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Berufsbild »Jazzmusiker«?

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Anfang der 1920er Jahre bezeichnete sich niemand hierzulande als Jazzmusiker – diese Berufsbezeichnung sollten sich Musiker erst nach 1945 geben. Der Jazz stand für viele der ihm verbundenen Künstler noch nicht einmal im Mittelpunkt ihres Schaffens, sondern war nur eines von mehreren Genres, das sie bedienten. Man spielte Tanz-, Revue- und Unterhaltungsmusik, und der Unterschied zwischen diesen drei musikalischen Welten war gering. Selbst in Operetten, die eine Art Verbeugung vor dem populären Geschmack waren, erklangen Jazztöne, etwa in Ralph Benatzkys Im Weißen Rössl.

Zum Jazz führten ganz unterschiedliche Lebenswege. Der Pianist Helmuth Wernicke (geb. 1909) etwa verdiente sich sein Geld schon als Teenager in den 1920er Jahren als Stummfilmpianist in Berlin, wodurch er in Kontakt mit Tanz- und Jazzmusikern gelangte. Andere kamen von der klassischen Musik, Ludwig Rüth (geb. 1889) etwa, der eine Ausbildung als klassischer Flötist und Dirigent besaß und vor seiner Karriere in Jazz und Tanzmusik sinfonische Orchester dirigiert hatte.

Die wenigsten Musiker jedenfalls, die in den 1920er Jahren den Jazz für sich entdeckten, taten dies gezielt. Jazzmusiker war keine Karriereoption für einen Musikstudenten jener Zeit. Viele fanden über Konservatorium, Kur-, Operetten- oder Theaterorchester ihren Weg in die Tanzmusikszene der Zeit. »Jazz« zu spielen gehörte dabei zuallererst einmal zum Handwerkszeug, genauso wie man Walzer oder Tango spielen können musste. Die klare Trennung der Musikgenres war in den 1920er und den frühen 1930er Jahren noch nicht gegeben. Die meisten Musiker verstanden sich als Tanzmusiker, und das schloss jazzigere Gigs genauso ein wie Tanzveranstaltungen, Begleitmusik für Schlagersänger oder -sängerinnen, Revuen oder Operetten, die nicht nur auf Streichensemble zurückgriffen.31

Der österreichische Trompeter Fred Clement (geb. 1902) lebte von 1926 bis 1932 in Berlin und erinnert sich, dort habe jeder durchschnittlich begabte Musiker in jenen Jahren eine Menge Geld verdienen können. Clement war gefragt und wurde vielseitig eingesetzt. »Man hat wo gespielt. Dann ist ein Anruf gekommen für ein neues Engagement. Das Engagement war aus. Servus! Auf Wiedersehen! Das nächste Engagement ist gekommen. Man hat sich nicht viel gekümmert um Details, wer mit einem oder vor oder nachher wo gespielt hat.«32

Die Berliner Szene war also groß und lebendig. Es gab Musiker wie Sand am Meer, die teils feste Engagements in Bands hatten, sich teils freiberuflich zu einzelnen Projekten zusammenfanden. Orte wie das Romanische Café oder das Café Zitemann nahe der Gedächtniskirche fungierten dabei als eine Art Musikerbörse: Dort ging man hin, wenn man keinen Gig hatte, und fand in kürzester Zeit ein neues Engagement. Neben Konzerten und Tanzmucken war auch die Studioarbeit für gute Musiker einträglich. Fred Clement berichtet: »Die Dienste waren meist tagsüber, Vormittag von 9 bis 12 Uhr, Nachmittag zwischen 13 und 16 Uhr. Als Gage haben wir pro Tag 50 Reichsmark bekommen, das war nach der Inflation sehr viel Geld damals.«33

Nehmen wir als ein weiteres Beispiel den Pianisten Georg Haentzschel, 1907 in Berlin geboren, der sich bereits ab dem 14. Lebensjahr das erste Geld als Stummfilmbegleiter verdiente und nebenbei mit einem Trio, bestehend aus Klavier, Geige und Schlagzeug, in einer Tanzbar am Kurfürstendamm auftrat. Haentzschel studierte am renommierten privaten Stern’schen Konservatorium und arbeitete drei bis fünf Monate im Jahr als Tanzmusiker. Von Jazz, erzählte er später, habe er keine Ahnung gehabt, aber er habe gerne Noten geschrieben und dank seines absoluten Gehörs leicht Arrangements von Platten transkribieren können. Die europäische Unterhaltungsmusikszene war in diesen Jahren international, und so spielte Haentzschel in Den Haag mit einer Band unter Leitung des Schlagzeugers Henk Schoep (der sich Harry Shibb nannte) mit zwei amerikanischen Bläsern, trat in Paris mit einem Tango-Orchester auf oder begleitete in Berlin Kabarett-Abende. Ab Mitte der 1920er Jahre begann er sich stärker an amerikanischen Vorbildern zu orientieren, dem Saxophonisten Frank Trumbauer etwa oder dem Pianisten Arthur Schutt. Er spielte in Tanz- und Salonorchestern zwischen Trio- und Zwölf-Mann-Stärke, deren andere Musiker aus ganz Europa kamen. In den 1930er Jahren schließlich war Haentzschel vor allem als Pianist der Goldenen Sieben aktiv, schrieb Filmmusiken und wurde zum musikalischen Leiter des Deutschen Unterhaltungsorchesters bestellt.34

Der Klarinettist Eric Borchard (geb. 1886), um ein drittes Beispiel zu erwähnen, hatte seine musikalische Karriere bei den Dresdner Philharmonikern begonnen, war dann – die Experten sind sich nicht ganz sicher, ob bereits vor oder erst nach dem Ersten Weltkrieg – in New York aktiv, und kehrte noch vor 1920 nach Deutschland zurück. Hier gründete er die Eric Concerto’s Yankee-Jazz-Band, mit der er bereits im Oktober 1920 mehrere Titel aufnahm. Auch andere Musiker der Zeit nahmen unter Bandbezeichnungen auf, die glauben machen sollten, sie seien Engländer oder Amerikaner. Herbert Fröhlich etwa trat anfangs als O. A. Evans, dann als Herbert Glad auf. Etliche Musiker benutzten anglisierte Künstlernamen, um Authentizität zu suggerieren. Es dauerte noch eine Weile, bis die Tanzmusik hierzulande sich einen eigenen Ruf erspielt hatte, der es erlaubte, Aufnahmen auch unter deutschem Namen herausbringen zu lassen. Borchard spielte Klarinette und Tenorsaxophon, und seine frühesten Aufnahmen klingen stark nach Varietémusik à la Ted Lewis und Art Hickman, wie er sie sich bei seinen frühen USA-Besuchen abgeschaut haben mag. Auch seine Bühnenshow orientierte sich klischeebeladen an den amerikanischen Vorbildern, wie sich in Fritz Langs Stummfilm Dr. Mabuse. Der Spieler von 1922 erkennen lässt, in dem Borchards Quintett (mit Klavier, Banjo, Geige und Schlagzeug) zu sehen ist. Der Bandleader hatte Kontakte zu amerikanischen Kollegen geknüpft und konnte den damals in London lebenden Posaunisten Emile Christian aus New Orleans für sein Ensemble gewinnen, der seit 1918 zwei Jahre lang der Original Dixieland Jazz Band angehört hatte.


Eric Borchard und seine Jazzband, um 1922/23

Borchard wird gern als der erste wirkliche Jazzmusiker in Deutschland genannt, und seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 gehören auf jeden Fall zu den ersten Beispielen, die belegen, dass Musiker nicht nur die vordergründigen Eigenschaften, sondern auch ein wenig vom Geist des Jazz verstanden hatten. Im Januar 1924 interviewt ihn der Korrespondent des New York Herald, dem Borchard erklärt: »Es ist wahr, die Deutschen tun sich schwer damit, diese komplexen amerikanischen Synkopen zu lernen.« Während andere Musiker ihr Wissen um den Jazz aus Noten bezogen, war es für Borchard am wichtigsten, dass seine Musiker Jazz von Platten lernten. »Der Schlagzeuger, der Posaunist und all die anderen müssen genau zuhören und auf ihren Instrumenten der Platte eine Stunde jeden Tag folgen, damit ihnen in Fleisch und Blut übergeht, was Synkopen wirklich bedeuten.« Als Resultat, rühmt er sich, habe er in seiner Band das Expertenwissen, für das die klassischen Musiker in Deutschland bekannt seien, und zugleich ein Wissen um all die Dinge, die wirklich guten Jazz garantierten.35

Seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 zeigen, dass er nicht übertrieb. »Aggravatin’ Papa« etwa stammt vom Oktober des Jahres, und wurde damit nur anderthalb Jahre aufgenommen, nachdem Bessie Smith dieses Stück eingespielt hatte. Eher als Smith scheinen Borchard und seine Musiker aber einer Aufnahme der Original Memphis Five vom Januar 1923 gelauscht zu haben, wie zumindest der generelle Klang der Band mutmaßen lässt, der dem jenes Quintetts sehr nahekommt. Emile Christian spielt ein phänomenales Solo, und das Erstaunlichste ist vielleicht, dass die anderen Soli neben ihm nicht völlig abfallen. Borchard, der drogensüchtig war, wurde 1931 wegen Totschlags zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem er in Saarbrücken versucht hatte, einer Freundin, die eine Überdosis Schlafmittel genommen hatte, den Magen auszupumpen, wobei sie erstickte. 1932 war er noch einmal im Studio, ging dann nach der »Machtergreifung« der Nazis nach Holland, wo er im Juli 1934 wahrscheinlich an einer Überdosis Drogen starb.

Borchards Musik räumt mit dem Klischee auf, dass Musiker in Europa den Jazz nicht verstanden hätten. Sein Statement im New York Herald zeigt, dass Musiker hierzulande durchaus die Qualitäten der oralen Überlieferung begriffen hatten, die den Jazz und die afro-amerikanische Musik prägten. Er wusste um das Problem der Rhythmik, und er wusste, dass Improvisation für europäische Musiker schwer zu erlernen war. So erstaunt es nicht, dass Emile Christian nicht der einzige amerikanische Musiker blieb, der über die Jahre in seiner Band mitwirkte. In der zeitgenössischen Presse aber machte Borchards Sucht nicht weniger Schlagzeilen als seine Kunst. »Seiner Musik«, schreibt etwa ein Berichterstatter nach dem Saarbrücker Gerichtsprozess, der in seinen Auftritten seine Drogensucht durchzuhören meint, »haftet etwas Wildbizarres an, das die Menschen lockt, ohne daß sie die Gründe für diese krankhafte Interessantheit der Musik des Jazzkönigs kennen. Dabei klingen aus den wilden Rhythmen der Kapelle bereits die düsteren Töne eines Todesjazzes.«36 Borchard war aber gewiss eine Ausnahmeerscheinung. Reisen bildet – auch musikalisch –, aber nur wenige andere Musiker hatten die Chance, Jazz, oder zumindest Vorformen dessen, was bald zum Jazz werden sollte, in seinem Ursprungsland kennenzulernen. Tatsächlich brauchte es dafür, sofern man sich über den Atlantik begab, ja nur offene Ohren, wie kein Geringerer als der tschechische Komponist Antonín Dvořák in den 1890er Jahren bewiesen hatte, als er an der Manhattan School of Music unterrichtete und seine amerikanischen Schüler aufforderte, sie sollten sich die Melodien der amerikanischen Ureinwohner und die geistlichen Gesänge der schwarzen Bevölkerung zu Gemüte führen und darauf eine eigene amerikanische Musiksprache aufbauen. Hierzulande jedenfalls wurden Borchard und andere Jazzmusiker gern als »Musikclowns« beschrieben, und diese Zueignung galt nicht nur ihren Bühnenkostümen oder Instrumenten, sondern zuvörderst der Tonbehandlung und den scheinbar akrobatisch-waghalsigen Experimenten, auf die sie sich einließen.



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