Читать книгу Verschorfungen - Zhaoyang Chen - Страница 6
ОглавлениеEs ist mir nicht leichtgefallen, meine
Geschichte aufzuschreiben. Dennoch musste
ich es tun. Denn vor ihr fliehen kann ich
nicht, und die gelegentliche Narkotisierung
durch Verleugnung führt allenfalls dazu,
dass die Schmerzen nach dem Erwachen
noch heftiger sind als zuvor.
Es hat in der Tat sehr lange gedauert,
bis ich endlich den Mut aufbrachte, meiner
Vergangenheit ins Auge zu sehen und
mich von ihr zu befreien. Doch dazu musste
ich erst einmal verstehen, warum es so
viele Krisen in meinem Leben gegeben hatte
und auf welche Weise sie meinen Lebensweg
beeinflussten. Oft wünschte ich
mir, jemand anderes hätte mein Schicksal
gehabt. Zugleich bin ich mir darüber im
Klaren, dass Millionen anderer Menschen
meiner Generation mein Schicksal auf die
eine oder andere Weise teilen. Doch wurde
ich bis zum heutigen Tag nie mit einer
ähnlichen Geschichte konfrontiert.
Vermutlich war es das allgemeine
Schweigen über die Vergangenheit, das
mich so lange davon abgehalten hat, mich
mit ihr zu befassen, ebenso wie die Rücksicht
auf all jene, die so eng mit meiner Geschichte
verbunden sind. Allein schon der
Gedanke, Freunde, Familie und Bekannte
durch das Erzählen meiner Geschichte unglücklich
zu machen, ließ mich davor zurückschrecken.
Doch nun hat endlich die
Einsicht gesiegt, dass ein (mit-)geteiltes
Schicksal, das auf vielen Schultern ruht,
für alle leichter zu tragen ist. Gesiegt hat
auch der Wunsch in mir, wieder aufrichtig
lieben und vertrauen zu können und die
Welt zu umarmen, ohne ständig Verrat
und Verletzung zu befürchten – und letztendlich
zu verstehen, warum ich zu demjenigen
geworden bin, der ich bin.