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»Im Southern Syncopated Orchestra gibt es einen außerordentlichen Klarinettisten …«

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Es gibt, das sei an dieser Stelle nicht unterschlagen, in diesen Jahren auch eine weitsichtigere Reflexion über den frühen Jazz, in der die Musik nicht nur als Modetanz, nicht nur als fremde, mitreißende Rhythmik, als wirre Geräuschkulisse wahrgenommen wurde, sondern wo der Autor die künstlerische Qualität und irgendwie auch die Chancen erkannte, die der Jazz als eine – und hier wird dieses Phänomen erstmals beschrieben – improvisierte Musik der sich in Diskussionen über harmonische oder formale Neuerungen zerreibenden europäischen Musikszene bot. Die Rede ist von jenem legendären Aufsatz, den der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet in der Revue Romande vom Oktober 1919 über ein Konzert des Southern Syncopated Orchestra schrieb, eines afro-amerikanischen Konzertensembles mit 27 Musikern und 19 Sängerinnen und Sängern, das der Komponist Will Marion Cook zusammengestellt hatte und das in diversen Besetzungen zwischen 1919 und 1921 in Europa zu hören war. Der bemerkenswerteste Absatz dieser Rezension lautet: »Im ›Southern Syncopated Orchestra‹ gibt es einen außerordentlichen Klarinettisten, der nach meiner Ansicht der erste seiner Rasse ist, der für Klarinette Blues komponiert hat, die in ihrem Aufbau vollendet sind. Ich habe zwei von diesen gehört, die er sorgfältig ausgearbeitet und darauf seinen Kameraden vorgespielt hatte, damit sie dafür eine Begleitung schaffen konnten. Trotz ihrer Verschiedenheit waren sie dennoch durch den Reichtum der Erfindungskraft, die Stärke ihres musikalischen Ausdrucks und die Kühnheit ihrer bisher ungeahnten Neuerungen gleichermaßen bewundernswert. […] Ich will den Namen dieses genialen Künstlers nicht verschweigen, den ich wenigstens nicht vergessen werde: Sidney Bechet.«

Zum Schluss seines Artikels resümiert Ansermet den aktuellen Diskurs, in dem man immer noch versuche, die »großen Gestalten der Musikgeschichte neu zu entdecken«. Und er ahnt, dass Bechet, der, von dieser Diskussion ganz unbehelligt, einfach nur »seinen ›eigenen Weg‹« gehen, seiner eigenen Stimme folgen wolle, vielleicht die richtige Entscheidung getroffen habe: »Man könnte denken, daß dieser ›eigene Weg‹ vielleicht einmal die große Marschroute sein wird, die die Welt von morgen einschlägt.«29

Wie lassen sich die Zeitzeugenberichte über die ersten Begegnungen Deutschlands mit dem Jazz zusammenfassen? Was das genau war – ein Tanz, eine vergängliche Modeerscheinung, eine neue Kunstform –, das wusste keiner so genau. Man wusste um den afro-amerikanischen Ursprung der Musik, um das Zusammenkommen europäischer und afrikanischer Elemente, konnte aber meist nicht einmal zwischen afro-amerikanisch und afrikanisch unterscheiden. Die damals ja noch kaum existierende Plattenindustrie reagierte vor allem auf den Erfolg der Modebewegung und presste Aufnahmen, die zum Tanzen benutzt werden sollten. Als Jazzband wurde identifiziert, was auch immer entweder einen schwarzen Musiker oder aber ein Schlagzeug auf die Bühne stellte. Und ästhetische Vorgaben gab es keine. Die emotionale Wirkung war am wichtigsten; wie diese zustande kam, konnte kaum jemand beschreiben. Erstaunlich ist: Von Improvisation war, von Ausnahmen wie Ansermet abgesehen, kaum die Rede.

Von den Musikern, die 1918 mit James Reese Europe nach Europa kamen oder die 1919 mit dem Southern Syncopated Orchestra durch den Kontinent tourten, blieben etliche. Es gab zwar auch Rassismus in Europa, doch schien er ihnen weniger ausgeprägt, entwürdigend und tödlich als in den Vereinigten Staaten. Außerdem hatten amerikanische Künstler schon seit einer Weile die Varietébühnen für sich erobert; es gab also auch einen Markt für jene Musik, die irgendwo zwischen Ragtime, Blues-Songs, Revueschlagern und Improvisation schwankte, die aber überall nur noch als »Jazz« verkauft wurde. Der New Yorker Schlagzeuger Louis Mitchell war bereits 1915 nach Europa gekommen und hatte zahlreiche Fans in England gewonnen. 1918 trat sein Septett, das er Seven Spades nannte, einen Monat lang im Pariser Olympia auf. Mitchell begann eine Solokarriere, für die er unter dem Namen Mitchell’s Jazz Kings wechselnde Bands mit französischen Musikern zusammenstellte. 1919 kehrte Mitchell nach New York zurück, aber nur, um Musiker für eine künftige afro-amerikanische Band zu suchen, mit der er ab Juli großen Erfolg in Paris hatte. Ab 1921 nahmen sie erste Platten für das französische Pathé-Label auf, die völlig anders klangen als das, was die Original Dixieland Jazz Band vier Jahre früher produziert hatte. Nicht nur war die Art und Weise, wie Jazz zu klingen hatte, zu dieser Zeit noch nicht standardisiert; wie andere amerikanische Bands in Europa auch verloren Mitchell und seine Musiker zudem über kurz oder lang den Bezug zu aktuellsten amerikanischen Entwicklungen. Auch die Jazz Kings entwickelten ihren Stil weiter, als erst die Platten des Fletcher Henderson Orchestra nach Europa kamen und schließlich die Band des Pianisten Sam Wooding persönlich.30

Louis Mitchell hatte in Frankreich genügend Arbeit. Zu seinen regelmäßigen Zuhörern gehörten die Intellektuellen, die Dichter und Maler von Paris; Jean Cocteau, wird berichtet, sei schon mal als Schlagzeuger eingestiegen. Und die Mitglieder der Komponistengruppe Les Six hörten die Band im Casino de Paris, später in Mitchells eigenem Nachtclub Chez Mitchell oder in der Music Box, die er mit der Sängerin Ada ›Bricktop‹ Smith 1924 eröffnete. Hier und wenig später, mit anderen Musikern als Auslöser, auch in Berlin begann die Auseinandersetzung der zeitgenössischen Komponisten klassischer europäischer Tradition mit dem Jazz als einer neuen Klangfarbe.



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