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Zeit der Barbarei

Als die große proletarische Kulturrevolution ausbrach, war ich drei Jahre alt, als sie 1976 endete, war ich dreizehn und ging in die zweite Klasse der Mittelschule. Die von Maos Chefschreiber Zhang Chunqiao erfundene „fortschreitende Revolution unter proletarischer Diktatur“ zielte in erster Linie darauf ab, die Vormachtstellung des Großen Führers zu verteidigen. Die Hungerkatastrophe mit 36 Millionen Toten und die jämmerlich gescheiterte „Stahlkochbewegung“ hatten dazu geführt, dass die Bevölkerung einen Groll gegen die Funktionäre hegte, die durch ihre Lügen, namentlich das „Raketenschießen“, den Hunger und das Massensterben verursacht hatten. Das Volk wandte sich jedoch nicht gegen den Vorsitzenden Mao, ganz im Gegenteil. Es nahm ihn gegen alle Anfeindungen in Schutz und verteidigte seine Ideen von der Kulturrevolution und dem Volksrebellentum. Das Volk glaubte, dass die Funktionäre der mittleren und unteren Führungsebene den Vorsitzenden Mao belogen hätten, um ihre selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen. Wenn man bedenkt, dass die Funktionäre zusätzliche Lebensmittel bekamen, während gleichzeitig 36 Millionen Menschen verhungerten, war der Unmut des Volkes gegenüber den Bürokraten durchaus verständlich. Diese ihrerseits entgegneten, dass sie doch nur gelogen hätten, weil dies von den oberen Führungsriegen erwartet worden sei. Auch die Funktionäre waren unzufrieden, beklagten sich über das erlittene Unrecht und hatten eigentlich den „Großen Führer“ Mao zur Zielscheibe ihres Hasses auserkoren. Im Januar 1962 musste Mao sogar vor 7000 Funktionären in Peking Selbstkritik üben und die Verantwortung für den landesweiten Kannibalismus und die Hungersnot übernehmen. Aber Mao wäre nicht Mao gewesen, wenn er sich der Kritik gebeugt hätte. Als durchtriebener Machtpolitiker nutzte er die allgemeine Un-Zufriedenheit vielmehr dazu, um die „Große proletarische Kulturrevolution“ auszurufen und ließ die ihn vergötternden Massen ihren Unmut an seinen Untergebenen austoben. Auf Maos Geheiß wurden die kleinen wie die großen Funktionäre radikal entmachtet, physisch und psychisch eingeschüchtert und in Arbeitslager eingesperrt. So wurde unter anderen auch Deng Xiaoping, damals Generalsekretär der KPCh und stellvertretender Ministerpräsident, aus Peking verbannt. Er wurde einfacher Arbeiter in einer Traktorenfabrik in Jiangxi. Sein Sohn Deng Pufang wurde so brutal gefoltert, dass er nun querschnittsgelähmt ist. Heute ist er Vorsitzender der chinesischen Union der Invaliden. Ministerpräsident Zhou Enlai, Mao gegenüber stets loyal und für die Wirtschaft zuständig, für die sich der Große Vorsitzende selbst nie so recht interessiert hatte, schummelte weiter wie bisher und versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen, indem er auf dem Schwerpunkt der Produktion beharrte. „Betreibe Revolution, entwickle die Produktion, stelle die Versorgung sicher!“, so seine Parole, wodurch weitere kostbare Jahre vergingen und die Kulturrevolution sich zehn Jahre in die Länge zog.

Die Kulturrevolution in China hatte zweierlei Ziele: zum einen die Zerstörung der traditionellen Denk- und Verhaltensweisen, zum anderen die Konsolidierung der Macht des „Großen Führers“ Mao, was dieser durch Gewaltausübung gegenüber seinen Kritikern und durch die blutige Unterdrückung innerparteilicher Gegner mithilfe der Rotgardisten zu erreichen versuchte. Für mich war die „Kultur“-Revolution nichts anderes als Barbarei, basierend auf absoluter Rechtlosigkeit. Was sie bei mir hinterließ, war ein bleibendes Misstrauen gegenüber meinen Mitmenschen. Für die Rotgardisten war es die Revolution der 28 Yuan: So viel kostete die Verbrennung eines getöteten, erschlagenen oder zum Selbstmord getriebenen Menschen. Bis heute wurden die Mörder und Mörderinnen von damals nicht zur Rechenschaft gezogen. Auf die Frage der italienischen Journalistin Oriana Fallaci nach der Zahl der Getöteten antwortete Deng Xiaoping 1980, dass keine Statistik erhoben werden könne, weil China so groß und die Todesursachen ganz unterschiedlich gewesen wären. „Jedenfalls starben sehr viele Menschen“, sagte er nur. Nach Angaben des historischen Forschungsinstituts des Zentralkomitees der KPCh kamen während der Kulturrevolution 1,72 Millionen Menschen ums Leben. Mir fehlen die Worte dafür, was „ums Leben kommen“ in diesen finsteren Zeiten bedeutete. Die Rebellen verfuhren mit Menschen wie mit Unkraut: Sie hackten sie einfach weg. 4,2 Millionen Menschen wurden in eilig errichteten Untersuchungsgefängnissen eingesperrt und 135 000 als aktive Konterrevolutionäre vom Revolutionskomitee verurteilt und hingerichtet. 237 000 wurden in bewaffneten Straßenschlachten getötet, 7,03 Millionen Menschen wurden verstümmelt, 70 000 Familien unwiderruflich zerstört. Die Mörder und Mörderinnen des blutigen Jahres 1966 waren zu 99 Prozent halbwüchsige Rotgardisten und zwischen 13 und 17 Jahre alt. Sie sind heute 60 bis 65 Jahre alt und bleiben weiterhin von jeglicher Strafe verschont. Die Opfer waren in den meisten Fällen ihre Lehrerinnen und Lehrer gewesen, deren Familien bis heute keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Allein in Peking wurden 1966, in diesem einen Jahr, 16 000 Schuldirektoren, Abteilungsleiter, Professoren und Lehrer bestialisch und grausam totgeschlagen. Den Opfern wurden die Haare mitsamt der Kopfhaut ausgerissen, sie wurden mit den Messingschnallen von Militärgürteln blutig geschlagen und mussten ihren eigenen Urin und ihr Blut vom Boden lecken. Sie wurden gezwungen, sich gegenseitig zu ohrfeigen und sogar die Leichen von Kollegen zu peitschen. Unter den Tätern befanden sich nicht nur Männer, sondern genauso viele Frauen und Mädchen. Der „Große Führer“ pries derartige Gräueltaten in zwei Briefen an die Studenten der Universitäten von Peking und Qinghua als revolutionäre Aktion und entfachte damit einen wahren Flächenbrand der Gewalt, von dem das ganze Land erfasst wurde. Er höchstpersönlich ist damit verantwortlich für die Ermordung von 1,725 Millionen Lehrerinnen und Lehrern.

Auch in Xuzhou wurden Lehrerinnen und Lehrer vor Kritikversammlungen gezerrt. Auch hier schlugen Schüler in den Schulen ihre Lehrer. Und auf den Straßen kam es zunehmend zu blutigen Auseinandersetzungen. Höflichkeit und Respekt vor älteren Menschen existierte nicht mehr. Doch die Revolution trieb ihr Unwesen nicht nur in der Schule, sondern in der ganzen Gesellschaft. Auch unter Arbeitern und Bauern wurden groß angelegte blutige Kampagnen in Gang gesetzt und der promaoistische Gewaltwettbewerb zu einer neuen Eskalationsstufe geführt.

Ein angeheirateter Onkel meiner Familie war Mitglied der sogenannten „Stoßpartei“ von Xuzhou. Er war gelernter KFZ-Mechaniker und konnte am Klang des Motorengeräuschs eines Autos dessen Problem erkennen. Er war Facharbeiter der Klasse 8, der höchsten Klasse im damaligen China. Das bedeutete, dass er quasi ein Alleskönner war und den gesamten Produktionsprozess vom Entwurf über die Ausrüstung bis zur Herstellung inklusive aller Techniken im Maschinen- und Fahrzeugbau beherrschte. Die Einheit, in der er arbeitete, wurde von Gu Binghua, dem Anführer der „Stoßpartei“ geleitet. So wurde mein Onkel automatisch Mitglied der Partei. Er war zweimal mitgereist, als Premierminister Zhou Enlai die „Studienkurse“ für die Xuzhou-Parteien nach Peking kommen ließ. Er saß mit am Verhandlungstisch, als unter der Leitung von Zhou Enlai ein Frieden zwischen der Stoßpartei und der Unterstützungspartei ausgehandelt wurde. Deshalb wurde er auch verhaftet, als Gu Binghua auf Deng Xiaopings Befehl als Friedensstörer hingerichtet wurde. Von meinem Onkel erfuhren wir viel über die Kämpfe der Revolutionäre. Der „Große Vorsitzende“ Mao hatte 1962 gesagt, dass die Regierungsmacht Chinas nicht in der Hand des Proletariats liege und ein Drittel der Regierungsbeamten, also über zehn Millionen Menschen Klassenfeinde seien. Der irre Diktator in Zhongnanhai, dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei in Peking, hatte wohl einen Alptraum gehabt, sah Geister, die ihm ans Leben wollten, und deswegen mussten zehn Millionen Menschen sterben.

In Xuzhou gruppierten sich die revolutionären Massen in zwei Parteien: die Stoßpartei und die Unterstützungspartei. Wie der schon Name sagt, war die Stoßpartei diejenige, die alle hinderlichen Regierungsämter einschließlich des Revolutionskomitees beiseite stoßen sollte, damit die Kulturrevolution durchgeführt werden konnte. Im Gegensatz dazu stand die Unterstützungspartei hinter den Revolutionskomitees. Beide Parteien nahmen für sich in Anspruch, Maos wahre Revolutionäre zu sein. Wer also regierte Xuzhou?

Nachdem die eigentliche Regierung als die „den kapitalistischen Weg Beschreitende“ von den Rebellen abgesetzt worden war, wurde Xuzhou zuerst von der Unterstützerpartei regiert. Diese unterstützte die aus Arbeitern, Bauern und Soldaten zusammengesetzte revolutionäre Kommission, die fortan als Regierung fungierte. Die Stoßpartei wollte das jedoch nicht hinnehmen, weil ihrer Meinung nach alle Mitglieder der Regierung die „den kapitalistischen Weg Beschreitende“ waren, also ausnahmslos ehemalige Machthaber. Nun aber war die revolutionäre Kommission der neue Machthaber und glich somit den „den kapitalistischen Weg Beschreitenden“, musste also logischerweise weggestoßen und ersetzt werden. Da die Machthaber auf beiden Seiten davon überzeugt waren, dass sie die Linken verkörperten und Maos Politik folgten, wollten sie ihre Macht jedoch nicht abtreten. So ging die Macht über die Stadt von einer Partei auf die andere über und wieder zurück. Und jeder Machtwechsel bedeutete eine erneute blutige Schlacht. Wie verbittert die Parteien sich bekämpften, davon kann ich selbst ein trauriges Lied singen.

Als ich sechs Jahre alt war, nahm mich mein Großvater eines Tages mit zum Frisör an der Huaihai-Straße auf der Höhe der Pengcheng-Straße. Dort ließen wir uns die Haare schneiden und gingen zu Fuß wieder nach Hause, als aus der Ferne aus zwei entgegengesetzten Richtungen Geschrei zu hören war sowie das rhythmische Skandieren von politischen Parolen, verstärkt durch Megaphone. Das Geschrei kam immer näher, und wir sahen schon die langsam aus beiden Richtungen aufeinander zu marschierende Menschenmenge, die lauthals „Nieder, Nieder!“ schrie. Es entstand ein Tumult, und die Fußgänger hatten so große Angst, dass sie nicht mehr weitergehen wollten. Großvater zerrte mich in das Kommissionsgeschäft Yihua, wo die Mitarbeiter sogleich von innen die Tür verriegelten. Da der Laden einige Stufen höher lag als die Straße, konnten wir das Geschehen von dort aus beobachten. Draußen vor der Tür wurden die gegenseitigen Beschimpfungen im Namen des Vorsitzenden Mao und der großen proletarischen Revolution immer lauter und heftiger, und als eine Rotgardistin aus der Gruppe der Unterstützungspartei einen Schlag auf den Kopf bekam und blutete, eskalierte die Situation. Männer und Frauen drängten sich wie in einem Bienenschwarm zusammen, schlugen mit Handtafeln, Mao-Figuren, Gürteln, Eisenstangen und Holzlatten aufeinander ein und skandierten dabei lauthals die sogenannten „höchsten Anweisungen“ aus der Mao-Bibel. Die Schlägerei auf der Straße wurde zunehmend wilder und blutiger, da sahen wir, wie sich ein Junge aus lauter Angst vor dem unbeherrschten Mob auf einen Baum flüchtete; das aber hatten einige gesehen und rüttelten nun so lange an dem Baum, bis der arme Junge herunterfiel. Noch während er am Boden lag, prügelte die Meute mit Eisenstangen und Holzlatten auf ihn ein und ignorierte seine Hilfe-Schreie. Vor unseren Augen wurde dieser Junge am helllichten Tag einfach totgeschlagen.

Der „Große Führer“ wollte klare Verhältnisse schaffen und befahl der Armee, die Linken in den Massen zu unterstützen, sagte aber nicht, wer die Linken waren. Nachdem nun auch noch das Militär in die Revolution eingriff, eskalierte die Lage in Xuzhou vollends. Denn Xuzhou war die Garnisonsstadt zweier Militärbezirke und der 68. Feldarmee. Die Militäreinheiten unterstanden unterschiedlichen Kommandos: Die 68. Feldarmee unterstand direkt dem Verteidigungsministerium, während die Bezirksarmeen mal zu Jinan und mal zu Nanking gehörten. Die Konfrontation zwischen der Stoßpartei und der Unterstützerpartei wurde zu einem Stellvertreterkrieg der Militärbezirke, und der Konflikt wurde nicht mehr nur mit Schlagstöcken und Eisenstangen ausgetragen, sondern mit richtigen Gewehren.

Nun wurden die Konflikte von der Militärführung angezettelt. Der Politkommissar der Truppen repräsentierte die „richtige“ Linie der Partei aus Peking. Allerdings gab es nicht nur einen Politkommissar, sondern mehrere, die untereinander heillos zerstritten waren. So wurde der Konflikt in Xuzhou zu einer militärischen Auseinandersetzung. Der Straßenkampf, den sich die beiden Parteien am 31. August 1968 in der Stadtmitte geliefert hatten, hinterließ fast 300 Tote und über 1000 Verletzte. Schon kurz nach dem Beginn der Auseinandersetzung kamen Soldaten der 68. Armee und riegelten die Straßen ab. Mehrere tausend Soldaten bildeten Hand in Hand eine Mauer, umzingelten die streitende Meute, spalteten diese in zwei Lager und transportierten die Verletzten ab. Die Anführer beider Parteien kamen zu Verhandlungen in Beugehaft. Mein Onkel war einer davon. Er wurde von den Soldaten in das nahe gelegene Xuzhou-Hotel geschleppt. Jahre später hatte ich die Gelegenheit, meinen Onkel danach zu fragen, was an diesem Tag noch geschehen war, und er erzählte mir die Geschichte aus seiner Perspektive:

Unter der Leitung und Moderation der Xuzhouer Garnison hatten sich die Vertreter der Unterstützerpartei und die Repräsentanten der Stoßpartei darauf verständigt, dass alle Rebellen von der Straße verschwinden sollten. Der Chef der Unterstützerpartei erklärte, dass er mit seinem eigenen Kopf dafür garantiere, dass seine Leute nach Hause gehen würden. Und der Anführer der Stoßpartei versprach, dass seine Kämpfer die gegnerischen Rebellen in Ruhe abziehen lassen würden. Der Kommandeur der Garnisonstruppe besiegelte das Abkommen und ließ die Leute mit dem Auftrag frei, ihre Versprechen sofort umzusetzen.

Die Rebellen beider Parteien begannen, sich voneinander zu entfernen und in Gruppen abzuziehen. Plötzlich heulte laut und aggressiv eine Sirene los. Noch bevor die Soldaten das durchdringende Sirenengeheul überhaupt einordnen konnten, wurde eine Stelle in der Absperrung bereits von einem roten Bauernverband durchbrochen. Die wehrlosen Soldaten wurden brutal verprügelt, gefesselt und von den Bauernrebellen verschleppt. Blitzschnell wurden auch die zweite und die dritte Absperrung von den Stoßrebellen durchbrochen und aufgelöst, und die beiden Parteien schlugen erneut aufeinander ein. Diesmal noch grausamer und blutiger. Als Waffen wurden Pflastersteine, Dachziegel, Holzstöcke, Eisenstangen, Küchenmesser, Dolche und Feuerwaffen eingesetzt. Es wurde gezielt auf lebenswichtige Körperteile eingeschlagen, Schädel wurden zertrümmert, Augen ausgestochen, Arme und Beine gebrochen…

Sirenen heulten, Verstärkungstruppen strömten zu den Fronten, Rettungswagen rasten hin und her, leblose Körper sowie abgetrennte Gliedmaßen wurden auf Bahren gestapelt und abtransportiert. Blut spritzte und Fleischfetzen flogen herum, ähnlich wie in der Huaihai-Schlacht von 1948. Aber an diesem Tag, im August 1968, gab es über 1000 Verletzte, und es starben insgesamt 286 maoistische Rebellen beider Parteien, die sich nur deshalb bekämpft hatten, weil jede von sich glaubte, Maos Linie der Revolution korrekter und gründlicher auszulegen und tapferer zu verteidigen als die Gegenpartei. Mao schaltete sich persönlich ein und rief schlichtend aus, dass beide Parteien in Xuzhou aus revolutionären Massen bestünden. Während der achtjährigen Besatzungszeit der japanischen Armee in Xuzhou waren 12 601 Menschen umgekommen; während der zehn Jahre andauernden Kulturrevolution sollten über 66 800 Menschen den Tod finden. Die perfide Strategie der jeweils unterliegenden Partei bestand darin, in Xuzhou, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Chinas, den Eisenbahnverkehr zu sabotieren. Sie kappten Lebensmittellieferungen und blockierten auch den Personenverkehr. So erregten sie Aufsehen im ganzen Land. Und „der Große Vorsitzende“ Mao schwieg dazu und schickte stattdessen seine Soldaten. Um den bewaffneten Kampf schließlich zu beenden, wurden die Anführer der beiden Parteien auf sein Geheiß nach Peking zitiert. Sie mussten an einem „maoistischen Studienkurs“ teilnehmen, sollten „die Revolution der tiefen Seele“ in Gang setzen und sich gegenseitig endlich als Revolutionsgenossen akzeptieren. Der Kurs dauerte zehn Monate und endete tatsächlich mit einer Beilegung des Konflikts. Daraufhin wurde in Xuzhou am 1. August 1969 eine neue revolutionäre Kommission gegründet, die aus Mitgliedern beider Parteien bestand. Die Menschen von Xuzhou hatten durch die Kämpfe der beiden Rebellengruppen nur eines gelernt: dass Kulturrevolution nichts als Unheil bedeutete. Ein Volksgedicht aus dieser Zeit lautet folgendermaßen:

„Die Guten heißen Unterstützer,

Die Redlichen nennen sich Wegstoßer,

Jedes Jahr kommt eine neue

Revolutionäre Kommission!

Selbstkritik lässt sich unendlich üben,

Wohin wollen Wirrköpfe sich wenden?

Ewig lässt sich Egoismus bekämpfen,

Unermesslich können Tränen vergossen werden.

Schließlich sage doch,

Wem wir Recht geben sollen.

Beide sollen revolutionäre Massen sein,

Umsonst erleiden wir Höllenpein!“

Nachts werde ich noch heute gelegentlich von Albträumen geweckt. Dann höre ich klar und deutlich das Geschrei und die Marschlieder der Rotgardisten. Ich sehe, wie der Junge, der sich vor Angst auf den Baum geflüchtet hatte, vom Baum geschüttelt und von Gleichaltrigen zerfleischt wird. Ich sehe die blutigen Wunden, die die Messingschnallen der Militärgürtel nach jedem Hieb hinterlassen, ich sehe immer noch Blut fließen und Fleischfetzen nach allen Seiten fliegen…

So weit meine vorschulische Erinnerung an die Kulturrevolution in Xuzhou. Mitten in diesem blutigen Gemetzel wurde ich 1970 eingeschult.

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