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Kolonialismus, Exotismus und die Fisk Jubilee Singers

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Europa war sich ja schon länger bewusst gewesen, nicht allein auf der Welt zu sein. Der Kolonialismus hatte dazu geführt, dass Europäer Kenntnis vom Fremden erhielten – von fremden Menschen, fremden Völkern und fremden Kulturen. Es gab eine regelrechte Mode, dieses Fremde, das aus der sicheren Entfernung lange Zeit als exotisch-spannend wahrgenommen wurde, zu romantisieren. In der Bildenden Kunst, der Literatur und der klassischen Musik Europas hatten sich im 19. Jahrhundert ganze Stilrichtungen ausgebildet, die auf das Exotische reagierten und Außereuropäisches bereitwillig rezipierten und aufgriffen. Paul Gauguins Bilder aus Martinique und Tahiti aus den 1890er Jahren gehören zu den bekanntesten Beispielen dieses Exotismus. Der persische Dichter Omar Chayyām aus dem 11. Jahrhundert faszinierte viele Intellektuelle im 19. Jahrhundert und wurde berühmt. In seiner Dichtung und in anderen Kunstwerken entdeckten Europäer das Fremde aus einer romantisierenden Distanz der künstlerischen Erinnerung. In der Musik gab es diese Faszination durch Menschen insbesondere schwarzer Hautfarbe sogar schon früher, nämlich bereits im 17. und 18. Jahrhundert, als schwarze Musiker vielfach an den Höfen Europas auftraten.5

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm das allgemeine Interesse zu, die Exotik des Fremden auch direkt zu erleben. Afrika mag im Fokus dieses Interesses gestanden haben, doch wurde in der öffentlichen Wahrnehmung nicht weiter differenziert, als mit den Fisk Jubilee Singers 1873 die erste afro-amerikanische Gesangstruppe nach Europa gelangte. Das A-Cappella-Ensemble setzte sich aus Studierenden der Fisk University in Nashville, Tennessee, zusammen, einer der ersten schwarzen Universitäten der Vereinigten Staaten. Eigentlich waren die Konzerte des Chors Benefizveranstaltungen für die Hochschule, und tatsächlich brachte die erste Tournee durch die Vereinigten Staaten 40 000 Dollar für die Alma Mater der Sängerinnen und Sänger ein. Die erste Europatournee führte den Chor 1873 nach England, wo sich selbst Queen Victoria begeistert von der Interpretation afro-amerikanischer Spirituals zeigte.


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Eigentlich war die hingebungsvolle Interpretation der Negro Spirituals, die die Fisk Jubilee Singers in ihren Konzerten zum Besten gaben, bereits genug, um das Publikum zu begeistern. Als im Herbst 1877 Konzerte in Deutschland anstanden, waren aber selbst die erfahrenen Sänger des Ensembles nervös: »Wie man weiß, hängt der Erfolg in Deutschland von der Qualität des Gesangs ab«, wusste der Bassist Harriet Loudin. Am 4. November 1877 traten sie vor Queen Victorias erster Tochter und dem deutschen Kronprinzen und kaiserlichen Thronfolger in Potsdam auf, und im Lauf des Konzerts tauchte selbst Kaiser Wilhelm I. auf, der sich vor allem darüber erfreut zeigte, dass alle Sänger Christen waren.6 Bis zum Juli 1878 war das Ensemble in Deutschland unterwegs, 68 Konzerte in 41 Städten in 98 Tagen, nicht mitgerechnet die unzähligen Auftritte in Kirchen, Hotels und Privathäusern.7 Es trat vor Fürsten genauso auf wie in einfachen Theatern. In Darmstadt spielte es vor der zweiten Tochter Queen Victorias, die hier als Großherzogin wirkte, sowie ihrem Bruder Bertie, dem Duke of Wales und späteren König Edward VII., und ihrem Sohn George, dem späteren König George V.8 Die Reaktionen von Publikum und Presse waren überwältigend. Dabei wurden die Ernsthaftigkeit und Spiritualität des Gesangs genauso gelobt wie die schlichten Kostüme, die den Auftritten noch mehr an Würde verliehen haben sollen. In den 1890er Jahren und dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kamen spätere Besetzungen der Jubilee Singers (auch unter anderem Namen) zurück nach Europa, jetzt oft nicht mehr in Chor-, sondern in Männerquartett-Besetzung, und eroberten, in Frack und mit Fliege, die Konzertsäle.



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