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Die Goldenen Zwanziger – das Jazz-Zeitalter
ОглавлениеMit der Einführung der Rentenmark Ende 1923 und der Reichsmark im Sommer 1924 war die Inflation dieser Jahre beendet. Ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung Deutschlands konnte beginnen, und dieser Aufschwung erfasste auch die Kultur maßgeblich, die bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 das populäre Gesicht der »Goldenen Zwanziger« sein sollte.
Berlin also war der hauptsächliche Schauplatz dieses ersten deutschen Jazzjahrzehnts. Hier gab es genügend Theater, Cabarets und Ballsäle; hier gab es reichlich Arbeit für Musiker in Revuen und Shows; hier waren die wichtigsten Plattenfirmen zu Hause; hier fand man ein neugieriges, aufgeschlossenes und vergnügungsfreudiges Publikum.
Berlin war mit mehr als vier Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas, ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost und West, besaß mehrere Opernhäuser, über 40 Theater, unzählige Clubs, Tanzlokale und Varietés. Mehr noch als in anderen Metropolen Europas stand der Jazz in Deutschland dabei für eine durchaus nicht nur negativ bewertete Dekadenz, für die Abkehr vom Althergebrachten, für eine ungewisse Zukunft. Klaus Mann beschreibt all dies in seinem Lebensbericht Der Wendepunkt:
Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte Studienräte (völlig unabgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die ›Girls‹ der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. […] Ein geschlagenes verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar, wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. Die Symptome der Jazz-Infektion, die Zeichen der hüpfenden Sucht lassen sich im ganzen Land bemerken; am gefährlichsten betroffen aber ist das schlagende Herz des Reiches, die Hauptstadt.48