abends in der Dorfkneipe mal so was gucken lassen. Die Deutschen hätten wohl eine Menge Lastwagen im Berg verschwinden lassen, und die wollten sie finden.“
„Das schlägt dem Faß den Boden aus! Diese polnische Schweinebande! Nächstens gibt es wohl ganze Sonntagsausflüge über meinem Kopf!“
Hahnfeld erboste sich derart, daß Pawlek sich beeilte, ihm die mitgebrachte Verpflegung, Rauchwaren, Zeitungen und noch einige andere Bestellungen auf den Tisch zu packen. Als der Rucksack leer war, hatte sich sein Gegenüber in der makellos schwarzen Uniform wieder etwas gefangen.
‚Nun gut, mit so etwas war zu rechnen. Anscheinend hat die abschreckende Wirkung nachgelassen, die die an den Wegen ins Gebirge aufgehängten Leichen der toten Waldarbeiter, Förster und Wilderer eine Zeitlang ausgeübt hatte‘, überlegte sich Hahnfeld.
„Wenn du sie nicht in den Bergen erwischst, sprengst du eines der Häuser der beiden! Ich alter Esel sitze hier schließlich nicht für einen Hundedreck im Berg, das dürfte dir wohl auch klar sein!“
Pawlek beeilte sich wiederum, das zu bestätigen.
„Ich halte die Augen offen und kümmere mich um die beiden, Kommandant“
„Das will ich auch stark annehmen. Nicht das sich das Geschmeiß noch eines Tages zum Kaffeetrinken bei mir anmeldet, ha, ha, ha ...“, Hahnfeld lachte trocken und humorlos. „Da würde ich doch eher die ganze Gegend hier in die Luft blasen ...“, setzte er mit eisigem Ton hinzu, daß es Pawlek eiskalt über den Rücken lief. Er schärfte seinem Besuch noch einige Sicherheitsregeln ein und erklärte ihm, daß ab sofort und bis auf Widerruf täglich eine Meldung via Draht in die Basis zu erfolgen habe. Dann durfte Pawlek sich auf seinen einsamen Rückweg durch das Gebirge machen.
Mit einem dumpfen Laut klappte hinter ihm das schwere Außenschott zu. Er hätte schon Sekunden später Mühe gehabt, die Stelle in der nächtlich-dunklen Felswand wieder zu lokalisieren, wo es sich gut getarnt verbarg. Während Hahnfeld die von außen mit dickem Felsgestein und robustem Trockengras verblendete Stahltür im Inneren wieder mehrfach fest und sicher verriegelte, tappte Pawlek vorsichtig den schmalen Grund der Schlucht zurück.
Wind kam auf und graue Wolkenfetzen verschleierten das Bild des Mondes am zuvor sternenklaren Nachthimmel. Es wurde stockdüster, und der einsame Wanderer war froh, endlich wieder die Stelle zu erreichen, an der das enge Seitental sich in Nähe des ehemaligen Baustellengeländes allmählich erweiterte und schließlich hinter hohen Schutthaufen in alten, ausgefahrenen Wegen auslief. Selbst von hier aus war der Zugang oder gar die Existenz des schmalen Bergtales kaum erkennbar. Und wer von ihm und seinem Geheimnis nichts wußte, hätte es wohl kaum entdeckt.
Hahnfeld, der alte Fuchs, hatte sich wirklich gut verschanzt in der unterirdischen Festung, ging es Pawlek durch den Kopf, während er weiter Richtung eines Talweges lief. Auf wessen höhere Anweisung Hahnfeld dort noch die Stellung hielt, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
Hatte der Kommandant ihm doch nicht unmittelbar nach Ende der offiziellen Kampfhandlungen unverblümt eingeschärft, daß es nur noch diese eine Personenschleuse gäbe. Und selbst wenn er, Pawlik, diese, unter welchen Umständen auch immer, verriete, gäbe es kein Hineinkommen in die Basis - und sei ein ganzes Regiment draußen aufgestellt. Dafür sorge ein über hundert Meter langer Tunnel, der alleine die kleine Außenschleuse mit den inneren Systemen verbinde. Dieser sei mit Sprengladungen geradezu gespickt. Bei Fremdeinwir-kung würde der Gang auf einen Schlag über hundert Meter weit völlig zugesprengt, und gleichzeitig täten automatische Werfer den Talgrund mit Kampfmitteln bestreichen, die dort und in der Umgebung keine Maus mehr am Leben ließen ...
„Nur zur Information, falls du einmal auf falsche Gedanken kommen solltest“, hatte sein Chef damals gefährlich leise geknurrt.
Pawlek nahm dies als Tatsache hin. Er ging sogar noch weiter. So war er fest überzeugt, sollte der Gegner ernsthaft versuchen, auf die sensiblen Anlagen im Berg zuzugreifen, käme es zu einer unvorstellbaren Katastrophe für den ganzen Landstrich. Der heisere Schrei eines Waldkauzes schreckte ihn aus seinen Gedanken auf und ließ ihn wieder mehr auf den schmalen, wuzelübersäten Waldweg achten, der ihn hinab an die Bergausläufer führte.