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Eine amerikanische Armeekapelle in Europa

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Wir schreiben also das Jahr 1917. Am 7. März war die erste Jazzplatte erschienen, am 6. April traten die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein. In Europa hatte dieser »Große Krieg« bereits Zehntausende an Todesopfern gefordert und ganze Länder in die Krise gezogen. Dieser Krieg hatte eine neue Dimension. Er wurde nicht am grünen Tisch und in begrenzten Schlachtgebieten ausgefochten. Er war so ausufernd und mit den neuen Kriegswaffen so vernichtend, dass jeder Mann und jede Frau betroffen war, dass sich ganze Länder die Frage nach ihrer Existenz stellen mussten. Wenn Staaten sich so vollends vernichten wollen und können, welchen Wert haben dann alle kulturellen Errungenschaften, die über Jahrhunderte entstanden sind und die ja neben der Entspannung immer auch einem gesellschaftlichen Gleichgewicht dienen?

Am 25. Dezember 1917 wurde das 15. Infanterie-Regiment der Vereinigten Staaten der 185. Brigade zugeordnet und auf den Weg nach Frankreich geschickt. Die Soldaten waren zur einfachen Arbeit abkommandiert, nicht zum Kampf. Am 1. März 1918 wurde das Regiment zum 369. Infanterie-Regiment umbenannt, am 8. April der französischen Armee zugeordnet. Die Arbeitssoldaten erhielten Waffen, trugen aber weiterhin ihre amerikanischen Uniformen. Im September waren sie zusammen mit französischen Truppen in Kämpfe verwickelt worden, kamen aber trotz schwerer Gegenwehr bis in die Vogesen durch. Dort waren sie am Tag des Waffenstillstands, am 11. November 1918, und sie erreichten als erste Soldaten der alliierten Streitkräfte sechs Tage später den Rhein. Das alles wäre nichts weiter als eine von vielen Kriegsgeschichten, hätte dieses Regiment nicht einzig aus afro-amerikanischen Soldaten bestanden. Die amerikanische Armeeführung hatte sie nicht kämpfen lassen, weil die meisten weißen Soldaten keine schwarzen Kameraden neben sich wollten. Die Zuordnung zur französischen Armee war aus denselben Gründen erfolgt. Als das 369. Infanterie-Regiment im Februar 1919 nach New York zurückkehrte, wurden die Harlem Hellfighters, wie sie jetzt genannt wurden, mit einer großen Parade gefeiert. Die Soldaten hatten etliche Orden erhalten, einige von der amerikanischen, die meisten aber von der französischen Regierung. Die Harlem Hellfighters standen forthin für die gespaltene Politik der Vereinigten Staaten, in der schwarze Offiziere und Soldaten in Europa für die Freiheit und für ihr Land kämpften, sich aber zu Hause und selbst innerhalb der Armee dem alltäglichen Rassismus zu beugen hatten.

Die Harlem Hellfighters besaßen eine Marschkapelle. Der schwarze Bandleader James Reese Europe hatte 1910 in New York den Clef Club gegründet, eine Art Interessenvertretung für Afro-Amerikaner im Musikgeschäft. Er war erfolgreich, organisierte 1912 ein Konzert des Clef Club Orchestra in der Carnegie Hall und nahm bereits 1913 und 1914 Schallplatten auf, die nicht dem Jazz der Original Dixieland Jazz Band entsprachen, aber ganz gewiss den Geist des Jazz atmeten. Als 1916 das 15. Infanterie-Regiment gegründet wurde, ließ sich Europe anwerben und überzeugte seine Vorgesetzten davon, dass ein bisschen Show zu mehr freiwilligen Soldaten führen würde. Am 1. Oktober marschierte das Regiment die 5th Avenue hinunter, begleitet von Musik aus den Reihen des Clef Club.1

Es gab nur ein weiteres schwarzes Regiment, das zu den National Guards in Illinois gehörte, das für seine Konzertband bekannt war. Europe wurde beauftragt, für das 15. Regiment eine vergleichbare Kapelle aufzubauen.2 Es folgte ein landesweiter Aufruf, und als die Soldaten am Neujahrstag 1918 den ersten Fuß auf französischen Boden setzten, waren unter den 2000 Männern des Regiments Musiksoldaten, die am 12. Februar 1918, an Lincolns Geburtstag, in Nantes ein Konzert gaben. Sie spielten Märsche und leichte klassische Ouvertüren. Der Sänger Noble Sissle spielte Geige und trommelte in der Band, und er beschrieb, wie dieses Konzert in Nantes das französische Publikum in den Bann zog.3 Der zweite Konzertteil, schreibt er, begann mit John Philip Sousas »Stars and Stripes Forever«, dann folgte ein Arrangement mit »Plantagenmelodien«, schließlich der mitreißende »Memphis Blues«. Bald folgten die Musiker dem Vorbild ihres Dirigenten, ließen die militärische Haltung sein, schlossen die Augen und spielten, was das Zeug hielt. »Die Kornettisten und Klarinettisten fingen an, die Töne in diesem typischen Rhythmus zu manipulieren (jenem Rhythmus, den kein Künstler je zu Papier bringen konnte), während die Trommler einen Beat hinlegten, dass ihre Schultern im Takt mit den synkopierten Schlägen zuckten. Dann begann das ganze Publikum mitzuschwingen, würdige französische Offiziere wippten mit den Füßen, selbst der amerikanische Admiral vergaß für einen Moment allen Stil und Anstand. […] Das Publikum konnte nicht länger an sich halten, der Jazz-›Virus‹ hatte sie erfasst, und er schien ganz von ihnen Besitz zu ergreifen, lockerte alle Muskeln und führte zu dem, was man in Amerika ›schaukelnden Adler‹ nennt. Genauso war es überall in Frankreich. Züge mit alliierten Soldaten kamen vorbei, und sobald wir eine gute alte Dixie-Melodie anstimmten, tauchten in allen Fenstern die Köpfe auf. Selbst die deutschen Gefangenen vergaßen, dass sie Gefangene waren, ließen ihre Arbeit fallen, hörten zu und wippten mit den Füßen im Takt zu den mitreißenden amerikanischen Stücken.«4


James Reese Europes Hellfighters spielen für verwundete Soldaten in einem Pariser Lazarett (1918).

Im September nahm das 369. Regiment an der Maas-Argonnen-Offensive teil, bei der mehr als 150 seiner Soldaten fielen. Europe und seine Band waren zwischenzeitlich nach Paris beordert worden und spielten in den nächsten Monaten in ganz Frankreich, vor amerikanischen, britischen, französischen, belgischen oder italienischen Verwundeten genauso wie vor der französischen Bevölkerung auf Plätzen und in Parks. Die Begeisterung war ihnen überall gewiss. Mit ihnen war der Jazz in Europa angelangt, nicht auf Schallplatte, sondern so, wie er idealerweise gehört werden sollte: als Live-Performance, als eine Musik, die zugleich eine Spielhaltung ist, als eine geradezu körperliche Erfahrung, die sich dem Intellekt zu entziehen schien, der die westeuropäische Kultur damals prägte.

Europa hatte sich ja bis zu diesem Großen Krieg als Zentrum der Welt verstanden. Der Krieg und seine Zerstörungskraft veränderten das 20. Jahrhundert. Er zeigte, dass selbst die mächtigsten Länder Schwächen besaßen, dass Widerstand Erfolg haben konnte und dass es Alternativen zu den hergebrachten Ordnungen gab. Deutschland, das den Krieg verloren hatte, wurde zur Republik und zu Reparationszahlungen angehalten. In Russland kam es zur Revolution. Aufstände in den Kolonien häuften sich. Überall erkannte man den Wandel, der vor nichts Halt machte, nicht vor den Mächtigen, nicht vor den etablierten Strukturen. Die alte Weltordnung schien sich selbst zu zerlegen. Und inmitten des tatsächlichen und gefühlten Chaos wirkte der Jazz wie eine Art Hoffnung, denn hier gab es Ordnung in einem scheinbaren Durcheinander, und hier konnte die individuelle Stimme zum stimmigen Ganzen beitragen.



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