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„Raketenschießen“

Waren die Zeiten um meine Geburt völlig verrückt? Warum hatte mein Vater 1962 seine Beamtenstelle gekündigt und ein einfacher Mann des Volkes sein wollen? Ich versuche, diese Zeit der persönlichen Fehde zwischen Mao und Liu und der daraus resultierenden Anti-Liu-Deng-Bewegung zu skizzieren.

1963, im Jahr meiner Geburt, war der Konflikt zwischen den Kommunisten Chinas und der Sowjetunion eskaliert, weil chinesische Kommunisten die sowjetische Partei unter der Führung von Nikita Chruschtschow als Revisionistenbande bezichtigten und deren kritische Haltung gegenüber Josef Stalin als Anti-Marxismus und Anti-Leninismus werteten. Die sowjetischen Arbeitskollegen meines Vaters und Helfer Chinas zogen zurück in ihr Land. Russisch wurde ab sofort in der Schule nicht mehr gelehrt. Sowjetunion wurde ein Schimpfwort und der Name Chruschtschow genauso unpopulär wie die amerikanischen Imperialisten. Der Kampf zwischen Nikita Chruschtschow und Mao Zedong um den Führungsanspruch in der kommunistischen Bewegung endete in diesem Jahr in einer öffentlichen Feindschaft. Mein Vater sagte mir, dass ein Grund für seine Kündigung ein Buch gewesen sei, das die Politik der Sowjetunion kritisierte. Das Buch, geschrieben von zwei japanischen Überseestudenten in Moskau, Shintani Akeo und Adachi Shigeo hatte den Titel „Ist die Sowjetunion ein sozialistisches Land?“. Chruschtschow wurde darin beschuldigt, einseitig den wirtschaftlichen Aufbau des Landes zu beschwören, soziale Ungleichheiten zu befördern und eine neue Arbeiteraristokratie zu etablieren. Er rehabilitiere die kapitalistische Produktionsweise, indem er Gratifikationen und Geldprämien eingeführt habe. Auch die Entspannungspolitik zwischen Chruschtschow und den USA wurde als revisionistisch und anti-stalinistisch interpretiert. Dieses Buch war in China das einzige übersetzte Werk in den 1960er-Jahren, das man in der Xinhua-Buchhandlung kaufen konnte.

Was in dem Buch an der Sowjetunion unter Chruschtschow kritisierte wurde, entsprach genau den Tatsachen in China. Die Kritik an Chruschtschow war eine boshafte Anspielung auf die Politik von Liu Shaoqi. Damals, kurz nach der Hungerkatastrophe gab es von 1963 bis 1965 eine kurze Zeit der Entspannung. Staatspräsident Liu Shaoqi führte die Privatwirtschaft wieder ein, erlaubte den freien Handel und vergab Geldprämien an Arbeitswillige. In China keimte die Hoffnung, dass der Wechsel der Politik durch Liu Shaoqi Früchte tragen würde und die Wirtschaft Chinas sich erholen könnte. In den 1950er-Jahren hatte es noch eine Art freundschaftlichen Wettbewerb zwischen der Sowjetunion und China gegeben: Während Mao Zedong sich zum Ziel gesetzt hatte, England innerhalb von 15 Jahren wirtschaftlich einzuholen, wollte die Sowjetunion innerhalb von 15 Jahren die USA überflügeln. Aber wie schon erwähnt, war „Der Große Sprung nach Vorn“ in China kläglich gescheitert und hatte 36 Millionen Chinesen das Leben gekostet. Die Sowjetunion unter Chruschtschow zweifelte angesichts dieser ungeheuren Verluste und dem Personenkult nach Stalins Vorbild an Maos Fähigkeit, die kommunistische Bewegung tatsächlich führen zu können. Der „Große Führer“ war daraufhin beleidigt, beschimpfte die Sowjetunion als Revisionistenbande und setzte die UdSSR in seiner Rhetorik den amerikanischen Imperialisten gleich. Die UdSSR galt von nun an als Feind des chinesischen Volkes. Vor diesem Hintergrund wurde das Buch übersetzt und veröffentlicht. In dem Buch witterte mein Vater schon die kommende Revolution, die auch den Staatspräsidenten Liu Shaoqi und seine Führungsriege auf brutale Weise vernichtete. Mao schrieb selber Artikel für die Volkszeitung, in denen er Mao Zedongs Ideen – also seine eigenen – denen von Marx, Engels, Lenin und Stalin gleichsetzte und den chinesischen Revisionismus offen kritisierte. Die entspannende und friedensstiftende Haltung des Staatspräsidenten Liu Shaoqi gegenüber den USA, der UdSSR und Anrainerstaaten wie Indien, dessen Forderung nach einer Verbesserung der Versorgung durch die Zulassung von privater Wirtschaft, der Exportstopp von Hilfsgütern an sozialistische Bruderstaaten, all das war Mao zuwider. Er beschwor daher Feindbilder herauf und suchte den Krieg gegen „Imperialisten“ aller Art, der seiner Meinung nach unausweichlich war, obwohl Lius Entspannungspolitik gegenüber der UdSSR und den USA China eine Atempause verschafft hatte. Liu empfahl der Partei unbedingte Zurückhaltung hinsichtlich der Behauptung, dass ein Krieg unausweichlich wäre. Nach innen betrieb Liu eine pragmatische Wirtschaftspolitik, basierend auf einer individuellen Festsetzung von Produktionsquoten der einzelnen Haushalte und lehnte Volkskommunen und „das große Essen aus einem Topf ohne Rücksicht auf Leistung“ ab. Seit 1962 war es den Bauern erlaubt, Privatparzellen eigenverantwortlich zu bewirtschaften und ihre Produkte auf dem freien Markt zu verkaufen. Das empörte den „Großen Vorsitzenden“, der jegliche Privatwirtschaft und den freien Markt als puren Kapitalismus ablehnte. Mein Vater war erfahren genug, um daraus den Schluss zu ziehen, dass Mao Liu sehr bald absetzen würde.

Natürlich war das Buch nicht der Hauptgrund für seine Kündigung gewesen, sondern allenfalls der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Mein Vater hatte sich das neue China anders vorgestellt, konnte nicht mehr mithalten mit den ununterbrochenen politischen Kampagnen und der Behandlung der Menschen, die wie Unkraut vernichtet wurden. Eine Enttäuschung folgte auf die nächste. Freunde und Kollegen aus der Sowjetunion von heute auf morgen zu verlieren, schockierte ihn, zumal die Sowjets dem Land durch vorbehaltlosen Technologietransfer und ohne fiskalische Berechnung echte Hilfe geleistet hatten. Unter Sozialismus hatte Mao vor allem eines verstanden: den Aufbau einer Schwerindustrie. Und so hatte er mithilfe der sowjetischen Experten überall im Land Fabriken für Maschinenbau, Metallurgie und chemische Düngemittel errichtet. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in den landwirtschaftlichen Kolchosen waren die sowjetischen Helfer allgegenwärtig gewesen. Als Administrator für Propaganda und Nachrichten hatte mein Vater naturgemäß viel mit den Sowjets zu tun gehabt. Dank seiner in der Schule und an der Universität erworbenen russischen Sprachkenntnisse war er Ansprechpartner und zugleich Freund der Russen in der Provinzhauptstadt Xining gewesen. Auch als Leiter des Rundfunkorchesters hatte er viele Freunde unter den sowjetischen Experten, für die er musikalische Abende und auch Tanzpartys organisierte. Er wiederum lernte durch die sowjetischen Kollegen und Pädagogen die Werke von Majakowski und Gorki und die Musik von Schostako-witsch und Prokofjew kennen. Für ihn war die sozialistische Freundschaft mit den Sowjets eine echte Bereicherung gewesen. Umso mehr fühlte er sich von dem plötzlichen Bruch mit Moskau getroffen, der ihm gänzlich unverständlich war.

Was eigentlich hatte zu dem Bruch mit Sowjetunion geführt? Nach Stalins Tod im Jahr 1953 waren alle froh darüber, dass Chruschtschow dessen Kurs korrigierte und dem unsäglichen Personenkult um den Diktator ein Ende setzte. Die Entstalinisierung führte zu einer spürbaren Entspannung im Alltag der Menschen. Und als mein Vater 1956 als frisch gebackener Volkswirt in Xining, der Hauptstadt der tibetischen Provinz Qinghai, ankam, wehte die berühmte Rede von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU wie eine milde Frühlingsbrise nach China herüber. Nur Mao war mit der Entstalinisierung nicht einverstanden. Er sah dadurch seine eigene Position gefährdet. Nach seiner Verkündigung des „Großen Sprungs nach vorn“, der zu einer katastrophalen Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt hatte, war die allgemeine Stimmung im Land ohnehin eher ungünstig für ihn, so wie die Stimmung in der Sowjetunion in den letzten Jahren ungünstig für Stalin gewesen war. Also zettelte Mao eine Anti-Chruschtschow-Kampagne an und ersann 1963 auch noch die „Bewegung der vier Säuberungen“. Diese Säuberung war zwar vordergründig eine Gehirnwäsche durch sozialistische Erziehung, zielte tatsächlich aber auf eine Machtkonsolidierung durch Säuberungen in der eigenen Führungsriege ab. Der Vorsitzende Mao war davon überzeugt, dass Feinde in seiner Partei angesichts des Scheiterns des „Großen Sprungs nach vorn“ mit sowjetischen Genossen sympathisierten. Er wusste auch, dass zahlreiche Funktionäre im Mittelbau der Partei dem Weg Chruschtschows folgen wollten. Also beschwor Mao Gewalt und Hass herauf, indem der die Menschen gegeneinander aufhetzte und das Proletariat dazu aufforderte, ehemalige Dienstherren und -herrinnen sowie die inzwischen enteigneten Großgrundbesitzer und die Bürokraten als „revisionistische Mächte“ zu vernichten. Mein Vater war zutiefst verwirrt. Auch wusste er nicht, woher er den Mut nehmen sollte, um zu lügen und zu betrügen. Denn er hatte nun einmal die Aufgabe, Propaganda für die Partei zu betreiben. Sein Gewissen sagte ihm jedoch, dass Mao im Unrecht war. Zugleich wusste er, dass er gegen dieses Unrecht nichts unternehmen konnte. Daher machte er krank und verkroch sich lieber zuhause, statt die Menschen darüber zu belehren, dass der maoistische Klassenkampf „täglich, monatlich und jährlich wiederholt werden“ müsse. Er hatte das Telegramm aus Peking noch genau in Erinnerung, in dem stand, dass Mao sich wünschte, fünf Prozent Revisionisten in allen Regierungsämtern auszumachen. Die Quote stand wieder einmal fest. Mein Vater wusste, dass fünf Prozent der Kollegen ihr Leben verlieren würden. Das ließ seine Wut und Enttäuschung derart überschäumen, dass er stundenlang schrie, wenn er alleine war. Ihm war endgültig klargeworden, dass der Sozialismus gescheitert war. Mein Vater hatte an der heutigen Landwirtschaftlichen Universität von Nanking Volkswirtschaftslehre nach sowjetischem Muster studiert. Das Studium hatte jedoch nichts mit seiner späteren Arbeit zu tun. Ganz abgesehen davon hätte er viel lieber Musik studiert, weil er bereits in der ersten Mittelschule von Xuzhou musikalisch sehr aktiv gewesen war. Er hatte dort alle musikalischen Aktivitäten der Schule organisiert, das Orchester geleitet und Konzerte dirigiert. Er spielte fantastisch Erhu, ein zweisaitiges, mit dem Bogen gestrichenes Instrument, er hatte eine sehr schöne Singstimme und konnte westliche und chinesische Notensysteme gegenseitig übertragen. Sein musikalisches Talent und sein exzellentes Gehör baute er ohne speziellen Musikunterricht und nur mithilfe von theoretischem Wissen aus Büchern aus, das er sich selbst angeeignet hatte. Auch an der Universität in Nanking war er seinen musischen Interessen nachgegangen, komponierte Lieder, verfasste Dramen und choreographierte Tänze. Er tat all das, wozu ein Volkswirt normalerweise nicht imstande war. Nach seinem Abschluss im Jahr 1956 wurden alle Absolventen der Hochschule nach der landesweiten Planung zum Aufbau des Sozialismus in die Grenzprovinzen Qinghai, Ningxia, Gansu, Yunnan, Tibet und in die Mongolei geschickt. So kam mein Vater nach Xining, in die Hauptstadt der tibetischen Provinz Qinghai, wo er einen Arbeitsplatz im örtlichen Statistikamt bekam. Sehr bald schon wurde er aufgrund seiner Kenntnisse in Fotografie, Komposition, Malerei und Dichtung dazu delegiert, die Propaganda für das Qinghai-Provinzkomitee der KPCh zu organisieren und auszuführen.

Als junger Mann fühlte er sich dadurch sehr geadelt. Geleitet vom Ideal des „Großen Sprungs nach vorn“ machte er sich voller Begeisterung für Mao und die Partei ans Werk. Er komponierte das berühmte Motivationslied „Ein Tag gleicht zwanzig Jahren“, gründete ein Rundfunkorchester und einen Chor und organisierte die alljährliche Ausstellung der sozialistischen Errungenschaften von den drei westchinesischen Provinzen. Der Wunsch des großen Führers war allen Parteifunktionären Befehl. Und als Mao den Ertrag von 10 000 Jin pro Mu (1 Jin entspricht 500 Gramm, 1 Mu 666 Quadratmetern) zum Ziel der Getreideproduktion proklamierte, fälschten die Funktionäre der unteren Ebenen pflichtschuldig die Pro-Mu-Erträge in ihren Berichten, die nach Peking geschickt wurden, um dem Wunsch des Führers zu entsprechen und Lob und politische Anerkennung zu erlangen. Wer den festgelegten Pro-Mu-Ertrag nicht schaffte, wurde abschätzig als Verlierer behandelt und degradiert. Der Wunsch des Führers berechtigte die Funktionäre irrsinnigerweise zum Lügen und zur Prahlerei, was im Volksmund lustigerweise „Raketenschießen“ genannt wurde. Wer die Zahlen wie Raketen in die Höhe schnellen ließ, der wurde hoch geachtet und von der Zentralregierung für seinen Fleiß gelobt. Lügen hatten auf einmal einen vermeintlich edlen Grund. Es war keine Seltenheit, dass der Pro-Mu-Ertrag mit mehreren zehntausend Jin angegeben wurde. Solche Meldungen wurden nie angezweifelt, sondern vielmehr als Beweis der sozialistisch-wissenschaftlichen Errungenschaft freudig angenommen und verbreitet. Am 29. August 1957 wurde die Provinz Qinghai vom Zentralkomitee der KPCh und ihrem Vorsitzenden Mao zur Modellprovinz und zum Vorbild für andere Provinzen auserkoren. Die Propagandaarbeit der Provinz Qinghai und die Beiträge meines Vaters wurden vom Staatsrat und dem damaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai persönlich gelobt. Zhou sagte sinngemäß: Es reicht nicht, dass wir den Sozialismus aufbauen wollen; er muss nach dem Prinzip – möglichst viel und schnell, gleichzeitig möglichst gut und sparsam – aufgebaut werden. „VIEL, SCHNELL, GUT, SPARSAM“, der Aufbau des Sozialismus wurde so zum Hauptthema der Propaganda. Es war keine leichte Aufgabe für meinen Vater, die vier Prinzipien zu erläutern. Wenn eine Arbeit gut gemacht werden sollte, durfte sie in der Regel nicht schnell erledigt werden. Weil schnell im Allgemeinen selten gut ist. Das gleiche galt auch für die Begriffe „viel“ und „sparsam“. Mein Vater umschrieb die vier Prinzipien so: Wir wollen möglichst viele sozialistische Ideale haben, die sozialistischen Ziele schnell umsetzen. Gleichzeitig sollen wir immer auf gute Qualität der Arbeit achten und sparsam mit den Ressourcen umgehen. Seine Umschreibung wurde von den Zeitungen übernommen und landesweit verbreitet. Die Umwandlung der sozialistischen Ideen in Produkte und Produktivität konnte allerdings nur durch eine gezielte Motivation der Menschen erreicht werden, das war den Funktionären klar. Daher wurden anfangs auch noch Leute und Arbeitseinheiten als Volkshelden gefeiert, die den Pro-Mu-Ertrag ganz offensichtlich gefälscht hatten. Mao rief die Menschen außerdem dazu auf, dem Geisterglauben abzuschwören und mutiges Denken, Reden und Kämpfen zu fördern. Mutiges Denken aber bedeutete nur mutiges Prahlen. Im August 1958 verkündete Liu Shaoqi, die Erde möge eine dem Mut der Menschen entsprechende Ernte hervorbringen: Mein Vater machte Fotos, schrieb Leitartikel darüber und gab mit seinem Orchester Lobeshymnen zum Besten.

Es muss eine total verrückte Zeit gewesen sein. Die Menschen hatten offensichtlich ihren Verstand verloren. Wissenschaft wurde als Aberglauben und rückständige Denkweise abgestempelt und aus den Köpfen verjagt. Die Prahlerei aber blieb nicht ohne Folgen. Sie hatte dazu geführt, dass der Staatsrat immer mehr Getreide requirierte und die staatlich festgelegten Abgabequoten rasant nach oben schnellten. Zhou Enlai rief aus, dass man stolz darauf sein sollte, mehr „patriotisches Getreide“ abgeben zu können; und man sollte sich schämen, wenn man weniger ablieferte. Die Ernten wurden nach folgendem Prinzip verteilt: Zuerst kam der Staat, dann kamen die Gemeinden, und zum Schluss durften die Bauern den Rest der Ernte behalten. Auf diese Weise entstand eine gefährliche Spirale mit fatalen Folgen für die Bauern.

Mit gefälschten Ertragszahlen versuchten also die Funktionäre auf allen Ebenen, selbst groß herauszukommen, obwohl jeder vernünftige Mensch wusste, dass die immer mehr in die Höhe schnellenden Quoten niemals erreicht werden konnten, zumal die staatlichen Abgabequoten auf der Grundlage der gefälschten Zahlen festgesetzt wurden. Also gingen die prahlerischen Funktionäre dazu über, die den Bauern zustehende Menge von Erzeugnissen zu unterschlagen und diese an die staatlichen Speicher abzuführen, um ihr eigenes Fehlverhalten zu vertuschen. Begeistert von den großartigen revolutionären Ernten landesweit, forderte Mao daraufhin 1958 die jährliche Verdoppelung der Ernte. Um sich bei Mao einzuschmeicheln und die eigenen Fähigkeiten in ein besseres Licht zu rücken, war in der Volkszeitung tatsächlich zu lesen, dass sich der Pro-Mu-Ertrag auf 120 000 Jin belief, dass die Schweine jetzt größer wären als Elefanten und dass große Erdnussschalen schon bald als Boote dienen könnten, um den Yangtze-Fluss zu überqueren. In ihrer Wahnvorstellung, die englische Wirtschaftsmacht sogar schon in sieben Jahren überflügeln zu können, verlangte die Zentralregierung in Peking immer mehr, sodass für die Menschen am Erzeugungsort nichts mehr übrig blieb. Sie verhungerten – schlicht und ergreifend.

Die Situation verschlimmerte sich noch, als Mao seine Stahl-Kampagne einleitete. Er wollte die Stahlproduktion Englands von 20 Millionen Tonnen überbieten, obwohl China 1957 de facto nur 4,8 Millionen Tonnen Stahl herstellen konnte. So forderte er in der Plenarsitzung von Beidaihe, dass der Stahlausstoß 1958 schon elf Millionen Tonnen betragen solle und in den darauf folgenden drei Jahren die 50-Millionen-Marke überschreiten müsse. Das sei von lebenswichtiger Bedeutung für die Volkswirtschaft und den Wohlstand des Volkes, es sei eine große Schlacht wie im Krieg zu schlagen. Alle Parteisekretäre der Provinzregierungen mussten nun den Arbeitsschwerpunkt von der Landwirtschaft auf die Industrieproduktion verlagern. Die Stahlproduktion sei jetzt die Schwerpunktindustrie, nachdem das Getreideproblem ja nun gelöst sei. Maos Worte klangen wie eine Drohung: „Jedes Unrecht hat einen Täter, jede Schuld einen Schuldner!“ Wenn die Aufgaben nicht erfüllt würden, müssten Disziplinarmaßnahmen verhängt werden. „Eisenharte Disziplin, nicht weicher Tofu.“ Man müsse Marx mit dem ersten Kaiser der Qin-Dynastie (einem besonders erfolgreichen, aber grausamen Kaiser) vereinen und den Sozialismus durch harte Bandagen stützen. Der Wunsch des „Großen Führers“ war wieder einmal Befehl. Sämtliche Provinzregierungen stellten nun Personal für das Stahlkochen ab, und das Getreide auf den Feldern wurde nicht mehr geerntet, weil Mao aufgrund der gefälschten Zahlen der Meinung war, dass es genug Getreide in den Speichern gäbe. Die Menschen mussten jetzt Stahl kochen, weil der Vorsitzende Mao von der Idee besessen war, dass China England nur einholen könnte, wenn der Ausstoß der Stahlproduktion jährlich um 100 Prozent erhöht wurde. Die „Große Stahlkoch-Kampagne“ ruinierte die ohnehin sehr schwache Volkswirtschaft Chinas nun endgültig. Es wurden Arbeitskräfte vergeudet, die man für den Getreideanbau dringend benötigt hätte. Millionen Hektar Wald wurden abgeholzt, um die nach ortsüblichen Verfahren manuell gezimmerten „Stahlöfen“ zu befeuern. Abermillionen Kochtöpfe und Kochgeschirr aus Metall wurden als Rohstoff geopfert, um die aberwitzigen Öfen zu füttern. Und mein Vater musste den Beschluss des Zentralkomitees der KPCh vom 30. August 1958 unter die Menschen bringen, dass nun 10,7 Millionen Tonnen Stahl zu produzieren waren. So schrieb er in der Zeitung über die schicksalhafte Bedeutung des Stahls für China und organisierte Modellaufführungen darüber, wie die Menschen gegenseitig ihre fachlichen Leistungen überprüfen und voneinander lernen konnten. Und er rief die Menschen dazu auf, der von Mao und dem Zentralkomitee gewünschten Richtung zu folgen. Es war nicht einfach, die Menschen dazu zu bewegen, ihre privaten Besitztümer aus Metall herzugeben. Viele verstanden nicht, wozu es gut sein sollte, bereits angefertigte Stahlutensilien wieder einzuschmelzen und Stahlbarren daraus zu machen. Mein Vater fragte seinen Chef, den Parteisekretär der Provinzregierung, ob man nicht auf die Kochtöpfe verzichten könnte, denn der dadurch gewonnene Stahl müsste doch letztendlich wieder für die Herstellung von Kochtöpfen hergenommen werden. Die einzige Antwort, die er bekam: Man müsse die staatlichen Abgabequoten erfüllen. Wurden die Quoten jemals erfüllt? Nein, nirgendwo im ganzen Land schaffte man die Erfüllung der Quoten. Stattdessen hatte man insgesamt 4,2 Millionen Tonnen Geschirr vernichtet und daraus wertlose Eisenschlacke hergestellt! Man glaubte wohl, dass man Stahl auf dieselbe Weise kochen könnte wie das beliebte Schweinefleisch in Sojasoße. Was man heute als komödienhafte Dummheit verlachen mag, wurde damals mit bitterem Ernst betrieben und endete in einer entsetzlichen Tragödie.

Nun zeigte sich die wahre Wirkung des „Raketenschießens“: Am 13. Mai 1960 musste mein Vater die der Sicherheitsbehörde vorliegende Meldung des Parteikomitees der Qinghai-Provinz präsentieren, dass im Kreis Huangzhong, unweit der Provinzhauptstadt Xining, mehr als 300 Fälle von Kannibalismus aufgetreten waren. Aus Hunger aßen Menschen Menschen, Onkel aßen Neffen und Nichten, Tibeter aßen Han-Chinesen und umgekehrt.

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