Читать книгу Verschorfungen - Zhaoyang Chen - Страница 12
ОглавлениеGroßmutter Ye Yonglan
Meine Großmutter väterlicherseits stammte aus einer Schreinerfamilie, die seit Generationen Möbel und Särge herstellte. Und mein Urgroßvater war ein Mann gewesen, der davon überzeugt war, dass die Macht aus Gewehrläufen kam. Neben seiner Familie und seiner Firma führte er mit herrischer Zucht und Strenge die Gilde der Kaufleute in Xuzhou. Fremde, die in Xuzhou Geschäfte machen wollten, mussten zuerst seine Zustimmung einholen. Ich habe ihn nicht mehr kennen gelernt, dennoch war er in meiner Kindheit präsent. Ich hörte Erwachsene oft über ihn sagen, was für ein Glück es doch sei, dass er noch gestorben sei, ehe die Kommunisten an die Macht kamen. Denn sonst hätte er bestimmt viel zu leiden gehabt und wäre sicherlich von den „Roten“ hingerichtet worden. Er war auch dadurch präsent, dass meine Großtante ihn bei jeder Gelegenheit verfluchte, weil er ihr den Ehemann, seinen Sohn, weggenommen hatte, indem er ihn verhungern ließ. Mein Urgroßvater konnte es nicht leiden, dass sein eigener Sohn Opium rauchte und Heroin konsumierte. In seinen Augen war der Sohn ein Verlorener, der nicht imstande war, das Geschäft fortzuführen und seine Familie zu ernähren. Ein Schmarotzer, der höchstens die Geschäfte und die Familie ruinierte. Der erbarmungslose Kampf zwischen den beiden endete damit, dass mein Urgroßvater ihn in eine Zelle im Hof einsperrte, wo er von Milizen bewacht wurde und nur Wasser und Nahrung bekam. Doch der rauschgiftsüchtige Sohn weigerte sich standhaft, etwas zu essen. Als hochgradig Süchtiger hatte er weder Mitleid mit seiner ihm frisch angetrauten Frau, noch Verständnis für seinen Vater. So verhungerte er innerhalb von zwei Wochen und hinterließ eine schwangere Frau, meine Großtante, die sieben Monate nach seinem Tod seinen Sohn gebar. So wurde zumindest die Sippe Ye gerettet, die Ehre der Vorfahren gewahrt und der Familienstammbaum fortgeführt.
Meine Großmutter, die Bezugsperson und das Zentrum meiner Kindheit, hieß Ye Yonglan. Von Natur aus eine herrische Person mit Ecken und Kanten, konnte sie lesen und schreiben und war in ihrer Wortwahl nie wählerisch, wenn sie ihre Meinung sagte. Sie hatte die verstümmelten Lotusfüße, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren für Frauen aus gutem Haus. Füße, die viel zu klein für ihre Körpergröße und ihr Gewicht waren. So litt sie beständig unter Knie- und Fußschmerzen. Soweit ich mich erinnern kann, beklopfte ich bereits als Zweijähriger ihre Knie mit den Fäusten, um ihre Schmerzen zu lindern. Das tat ich, bis sie 1973 starb.
Meine Großeltern hatten drei Söhne und eine Tochter, die im Säuglingsalter starb. Von den drei Söhnen hatten sie zwölf Enkelkinder. Ich war ihr Liebling unter den Zwölfen, weil ich in ihren Augen ein schlichtes und ehrliches „Dummerchen“ war. Meine Großmutter mochte keine schlauen und raffinierten Kinder, die ihrer Meinung nach nur Unheil brachten. So nannte meine Großmutter mich stets ihr „dummes Glückchen“ und bestrafte jedes Kind, mit dem ich Geschwisterkämpfe austrug. Meine Großmutter war von ihrer Überzeugung nicht abzubringen, dass ihr Liebling von Natur aus nicht imstande sei, Streitereien anzufangen oder jemandem Schaden zuzufügen, weshalb sie immer die anderen doppelt bestrafte, erst für die Bezichtigung und dann für die Streiterei. Sie gab mir Taschengeld, backte mir süße Sachen mit geröstetem Mehl und kochte mir aus Fischresten eine dicke Fischbrühe, weil ich von klein auf kein Fleisch aß.
Ich war zehn Jahre alt und ging in die dritte Klasse, als eines Morgens meine Klassenlehrerin zu mir kam und mir ins Ohr flüsterte, dass ich von der Schule befreit sei und sofort nach Hause gehen sollte. Meine Großmutter war gestorben, und zum ersten Mal erlebte ich ein Trauerfest. Nach streng zeremoniellen Regeln wurde festgelegt, wer die Tote zuerst beweint und wie lange sie beweint werden durfte. Meine Mutter und die beiden Tanten hatten Anwesenheitspflicht und mussten obligatorisch mitweinen. Jeder Kondolenzbesucher hatte seine eigene Art, den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen, meine Mutter und die beiden Tanten erwiderten dies aber immer mit dem gleichen Weinen. Mein Vater war zu dieser Zeit im Gefängnis, bekam jedoch Freigang für einen halben Tag. Er war der Letzte, der die Tote beweinte. Danach nagelte er den Sarg zu. Anlässlich dieser Trauerfeier lernte ich viele Menschen kennen, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Je nachdem, wie sie meine tote Großmutter nannten, ordnete ich ihren jeweiligen Verwandtschaftsgrad ein. Es war wie ein Theaterstück: Jeder Trauernde hatte sein eigenes Libretto, und jeder erzählte mit der Beweinung eine Geschichte, seine Verbundenheit mit der Toten und wie sehr er ihr Ableben bedauerte. Das Orchester spielte jedes Mal eine andere Musik, variationsreich, sehr archaisch und sehr laut. Ich war sehr aufgeregt, wollte alles verstehen und kam in der Hektik gar nicht dazu, meine Großmutter zu betrauern. Ich erinnere mich noch genau, dass mein Großvater mich fragte, ob ich traurig wäre, ich, Großmutters Liebling, der nun die Großmutter verloren hatte und nun niemand mehr mich beschützen konnte. Ich antwortete mit Nein. Das zeigt auch, was für ein ehrliches Dummerchen ich tatsächlich war, wofür meine Großmutter mich so sehr geliebt hatte. Ich wurde erst traurig, als ich zwei Wochen nach der Beerdigung langsam realisierte, dass ich meine Großmutter verloren hatte. Wochenlang weinte ich allein, wenn niemand mich sah. Überall, wohin ich auch sah, sah ich das sanft lächelnde Antlitz meiner Großmutter; überall, wohin ich auch horchte, hörte ich sie mich rufen. Es hatte sein Gutes, dass meine Mutter mir in den letzten Lebensmonaten meiner Großmutter strengstens verboten hatte, diese zu besuchen und zu sehen, denn meine Mutter war der Überzeugung, dass meine Anwesenheit Großmutter sehr traurig gestimmt hätte. Denn Großmutter war stets sehr um mich besorgt gewesen und wollte mich nur ungern ohne ihren Schutz allein in dieser Welt zurücklassen. Dadurch konnte ich meine Großmutter so in Erinnerung behalten, wie sie immer gewesen war. Dann aber verlor ich meine Stimme, konnte auf einmal nicht mehr gehen und hinkte monatelang mit dem linken Bein.
Ich empfand nach ihrem Tod nie Angst in ihrem Zimmer und schlief weiterhin in ihrem Sterbebett, weil ich wusste, dass sie mich über alles geliebt hatte. Und ich sollte sie noch einmal nach ihrem Tod erleben.
Es war eines Mittags gegen ein Uhr, ich war allein in dem Zimmer, in dem sie gestorben war, saß auf ihrem Bett und zeichnete auf einem Stück Glanzpapier die Illustration von der „Geschichte außerhalb des Konfuzianischen Waldes“ nach, die mein Großvater gerade las und die neben dem Kopfkissen lag. Das Glanzpapier war sehr glatt, und ich musste sehr weiche Bleistifte benutzen, um überhaupt etwas zeichnen zu können. In einem völlig unerwarteten Augenblick dachte ich an meine Großmutter. Ich vermisste ihre Berührung und die Wärme ihrer Hände, ich vermisste ihre Aura und den Geruch von ihr. Liebe und Zuneigung überdauern den Tod wie die zwei Hälften einer gespalteten Lotoswurzel, die noch mit zarten Fasern zusammenhängen. Wie schön es doch wäre, dachte ich, wenn Kinder wirklich, wie so oft behauptet wurde, die Toten sehen könnten. Ich war selber von diesem unerwarteten Gedanken überrascht. Dann geschah etwas Wunderbares: Die Flaschen auf der Fensterbank begannen zu vibrieren und tauschten, wie von Menschenhand bewegt, ihre Position. Obwohl sie nicht verschlossen waren, wurde dabei nichts verschüttet. Ich war unglaublich ruhig und mir sicher, dass meine Großmutter mich in diesem Augenblick besuchte. Ich sagte: „ Oma, bist du es? Schön, dass du mich besuchst, du fehlst mir so sehr!“ Ich erzählte ihr, wie es in der Schule lief, und wie ich, als sie starb, auf einmal nicht mehr laufen konnte und der Tuina-Meister von Eryanjing mich kuriert hatte. Ich war von meiner eigenen Stimme beeindruckt, weil sie so ruhig und entschieden klang. Endlich konnte ich alles aussprechen, was mich seit Längerem bedrückte. Natürlich erhielt ich keine Antwort von ihr. Ich weiß nicht, wie Psychologen und Psychoanalytiker dieses Phänomen erklären würden. Ich war vollkommen gesund, hatte weder Fieber noch Hunger. Es gab zu dieser Zeit auch kein Erdbeben oder eine sonstige Naturkatastrophe. Es war ein ganz normaler, schöner und sonniger Tag. Nein, ich hatte niemanden gesehen, war aber dennoch von Großmutters Anwesenheit überzeugt. Denn ich spürte wieder die Wärme, die gewöhnlich von ihr ausgegangen war, die Energie, die mich mit einem Glanz umhüllte. Der Raum wurde lichter und ganz erfüllt von Großmutters freundlicher Ausstrahlung. Ich hatte keine Angst, denn ich wusste, wie wichtig ich für Großmutter war. Sie wollte mir ihre Liebe zeigen, würde mir aber niemals Angst einjagen. Sie machte sich Sorgen um mich und wollte sich vergewissern, dass es mir nach ihrem Tod gutging. Nach diesem Besuch sah ich mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass Liebe den Tod überdauern kann, und dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Dass die Toten, die uns liebten und die wir lieben, uns im Leben überall schützend beistehen, uns eine Kraft verleihen, deren Herkunft wir nicht erklären können. Das macht unser Leben sicherer.
Während meines späteren Studiums der Psychologie las ich C. G. Jung. Auch Jung hatte ähnliche Vorfälle erlebt. Im Zug auf dem Heimweg in die Schweiz geriet das Wasserglas auf dem Tischchen vor ihm plötzlich in Bewegung und hinterließ eine Pfütze darauf. Just in diesem Augenblick dachte er, dass seinem Sohn gerade etwas Schlimmes widerfuhr. Zu Hause angekommen, sollte er erfahren, dass sein Sohn zu jenem Zeitpunkt, als sein Wasserglas grundlos in Bewegung geraten war, in einem See ertrunken war. Jahre später in Nanking sollte ich noch einmal ein ähnliches Erlebnis haben.