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Malen nach Zahlen: Lernen von Noten

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Borchard wirkt also im Rückblick wie eine Ausnahme und zugleich wie ein Vorgriff auf Erfahrungen, die andere Musiker erst etwas später machen konnten. Eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur für die Jazzgeschichtsschreibung in Deutschland war die Ankunft der ersten afro-amerikanischen Bands Mitte der 1920er Jahre. Mitchell’s Jazz Kings, die in England und Frankreich bereits vor 1920 für Aufsehen gesorgt hatten, waren in Deutschland nicht zu hören gewesen, und außer Borchard gab es kaum deutsche Musiker, die den Weg nach Amerika gefunden und dort authentische Beispiele des Jazz gehört hatten.

Der Pianist Erwin Rosenthal immerhin hatte vergleichbare biographische Erfahrungen und nahm 1921 unter dem Pseudonym Fred Ross verschiedene Titel auf, die schon in der Besetzung mit oft parallel geführten Geigen- und Banjomelodien wie eine Mischung aus Salon- und Ragtime-Ensemble klingen. In seinen Aufnahmen hatte vor allem das Klavier antreibende Funktion, während sich die Perkussion auf Holzblöcke beschränkte, was allerdings der Tatsache zuzuschreiben ist, dass man in der Zeit der Trichteraufnahmen auf komplette Schlagzeugsets im Studio verzichtete, weil die Gefahr bestand, dass deren heftige Vibration die Nadel zum Ausrutschen bringen und damit die wertvolle Matrize zerstören konnte. Ross konnte keine Noten lesen und auf dem Klavier angeblich »nur in Fis-Dur und Cis-Dur mit zwei Fingern spielen«37. Mit Jazz von der Klanggestalt, in der Borchard seinen amerikanischen Vorbildern huldigt, hat das dabei reichlich wenig zu tun.

Für alle anderen Musiker waren Anfang der 1920er Jahre die wichtigsten Informationsquellen über amerikanischen Jazz vor allem Notenpublikationen und Schallplatten. Noten allerdings erlaubten weder einen Eindruck von dem Sound dieser Musik noch gaben sie Aufschluss über die Improvisation. Sie pressten im besten Fall populäre Stücke in ein starres Ablaufschema, das Wiederholungen zuließ und oft, wie die meisten Ragtimes und frühen Broadway-Schlager, mehrthematisch angelegt war. Fred Ross’ »Ja-Da« oder sein »Watch Your Step« von 1921 zeigen kaum wirkliche improvisatorische Veränderung der Themen, weder solistisch noch im Kollektiv. Und von Improvisation mag man selbst angesichts der angeblich mangelhaften Notenfestigkeit des Bandleaders kaum sprechen. Notenveröffentlichungen wurden vielleicht als »Jazz« oder »Blues« angepriesen; tatsächlich dienten sie aber vor allem der Tanzmusikbranche. Es handelte sich in der Regel nicht einmal um Bandarrangements, sondern um Klavierfassungen, deren Untertitel – Cakewalk, One-Step, Shimmie, Foxtrott, Boston oder Tango – auf ihren angepeilten Einsatzbereich hindeuteten. Die Aufgabe vieler Kapellen vor Ort war es danach, diese Klavierfassungen jazzmäßig aufzublasen, also jazztypische Instrumente einzusetzen, vor allem Banjo und Schlagzeug, bald das Saxophon oder eine, in Anlehnung an die Original Dixieland Jazz Band, jazzmäßig phrasierende Posaune. Noten auf der anderen Seite waren analysierbar und sorgten, wie wir später sehen werden, für etliche Missverständnisse im Kreis der europäischen Konzertmusik darüber, wie Jazz tatsächlich funktioniert.



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