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Abakus und Rechenreime

Wie im alten China üblich, gingen Kinder ab dem vierten Lebensjahr in eine meist private Schule. Kinder intellektueller Familien wurden auch zu Hause von ihren Vätern, Onkeln oder Großvätern unterrichtet. Der chinesische Begriff hierfür heißt „Kai Meng“ und bedeutet Einführung in die Schriftwelt und Aufklärung über die Moral. Diese Aufklärung hatte mit der Befreiung aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ jedoch nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Und doch waren mein Mut und meine Bereitschaft überaus groß, mich meines Verstandes zu bedienen. Nur Mut allein half damals leider wenig. Die Benutzung des Verstandes musste angeleitet werden. Ich musste zuerst lesen, schreiben und rechnen können. Danach erst wäre ich für die weitere Bildung vorbereitet. In der klassischen Kinder- oder Bildungspädagogik Chinas ging es nicht um Verstehen und Mündig werden. Ganz im Gegenteil. Kinder mussten vor dem fünfzehnten Lebensjahr alle Bücher, die zum Bildungskanon gehörten, auswendig lernen. Als Kind wurde man nicht zu selbstständigem Denken erzogen, sondern einzig und allein sprachlich gedrillt. Alle Gelehrten waren der Meinung, dass Kinder vor dem fünfzehnten Lebensjahr ein hervorragendes Gedächtnis hätten und die Erinnerungskraft mit dem Erwachsenwerden nachlassen würde. Ab dem sechzehnten Lebensjahr erst begann die Erweiterung des Bewusstseins. Ab diesem Alter erst wurde der Verstand gefördert. Wie Wiederkäuer fing man an, das Auswendiggelernte zu verdauen. Erst danach galt der Spruch von Kant: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Mit dieser Tradition wurde in der maoistischen Welt gewaltig gebrochen. Die Bücher, die die chinesischen Kinder seit Jahrhunderten auswendig lernen mussten, durften in meiner Kindheit offiziell nicht mehr gelesen werden und waren verboten. Mein Wissen über die chinesische Klassik konnte ich also erst nach der Kulturrevolution erwerben.

Was lernte ich also in der vorschulischen Erziehung zuhause? Mein Großvater hatte mir das Rechnen mit dem Abakus beigebracht, als ich drei Jahre alt war. Das kann als meine vorschulische Erziehung angesehen werden. Der Abakus erleichterte anschaulich Addition und Subtraktion. Auch Multiplikation und Division von abstrakten Zahlen wurden auf einmal kinderleicht. Wenn mein Großvater rechnete, knatterte der Abakus so schnell und laut, als würde er auf dem Klavier ein Allegro spielen. Er lehrte mich Rechenreime und Multiplikationsverse, an denen ich mich heute noch wiederkäuend erfreue. Es ist ein Merkmal der chinesischen Sprache, dass viele Idiome Zahlen enthalten, die sich addieren oder subtrahieren, multiplizieren oder dividieren und komplett neue Redewendungen entstehen lassen. Es war ein so zauberhaftes Kreuzspiel, mit dem ich buchstäblich spielerisch sowohl das Rechnen als auch Hunderte von Idiomen gelernt habe. Ich kann nicht beurteilen, wie Kinder im Westen oder im Osten heutzutage Mathematik lernen. Für mich war das Auswendiglernen der Merkverse und der Rechenreime ein Segen, dessen Bedeutung ich nicht genug betonen kann. Natürlich war es langweilig, einen Vers oder Reim auswendig zu lernen, dessen Sinn man als Kind überhaupt nicht verstand. Erst später sollte ich begreifen, wie wichtig diese Merkverse waren und was für ein Glück ich doch hatte, dieses langweilige Lernen erlitten zu haben. Es war meinem Großvater wichtig, dass ich rechnen lernte, noch bevor ich lesen und schreiben konnte.

Aus Büchern, die zum konfuzianischen Bildungskanon gehörten, durften wir nichts lernen. Zeitgenössische Bildung bedeutete in meiner Kindheit vor allem die Erweckung von Klassenbewusstsein. So lernten wir die „Mao-Bibel“ auswendig. Mein Großvater wusste, dass klassische Bildung gefährlich war und steckte daher in einer Zwickmühle. Denn Mao hatte verboten, was seit Jahrtausenden gegolten hatte: das Ideal der Gelehrsamkeit. Der Sinn und Zweck der Bildung hatte in China seit Jahrtausenden vor allem ein Ziel: Edel sein durch Gelehrsamkeit: „Nur Bildung und Gelehrsamkeit sind von edler Eigenschaft, alles andere ist minderwertiges Werk!“ (Wang Zhu, Song-Dynastie). Mao ignorierte dieses Ideal, behauptete, dass man umso reaktionärer sei, je gebildeter man werde. Wie also schaffte man es, ein Gleichgewicht zwischen Mao und der Tradition herzustellen, den Kindern sowohl Maos Klassenkampfideen als auch etwas Klassisches, etwas universell Gültiges zu vermitteln? Großvaters Dilemma bestand darin, dass er von den Sprüchen, Anweisungen und Gedichten Maos nicht überzeugt war, weil diese seiner Meinung nach von ziemlich schlechter Qualität waren. So beschloss er, mir lieber nichts von dem beizubringen, was in seinen Augen ruinös war. Weder Mao-Bibel noch Konfuzius sollte ich von ihm erklärt bekommen. Er gab mir in unserer gemeinsamen Lesestunde einfach die Volksbildzeitung „China Pictorial“, in der viele farbige Fotos und Illustrationen waren und überließ es mir, darin zu lesen, was ich wollte. Ab und zu erklärte er mir, was warum so dargestellt wurde. Er wollte mich langsam in die neue Zeit hineinführen und aus mir einen adäquaten Neubürger entstehen sehen. Er überließ mir also, was ich lesen wollte und versuchte nicht, mein Interesse zu lenken. Diese Methode war sehr wirksam, denn sie langweilte mich nicht, weil ich aus eigener Initiative etwas lernen konnte. Sie war außerdem ausgesprochen effektiv, weil ich durch die Erklärungen meines Großvaters das Tagesgeschehen sofort begriff und die Logik dahinter verstand. Was gut oder schlecht war, musste er mir gar nicht sagen. Durch unser Frage- und Antwortspiel wurde ich automatisch im Sinne der Kulturrevolution vergesellschaftet.

Mein Großvater suchte aus der Not heraus eine neue Zukunftsperspektive für die Familie und fand sie in der Proletarisierung der Enkelgeneration. Ob er aus Resignation oder aus Überzeugung handelte, als er uns den Zugang zu höherer Bildung absichtlich verweigerte, den Schulbesuch latent oder offen diskreditierte und von einem Studium abriet, kann ich ihn heute nicht mehr fragen. Aber es hinterließ tiefe Spuren in meiner Seele, das seit Jahrtausenden angestrebte Bildungsideal und die gesamte Tradition der Familie auf einen Schlag vernichtet zu sehen. Stattdessen ermahnte er uns stets, bescheiden und umsichtig zu sein und warnte uns vor Überheblichkeit und Unbesonnenheit. Nachgiebigkeit war in seinen Augen das beste Verhalten unter der proletarischen Diktatur. Dümmer sein als die Dummen war die beste Verteidigung in einer kommunistischen Gesellschaft.

Diese Logik ergab sich aus dem Hass des „Großen Vorsitzenden“ Mao gegenüber Gelehrten und Gebildeten. Mao, selbst Bauernsohn und Bildungsverlierer, degradierte die Intellektuellen seit 1962 ununterbrochen bis zu seinem Tod zu Feinden des Volkes. Er hasste vor allem die Geisteswissenschaftler, weil sie denken und ihre Meinungen kundtun konnten. Sprüche von Mao wie „Je gebildeter einer ist, desto konterrevolutionärer ist er!“ widerhallen noch heute in meinen Ohren. Der „Große Führer“ war fest davon überzeugt, dass Intellektuelle automatisch Konterrevolutionäre und Revisionisten seien, weil jede Analyse zu Nachdenklichkeit führte, und jede Nachdenklichkeit den revolutionären Enthusiasmus relativierte. Intellektuelle waren seiner Meinung nach Leute, die eine kritische Haltung zu allen politischen Bewegungen einnahmen und die proletarische Revolution argwöhnisch beurteilten. Was heute lächerlich oder gar schwachsinnig erscheint, war für Mao bitterer Ernst. Unter seiner Herrschaft wurden Abermillionen Bücher verbrannt und die allermeisten Intellektuellen zur Umerziehung und schweren körperlichen Arbeit gezwungen. Ihre Würde und Rechte wurden mit Füßen getreten. Unter diesen Umständen wollte mein Großvater uns keineswegs an Bücher und Wissen heranführen. Dank seiner Buchhandlung hatten wir allerdings zuhause sehr viele Bücher. Nachdem die Rotgardisten mehr als 16 600 Bücher aus seiner Sammlung, darunter viele seltene Ausgaben, Einzelausgaben und Sonderausgaben der Klassik von unschätzbarem Wert konfisziert und teilweise vor seinen Augen verbrannt hatten, wiederholte er zu Hause uns gegenüber ständig seine neu gewonnene Erkenntnis: Wissen und Denken seien gleichbedeutend mit Strafe und Arbeitslager. Er sprach auch von der „Nutzlosigkeit des Studierens“, meinte aber die maoistische Erziehungsideologie: Übersetzt ins Deutsche heißt das etwa „Studium ist nutzlos, Rebellion ist Recht!“ Mein Großvater konnte nicht dulden, dass wir uns mit Wissenschaftlichem beschäftigten, wollte er uns das Schicksal der Intellektuellen ersparen. Er zeigte mir zum Beispiel oft die Verfassung der Volksrepublik China, in der geschrieben steht, dass China ein Staat der Arbeiter sei. Großvater wollte uns zu Werktätigen erziehen, die von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können sollten. Im Nachhinein bin ich froh, seine Ratschläge nicht beherzigt zu haben. Auf sein Betreiben hin hatte mir eine Gießerei Arbeit angeboten, die ich annehmen musste, nachdem ich 1979 meinen Mittelschulabschluss gemacht hatte. Für die Arbeit dort bekam ich monatlich 34 Yuan. Wehmütig musste ich von der Schule Abschied nehmen und durfte nicht mehr in die Oberstufe wechseln, obwohl meine Leistungen rundum die besten waren. Noch heute bereitet mir die Erinnerung daran Schmerzen. Denn meine Selbstachtung und mein Selbstwertgefühl sanken dadurch erheblich. Ich konnte mir nicht erklären, woher diese Scham kam und warum ich mich nicht freuen konnte. Für viele Familien wäre es eine Riesenfreude gewesen, so einen Arbeitsplatz zu bekommen, Mitglied der führenden Klasse und tatkräftiger Unterstützer der kommunistischen Sache zu werden. Ich aber fühlte mich minderwertig und elend in meinem Arbeitsanzug. Ich verlor alle Freude am Leben, verkroch mich wochenlang hinter Strohballen, die als Heizmaterial in großen Mengen in der Gießerei vorhanden waren. Dort las ich die Gedichte von Puschkin und Lermontow und wünschte mir nur noch den Tod. Gott sei Dank sahen meine Eltern schließlich ein, dass es falsch war, einem Fünfzehnjährigen den Schulbesuch zu verweigern. Meine Eltern begriffen, dass ich mit meiner Neigung zu Literatur und Poesie eher ein künstlerisch Schaffender werden wollte, der von seiner Kreativität leben würde. Sie nahmen mich aus der Fabrik wieder heraus, und ich integrierte mich wieder in das Schulleben. Über diese leidliche Erfahrung könnte ich ein eigenes Buch schreiben.

Das erste Gedicht, das mein Großvater mir beibrachte, war





„Behacke die Setzlinge unter der Mittagssonne,

Schweißperlen rieseln auf Gräser und Erde.

Wehe dem, der vom Essen im Teller nicht weiß,

jedes Körnchen versinnbildlicht Eifer! „

Ich bin natürlich sehr dankbar, dass mein Großvater sich so sehr um mich gesorgt hat und ich das Glück hatte, von ihm unterrichtet zu werden. Zu der häuslichen Erziehung gehörte auch das tägliche Vorlesen aus Tageszeitungen. Er hatte zwei Zeitungen abonniert – „Xuzhou Daily“ und „Cankaoxiaoxi“, Zeitungen, die bis heute nur China und der Parteipolitik zuträgliche Meldungen aus den ausländischen Medien zitieren. Ich musste ihm jeden Mittag nach dem Essen daraus vorlesen. So lernte ich viel mehr Schriftzeichen kennen, als wir aus den Schulbüchern lernten. Außerdem studierte ich die Texte Wort für Wort und merkte mir so den Inhalt besser. Beim Vorlesen konnte man nicht, wie mein Großvater oft sagte, eine „Dattel hinunterschlucken, ohne sie zu kauen“, was oft der Fall war, wenn ich alleine las. Die Gewohnheit des laut Lesens behielt ich auch beim Englischlernen bei. Ich las mir die Texte vor, nahm sie mit dem Kassettenrekorder auf und verglich danach das Gehörte mit dem Text. Das war eine effiziente Methode, mit der ich mit halbem Aufwand den doppelten Erfolg erzielte.

Mein Großvater las außerdem noch die Zeitung „People´s Daily“, die vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei herausgegeben wurde. All die strategischen Pläne des „Großen Führers“ wurden dort publiziert, all seine Gedanken wurden in den Leitartikeln veröffentlicht. Von meinem Großvater übernahm ich das starke Interesse an dieser Zeitung, die ich heute noch lese. Mein Großvater entzifferte beim Lesen nie nur die Buchstaben. Er hatte die Fähigkeit entwickelt, zwischen den Zeilen zu lesen und zu erkennen, was die Regierung wirklich sagen wollte. Auch diese Fähigkeit erlernte ich von ihm. Die kommunistische Regierung sagte normalerweise nur das, was sie sagen musste. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten Thema mit einer bestimmten Wortwahl gesagt wurde, verdeutlichte, was in Wirklichkeit passierte und was die Partei eigentlich verbergen wollte. Ich empfehle vielen meiner Freunde, diese Zeitung zu lesen, wenn sie sich über China informieren wollen. Man sollte diese Zeitung gerade mit dem von Mao kritisierten analytischen Denken lesen, dabei lernt man viel über China und seine Politik.

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