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Xuzhou – Stadt unter dem schwebenden Fluss

Geboren wurde ich am 14. September 1963 in der antiken chinesischen Stadt Xuzhou, in der heutigen Provinz Jiangsu der Volksrepublik China. Die Stadt ist einer der neun Ursprungsstaaten, die das antike China bildeten. Xuzhou ist auch die Heimatstadt von neun Dynastiengründern und fünfunddreißig Kaisern Chinas, also die Wiege jener Zivilisation, die China bis heute prägt. Denn auch die Gründerfamilie der Han-Dynastiei stammt aus Xuzhou. Sie gab den Chinesen den Namen Han, der heute weltweit größten Ethnie, der über eine Milliarde Menschen angehören. Noch heute spricht man von den Han-Chinesen, der Sprache Han-Yu, den Schriftzeichen Han-Zi, der Medizin Han-Yao … In Xuzhou etablierte sich der Konfuzianismus als Staatsdoktrin, einem auf Moralphilosophie basierenden Herrschaftssystem, das bis in unser 21. Jahrhundert hinein nachwirkt. Zu diesem System gehörten eine dreistufige Verwaltungsstruktur und die Rekrutierung von Beamten durch Staatsexamen.

Xuzhou war einst eine blühende Stadt der Kunst und Literatur. Noch heute kann man überall uralte Steingravuren, Kalligrafien und Malereien bewundern. Und den Gelehrten aus Xuzhou ist die Wiederherstellung und Tradierung der vielfältigen Zeugnisse der Literatur zu verdanken, die einst von der Qin-Dynastieii vernichtet worden waren. Viele der weltweit bekannten Künstler Chinas kommen aus Xuzhou. Große Intellektuelle und Dichter der Antike und der jüngeren Vergangenheit wie Liu Xiangiii , Zhang Daolingiv , Liu Yuxiv , Li Yivi sind in Xuzhou geboren und aufgewachsen. Auch Bai Juyivii und Su Dongpoviii hatten ihre Wirkungsstätte in Xuzhou.

Meine Geburtsstadt ist also uralt. Uralte Städte waren auch immer schon Kriegsschauplätze. In China pflegt man heute noch zu sagen, dass Xuzhou diejenige Stadt sei, die von allen militärischen Strategen erst einmal erobert werden müsse, um weitere Siege in ganz China zu erringen. Denn Xuzhou bildet einen Verkehrsknotenpunkt mitten im Zentrum des chinesischen Wegenetzes. Der Kaiserkanal Peking-Hangzhou verläuft durch die Stadt, kreuzt dort den Huaihe-Fluss, der in das ostchinesische Meer mündet. Die Eisenbahnlinien Longhai von Westen nach Osten kreuzen sich in Xuzhou mit Jinhu von Norden nach Süden ebenso wie die Straßennetze aus allen vier Himmelsrichtungen. Die Provinzen Jiangsu, Shandong, Henan und Anhui treffen in Xuzhou aufeinander. Solche uralten Städte waren immer schon Sammelbecken für Zuwanderer, die zusammen eine multikulturelle Gesellschaft bildeten. In Xuzhou vermischten sich die Einflüsse des Buddhismus, des Daoismus, des Islam und des Christentums mit dem Konfuzianismus und verschmolzen zu einer harmonischen Einheit.

Die geografische Lage der Stadt hat auch den Charakter ihrer Bewohner geformt. Denn im Laufe der drei Jahrtausende langen Geschichte wurde Xuzhou sieben Mal vom Gelben Fluss, dem Huang He, überschwemmt, als dieser seine Laufrichtung änderte und sich über den Huai He seinen Weg ins ostchinesische Meer suchte. Wie überall, wo der Unterlauf des Gelben Flusses Städte durchquert, liegt das Flussbett höher als die jeweilige Stadt selbst. Deshalb wurde der Huang He in Xuzhou auch „der in der Luft schwebende Fluss“ genannt. Ein treffendes Bild dafür, wie gefährlich das Leben mit dem Fluss tatsächlich war. So wurde die Stadt sieben Mal unter Sedimentschichten vergraben, doch nach jeder Überschwemmungskatastrophe bauten die Menschen sie wieder auf – mit Fleiß, Hartnäckigkeit und Ehrlichkeit, jener Basis für das Vertrauen, auf das die Menschen im Angesicht von Katastrophen ganz besonders angewiesen sind. Der Boden rund um Xuzhou war so fruchtbar, dass er demjenigen eine reiche Früchte- und Getreideernte bescherte, der ihn eigenhändig beackerte. Das Sagen in der Stadt hatten der konfuzianischen Morallehre und Staatsdoktrin gemäß die Männer, und die Frauen galten als tapfer und ehrgeizig. Doch wie überall dort, wo die Existenzgrundlage gesichert ist, gaben sich die Menschen von Xuzhou dem Geisterglauben und spirituellen Neigungen hin, was oft zu Streitigkeiten führte. Und so hatte der Führer Mao Zedong in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts leichtes Spiel, als es darum ging, die „Wahrheitsuchenden“ gegeneinander aufzuhetzen und dafür zu sorgen, dass sie sich gegenseitig in den revolutionären Schlachten massakrierten, die er angezettelt hatte. “Kraft des größtmöglichen Chaos unter dem Himmel etabliert man die größtmögliche Ordnung im Lande“, so lautete die Strategie des großen Führers, der leider auch die Menschen in Xuzhou auf den Leim gingen. Nach jeder Schlacht wurden die Sieger als Revolutionäre geehrt, die Verlierer als Konterrevolutionäre verdammt. Allerdings war es in Xuzhou nicht immer ganz leicht zu entscheiden, wer die Sieger und wer die Verlierer waren.

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