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Revue Nègre: »Sie spielen ohne Dirigenten«

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Der Pianist Sam Wooding (geb. 1895) stammte aus Philadelphia und war nach Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg als Tenorhornist in Frankreich stationiert gewesen. Anfang der 1920er Jahre leitete er eine Band, mit der er große Bühnenshows begleitete. Um die Faszination des europäischen Publikums für schwarze Künstler wissend, plante ein gewiefter Agent eine Revue, die speziell für den europäischen Markt geschrieben wurde. Die Show Chocolate Kiddies, die einige Nummern des damals noch weitgehend unbekannten Duke Ellington enthielt und an deren Choreographie wohl auch die deutsche Schöpferin des Ausdruckstanzes Mary Wigman beteiligt war, hatte am 25. Mai 1925 im Berliner Admiralspalast Premiere, wo das Stück unter großem Beifall von Kritik und Publikum acht Wochen lang gespielt wurde, um dann in Hamburg, Stockholm, Kopenhagen und vielen anderen größeren wie mittelgroßen Städten zwischen Skandinavien und Budapest, Prag und Paris zu gastieren.

Neben Wooding und den Chocolate Kiddies war zeitgleich auch eine andere Truppe auf dem europäischen Markt der Revuetheater erfolgreich unterwegs: die Revue Nègre, die der New Yorker Pianist Claude Hopkins (geb. 1903) mit seinem Septett begleitete, dem unter anderem der Klarinettist Sidney Bechet angehörte. Eigentlicher Star der Revue Nègre war allerdings die Sängerin und Tänzerin Josephine Baker. Beide Ensembles reisten kreuz und quer durch Europa, feierten, wo immer sie hinkamen, große Erfolge, und konfrontierten ihr Publikum meist zum ersten Mal mit einer authentischen Spielpraxis des afro-amerikanischen Jazz, wie man ihn nicht von Schallplatten, geschweige denn von Noten erahnen konnte. Die Kritiken sind durchsetzt mit rassistischen Klischees, zeugen aber auch von einer ehrlichen Bewunderung für die fremde Art des Musikmachens. So liest man etwa in Das Blaue Heft nach der Berliner Uraufführung der Chocolate Kiddies: »Sie spielen ohne Dirigenten, denn jeder einzelne trägt den Rhythmus in sich, die Synthese aus der wilden, starken Urnatur ihrer Heimat und Vergangenheit und der jagenden Nervosität des modernen Amerika. Rhythmus ist alles bei ihnen, in ihrem Gesang, in ihrem Tanz, in ihrer Komik, in der kleinsten Bewegung.«59

Claude Hopkins’ Band war im Stummfilm Der Prinz und die Tänzerin von 1926 mit Willy Fritsch zu sehen, und Josephine Baker wurde zur Symbolfigur einer multiethnischen und sexuell befreiten Moderne, die sich im Werk etlicher Künstler, in Malerei, Bildhauerei, in Gedichten und Geschichten sowie in den Songs des politischen Kabaretts wiederfand. Baker handelte sich in Berlin ein Verfahren wegen Vertragsbruchs ein, als sie die Show für ein Engagement in den Folies Bergère in Paris einfach verließ. Ohne ihren Star hatte die Revue Nègre weitaus weniger Erfolg. Hopkins’ Band fiel auseinander, bevor der Pianist mit seinen Musikern in ein europäisches Tonstudio gehen konnte. Mit unterschiedlichen Besetzungen tourte Hopkins immerhin noch bis Anfang 1928 durch Europa, bevor er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Wooding dagegen, dessen Band über die Jahre Musiker wie der Trompeter Tommy Ladnier, der Klarinettist Garvin Bushell und der Saxophonist Gene Sedric angehörten, kehrte zwar ebenfalls kurzfristig nach New York zurück, war aber bald wieder in Europa und spielte zwischen 1925 und 1931 in Berlin, Barcelona und Paris zahlreiche Aufnahmen ein.

Es kann nicht genug gewürdigt werden, welchen Einfluss Bands wie die von Sam Wooding oder Claude Hopkins oder aber die anderen Tournee-Ensembles und Solisten, die in diesen Jahren Europa bereisten, auf die Musiker hierzulande hatten. In ihren Auftritten konnten Europäer diese Musik zum ersten Mal live erleben, ihre Unmittelbarkeit, die Spannung der Improvisation und die Überraschung, die mit jeder neuen Interpretation verbunden war.

Der Klarinettist Garvin Bushell, der mit den Chocolate Kiddies tourte, erinnert sich, dass die Band in der ersten Hälfte der Show im Bühnengraben saß, aber nach der Pause auf der Bühne, und dass sie dort niemals Noten vor sich gehabt hätten. In diesem Teil wurde es am jazzigsten; hier erklangen auch reine Instrumentals, der »Indian Love Call« etwa, der »Shanghai Shuffle« oder W. C. Handys »St. Louis Blues«.60 Als Hommage ans deutsche Publikum spielte die Band außerdem einen von Sam Wooding eigens arrangierten Schlager, Richard Falls »O Katharina«, den auch Bernard Etté und andere Tanzorchester seit 1924 im Programm hatten. Woodings Arrangement macht Anspielungen auf deutsche Volkslieder und populäre Songs der Zeit, etwa das »Loreleylied«, den »Dummen Augustin«, »Horch, was kommt von draußen rein«, »O Tannenbaum« oder »Ausgerechnet Bananen«; er lässt die Klarinette mal wiehern und lachen, dann aber auch wieder die ganze Band in Polkamanier begleiten. Improvisation spielt auch hier kaum eine Rolle, doch der Witz, mit dem auf Spielweisen des amerikanischen Jazz genauso wie auf das Repertoire deutscher Kapellen Bezug genommen wird, ist beispielhaft und wird in der Lässigkeit und dem immer sicheren rhythmischen Ansatz von keiner deutschen Band auch nur ansatzweise erreicht.

Woodings Auftritte in Berlin und anderswo in der Republik überraschten selbst die Zuhörer, die zu wissen meinten, was es mit dem neuen Jazz auf sich hatte. Alfred Löw, der Deutschland in den 1930er Jahren verließ und unter dem amerikanisierten Namen Alfred Lion in New York zusammen mit seinem Freund Francis Wolff das Label Blue Note gründete, kam eher zufällig in die Show im Admiralspalast, sah zum ersten Mal überhaupt schwarze Musiker und hörte solch eine Art Musik, die ihn sofort gefangen nahm. Sein Leben lang sollte er sich an diesen ersten Eindruck erinnern, der seine Neugier auf das Land und auf die Stadt, aus der diese Musik stammte, schürte, und der ihn letzten Endes dazu brachte, den Musikern, die er so verehrte, Gehör zu verschaffen, indem er ihnen auf seinem Label eine Plattform bot.

Neben afro-amerikanischen ließ sich auch eine Reihe weißer amerikanischer Musiker in Berlin nieder. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die deutsche Hauptstadt eine Metropole für den Jazz in Europa war. Selbst diejenigen Musiker in den USA, die es noch nie zu Tourneen auf den alten Kontinent verschlagen hatte, spielten zumindest mit dem Gedanken, weil sie so viel über die lebendige Szene hörten – wobei diese Geschichten die Musik genauso wie Verdienstmöglichkeiten, das bunte Leben und, im Zeitalter der Prohibition, die Verfügbarkeit von Alkohol betrafen.61



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