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Großvater Chen Lechuan

Mein Großvater väterlicherseits, Chen Lechuan, wurde 1891 in Xuzhou geboren, in einer Zeit des Umbruchs und der Kriegswirren. Der junge Kaiser Guangxu wollte das Land, das wegen seines trägen Verwaltungssystems im Vergleich zu anderen Ländern ins Hintertreffen geraten war, nach westlichem Vorbild reformieren. Per Dekret setzte er eine von Kang Youweix und Liang Qichaoxi geleitete Reform durch, die leider nur von kurzer Dauer war. Weil die Reform nicht nur das Bildungswesen, die Militärausbildung und das Prüfungssystem, sondern auch den Abbau der Bürokratie beinhaltete, wollten die Mandarine diese nicht mittragen. Die Kaiserinwitwe Cixi, die unter dem Einfluss der konservativen Kreise der Bürokraten und Mandarine stand, ließ daher den Kaiser Guangxu internieren, seine Anhänger verhaften und regierte das Land mit der Unterstützung des Militärs. Mein Großvater war also ein Überlebender der letzten Qing-Dynastie unter der Regentschaft der Kaiserinwitwe Cixi und der ihr folgenden schrecklichen Zeit des Bürgerkrieges unter den Landlords.

Moderne Schulen nach westlichem Vorbild hatte mein Großvater nicht besucht. Sein Vater hatte ihn in eine private Einklassenschule mit nur einem einzigen Lehrmeister geschickt, wo traditionell nur die chinesischen Klassiker gelehrt wurden. Seine Bildung war deshalb auf diese Klassiker beschränkt. Nachdem er die kanonisierten „Vier Bücher“xii und „Fünf Klassiker“xiii auswendig gelernt hatte, galt er als absolviert und ging anschließend zu einem Buchhändler in die Lehre, der auch mit südländischen Waren handelte. Er selbst hat mir nie erzählt, was man als Lehrling in einer Buchhandlung lernte. Aber wie ich von meiner Großmutter erfuhr, verbrachte mein Großvater die ersten Lehrjahre als billiger Hausdiener, der täglich dem Lehrmeister und dessen Familie die Nachttöpfe entleerte und reinigte, den Hof und den Laden putzte und die Kinder des Lehrmeisters hütete. Erst nach dem Bestehen dieser Knechtschaftsprüfung war der Lehrmeister gewillt, dem Lehrling etwas Handwerkliches wie das Rechnen mit dem Abakus sowie das Sortieren und Bestellen von Büchern beizubringen. Der Buchhandel erforderte damals ein umfangreiches Wissen, das man sich ohne Anleitung nicht aneignen konnte. Denn das Wissen über Bücher wurde seit eh und je mündlich weitergegeben, zumal dieses Wissen über Publikationen von einem Zeitraum von ungefähr 2000 Jahren echte Geheimtipps beinhaltete. Als Buchhändler musste man nicht nur die Klassiker, sondern auch all die Interpretationen aus verschiedenen Dynastien auswendig lernen. Als die Revolution 1911 das Kaiserreich beerdigte und den Konfuzianismus zum „Gegenstand der Zerstörung“ deklariert hatte, wurde das Wissen über die alten Bücher auf einmal überflüssig. Denn die Revolution verlangte neue wissenschaftliche Bücher aus dem Westen. So wurde Konfuzius und dessen Lehre durch Adam Smith, Charles Darwin und Karl Marx ersetzt. Mein Großvater machte sich irgendwann selbstständig und gründete seine eigene Buchhandlung. Seine schnelle Reaktion auf diese neuen Zeiten machte ihn nicht nur zu einem modernen Buchhändler, sondern auch zum wohlhabendsten Mann des Westends von Xuzhou.

Er handelte allerdings nicht nur mit modernen Büchern, sondern hatte auch viele Raritäten und Einzelausgaben gesammelt. Wie sehr es ihn geschmerzt haben muss, als Maos Revolutionäre während der politischen Kampagne der Vermögenskonfiszierung den Hof und seine Wohnung durchsuchten und sechs Lastwagen voller Bücher in Wert von Millionen Yuan stahlen – darunter auch sehr seltene Bambus-Lamellen-Ausgaben der Lunyuxiv und Zhanguocexv – , hat er nie artikuliert. Ich erinnere mich nur noch daran, wie er, solange er lebte, stundenlang einige zerfetzte, mit Fäden geheftete Bücher anstarrte, die immer auf dem Bett neben seinem Kopfkissen lagen. Oft hörte ich ihn sagen, dass er die Bücher dem Museum hätte spenden sollen.

Mein Großvater war ein Mann der alten Schule. Er konnte zu jeder Gelegenheit einen oder mehrere passende Verse aus den fünf Klassikern rezitieren, aber nicht erklären, wie Weitsichtigkeit bei älteren Menschen entsteht und warum eine Brille dann hilfreich ist. Er konnte sich auch nicht erklären, warum Stahl härter und tragfähiger als Holz ist. Ihm genügte die Tatsache, dass Stahl härter ist. Da er nie eine moderne Schule besucht hatte, wusste er von Physik, Chemie und Biologie so gut wie nichts. Dafür brachte er mir bei, nicht nur die Poesie des Buches Shi Jing zu bewundern, sondern es auch immer moralpolitisch zu interpretieren. Die Lyriksammlung von 300 Liedern sei eine Sammlung von wenigen Wörtern, aber von größter Bedeutung, weil sie von der Vergangenheit handelten, aber die Gegenwart parodierten. Es war nicht ungefährlich und auf jeden Fall politisch geradezu selbstmörderisch, Kindern klassisches Chinesisch beizubringen, weil die Kommunisten die alten Kulturen und Sitten verboten hatten. Mein Großvater war aber der Meinung, dass man im Leben nichts gelernt hätte, solange man Das Buch der Liederxvi nicht auswendig konnte. Er verteidigte Konfuzius auch zu der Zeit, als der „Große Führer“ Mao Zedong diesen und Lin Biao namentlich zusammen diskreditierte und ihr Bild beschmutzte.

Als Buchhändler verkaufte er Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, die ihm Umsatz und Gewinn brachten. Die Auswahl der Bücher zeichnete auch seine kaufmännische Fähigkeit aus, immer den richtigen Riecher für die Zeit und die jeweilige Mode zu haben. In seiner Buchhandlung gab es immer die Bücher von allen Autoren, sowohl von den royalistischen, den nationalistischen als auch den kommunistischen. Und es wurde ihm später hoch angerechnet, dass er bereits kommunistische Bücher verkauft hatte, als diese von der Kuomintang-Regierung bereits verboten worden waren.

Sein Geschäft erlitt einen heftigen Umsatzeinbruch, als die Japaner Xuzhou besetzten. Unter der sogenannten „Ostasiatischen Wohlstandserziehung“ war auf einmal nur noch der Verkauf von pro-japanischen Büchern erlaubt. Und in der Schule durfte aufgrund der Appeasement Politik nur Japanisch unterrichtet werden. Denn in der damaligen Vorstellung des Panasiatismus wurden die Japaner als Retter Asiens gepriesen. Die Nationen Asiens könnten sich vom europäischen und amerikanischen Kolonialismus und der weißen Vorherrschaft nur befreien, wenn sie sich Japan zum Vorbild nehmen würden, den japanischen Kaiser und die japanischen Militaristen akzeptierten und mit ihnen Seite an Seite kämpften. Auch aus dem Radio ertönten ununterbrochen nur noch pro-japanische Parolen. Mit nationalistisch-republikanischen Büchern zu handeln war verboten, und so kam es, dass der Bücherumsatz in den acht Besatzungsjahren vollständig zum Erliegen kam, so dass meine Großeltern mit ihren drei Kindern mehr oder weniger nur noch vom Verkauf von Schreibwaren lebten. Die von der pro-japanischen Marionettenregierung verordnete Ideologie der großostasiatischen Wohlstandssphärexvii verlangte von jedem bedingungslose Ergebenheit gegenüber den Besatzern und die Anerkennung der japanischen Vorherrschaft.

Mein Großvater war, wie viele Geschäftstreibende und Intellektuelle der Stadt, keineswegs einverstanden mit der Besatzungsmacht und der Appeasement Politik des Marionettenregimes. Xuzhou war in der Geschichte niemals von Fremden kolonialisiert worden, und die „Befreier der Asiaten“ traten selbst als Ausbeuter auf. Denn Xuzhou war nicht nur der wichtigste Eisenbahnknotenpunkt in China, sondern auch eine wichtige Eisen-, Stahl- und Bergbauindustriestadt. Die reichen Vorkommen von Steinkohle und Eisenerz waren der eigentliche Grund des japanischen „Befreiungskrieges“. Und so wurden die kostbaren Ressourcen von Xuzhou von den japanischen Besatzern jahrelang geplündert. Mein Großvater verlegte daher auf eigene Kosten Bücher chinesischer Autoren und Untergrundkämpfer, die sich der Gewaltherrschaft der Aggressoren widersetzten. Er druckte auf eigene Rechnung und mit Unterstützung anderer Gleichgesinnter die anti-japanischen und gegen den Bürgerkrieg gerichteten Bücher der links-progressiven Autoren aus der von Lu Xun herausgegebenen „Buchkollektion für Sklaven“ nach und verteilte diese kostenlos unter dem Ladentisch. Er kaufte auch verbotene Bücher aus der kommunistischen Zone im nordwestlichen Hinterland und reichte sie an aufgeschlossene Jugendliche weiter. Als die Nationalfront gegen japanische Invasoren nach dem Zwischenfall von Xi´an gebildet wurde, organisierte mein Großvater Lebensmittel, Verbandsmaterial und Medikamente, vor allem aber Propagandamaterialien für die neue vierte Armee der National Revolutionary Army, die einen Guerillakrieg gegen die Japaner im Hinterland rings um Xuzhou führte.

Da Chinesisch in der Schule nicht unterrichtet wurde, wollten die Eltern ihren Kindern zuhause das Chinesische beibringen. So verlegte mein Großvater trotz Verbot die Drei (Wort-Fibel)xviii, Hundert (Familiennamen)xix, Tausend (Worte-Aufsatz)xx und Tausend (Dichter-Verse), die in China seit eh und je als Bücher der Aufklärung dienten. All die patriotischen Aktivitäten trieben ihn in den wirtschaftlichen Ruin, doch vertrat er den Standpunkt, dass Geld ihm nichts nütze, solange das Land von Fremden besetzt werde. Finanzielle Hilfe bekam er nur von den beiden ausländischen Kirchen in Xuzhou.

Als der Krieg um Xuzhou, das im Zentrum der Kampfhandlungen lag, ab 1938 immer heftiger wurde, sammelten sich dort die Flüchtlinge aus allen angrenzenden Gebieten in der Stadt. In der christlichen Peizheng-Mittelschule, in der evangelischen Kirche und in allen amerikanischen Einrichtungen wurden Abertausende Menschen aufgenommen. Zusammen mit den Browns, einem Pastorenpaar, und mit den Missionaren der amerikanischen presbyterianischen Kirche in Xuzhou organisierte mein Großvater Lebensmittel und Hilfsgüter, sammelte Spenden bei der Bevölkerung und versuchte tatkräftig, die Leiden der Menschen zu lindern. Er publizierte auch religiöse Texte für die amerikanische und die römisch-katholische Kirche und Illustrationen für den Missionarsdienst.

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