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Ein mutiger Schritt

Eine ganze Generation junger Intellektueller wurde seelisch krank. So auch mein Vater, der, geplagt von Gewissensbissen und außerstande, weiterhin zu lügen, seine Propagandaarbeit nicht mehr fortsetzen konnte. Die Lethargie erfasste die ganze Nation und erzeugte bei ihm gleichzeitig einen inneren Widerstand. Sechs Jahre lang war er verantwortlich gewesen für die Inszenierung des schönen Scheins von einem sozialistischen Tibet. Mit seinem Dolmetscher und Leibwächter war er auf dem Rücken seines Pferdes kreuz und quer durchs Land gereist, hatte den Leuten die politischen Richtlinien erläutert und versucht, das Bewusstseinsniveau tibetischer Kader für Maos Politik zu heben. Zweimal hatte ihn dabei der Tod gestreift. Als er einmal im Kloster Kumbum Champa Ling übernachtete, überfielen bewaffnete Tibeter das Kloster, töteten ohne Unterschied alle Han-Chinesen, plünderten die Lebensmittelspeicher und verschleppten alle Pferde. Mein Vater wurde von einem alten Mönch in dessen Schlafgemach versteckt und entging so haarscharf dem Tod. Seine Mitreisenden hatten dieses Glück nicht gehabt und wurden alle massakriert. Noch einmal wurde mein Vater angeschossen, als er mit seiner Reitertruppe in dem weiten Wüstenland von Golmud unterwegs war. Er verlor sein geliebtes Pferd, jenen getreuen Gefährten und Freund, der ihn seit Jahren täglich begleitet hatte.

Das Phänomen Mao manifestierte sich unterdessen als Stehaufmännchen. Immer wieder schaffte es der Führer, seine innerparteilichen Widersacher zurückzuschlagen, obwohl die allgemeine Stimmung eindeutig gegen ihn war. Viele Freunde und Kollegen meines Vaters wurden als Rechtsabweichler verurteilt, in Arbeitslagern interniert und dem Hungertod überlassen, weil sie es gewagt hatten, Mao und dessen Politik offen zu kritisieren. Der beste Freund meines Vaters, der Violinist Su, starb in einem Arbeitslager an einer Vergiftung, weil er aus lauter Hunger heimlich das chemisch behandelte Saatgut gegessen hatte. Auch der Gouverneur Zhang, der oberste Chef meines Vaters, wurde entmachtet und eingesperrt, weil er offen die Idee der Volkskommune in tibetischen Gebieten als unzeitgemäß und schlecht durchführbar kritisiert hatte. Die Arbeit der Propaganda war immer widersinniger geworden. Mein Vater musste eine Schauspieltruppe und eine Wagenladung voller tibetischer Kostüme mitschleppen, wenn er aufs Land ging und den Anschein fabrizierte, dass es den Menschen in den Volkskommunen gutgehe. Überall wo er hinkam, gab es ein Fest. Denn er ließ die Schauspieler die traditionellen Gewänder der Tibeter anziehen, ließ sie singen und um ein Lagerfeuer tanzen. Die örtlichen Behörden mussten für die entsprechenden Fotos ein Festmahl herrichten, obwohl die Menschen in den Kommunen verhungerten. Tagtäglich erlebte er, wie Tibeter Han-Chinesen aus Hass und Wut umbrachten und ausraubten. Was er aber berichten musste, war, dass es den Menschen auf dem Land gutging und die Tibeter die Han-Chinesen brüderlich liebten. Er spürte seinen wachsenden inneren Widerstand, und dieser Widerstand machte ihm Angst. Er wusste, dass er früher oder später als Konterrevolutionär verurteilt und vernichtet werden würde, wenn er die Parteilinie nicht auf Ehre und Gewissen verteidigen konnte. Bevor es zu spät war, bevor auch er öffentlich als Rechtsabweichler abgestempelt würde, wollte er lieber selbst kündigen. Er wollte nicht mehr dazugehören, tat es aus Enttäuschung und Angst um seine eigene Zukunft und wegen der Vorahnung einer noch viel blutigeren Kulturrevolution.

Er hatte die Rechnung jedoch ohne den Wirt gemacht. Seine Kündigung im Jahr 1962 brachte ihm sehr viel Kritik, Unverständnis und vor allem wirtschaftliche Nachteile ein. Ab der zweiten Jahreshälfte 1961 hatten Präsident Liu Shaoqi und sein Wirtschaftslenker Chen Yun durchgesetzt, dass Funktionäre und Beamte ab dem 17. Grad monatlich zusätzlich zur regulären Lebensmittelration noch 1 Kilo Fleisch, 1 Kilo Sojabohnen, 500 Gramm Zucker, 20 Eier, 20 Packungen Zigaretten und zwei Flaschen Alkohol bekamen, und das, obwohl die Bauern erbärmlich verhungerten. So kündigte mein Vater nicht nur seinen Posten als Propagandaadministrator, sondern verzichtete damit auch auf ein Monatsgehalt von 194 Yuan und Vergünstigungen wie beispielsweise zusätzlichen Lohn für die Arbeit auf dem Hochland (Qinghai liegt durchschnittlich 2200 Meter über dem Meeresspiegel), Geld für Kinder- und Altenbetreuung und eine kostenlose medizinische Versorgung. Mit seiner Frau hatte er über seine Absichten nie gesprochen, und als er eines Tages zu meiner Mutter sagte, dass sie jetzt die Heimreise antreten würden, war sie davon überzeugt, dass sie nur einen Heimaturlaub machen würden. Die Tatsache, dass er nach der Kündigung kein geregeltes Einkommen mehr hatte und sich und seine Familie durch Gelegenheitsjobs unter den meist analphabetischen Wanderarbeitern ernähren musste, hat ihn nie reumütig werden lassen. So sehr enttäuscht war er von Maos Kommunismus, dass er lieber hungerte, statt seine Seele an das diktatorische Regime zu verkaufen. Nie mehr wollte er an einer Welt mitwirken, in der Menschen aus Hunger andere Menschen töteten und aufaßen.

Wir reden oft darüber, warum Chinesen so leidensfähig sind und fast jede Quälerei und Despotie ohne Widerstand erdulden. Warum sind mindestens 36 Millionen Menschen lieber verhungert anstatt aufzustehen und die Despoten mit Gewalt zu verjagen? Warum akzeptierten 200 Millionen Menschen brutalste Unterdrückung und unmenschlichste Peinigung fügsam als ihr Schicksal, ohne sich dagegen aufzulehnen? Es ist mir ein Rätsel. Mögen die Psychologen darüber befinden, ob diese Leidensfähigkeit von der grausamen traditionellen Praxis der gewaltsamen Verstümmelung von Mädchenfüßen stammt. Immerhin sind wir alle die Kinder von Frauen und tragen ihre DNA in uns. Und ist diese Leidensfähigkeit nicht wie so viele epigenetische Erkrankungen meist auf die traumatischen Lebenserfahrungen der Mutter zurückzuführen? Seit der Tang-Dynastie, also seit ungefähr 1500 Jahren wurden Frauen in China die Füße verstümmelt, um dem Schönheitsideal von besonders zierlichen Füßen zu entsprechen und die krankhafte sexuelle Vorliebe der Männer dafür zu befriedigen. Unter Tränen banden Mütter ihren eigenen Töchtern ab dem vierten Lebensjahr gewaltsam die Füße ein, sodass sie vor Schmerzen nicht aufhörten, zu weinen, solange sie in der Wachstumsphase waren. Je reicher und gebildeter die Familien waren, desto kleiner sollten die Füße der Töchter sein. Es gab kein schmerzerfüllteres, schrilleres, traurigeres und zugleich verzweifelteres Weinen in der menschlichen Welt als das Weinen der Töchter beim Einbinden der Füße. Mir treibt allein schon der Gedanke daran die Tränen in die Augen, während ich diese Zeilen schreibe. Jahrelang konnten die Mädchen nicht gehen und mussten von den Männern überallhin getragen werden. Die Täterinnen waren fast ausschließlich die eigenen Mütter, die in ihrer Kindheit selbst schon die gleichen Schmerzen erlitten hatten. Was für eine Schizophrenie, was für eine Überwindung es kosten musste, den eigenen Kindern solche Schmerzen zuzufügen mit dem Argument, dass es ein notwendiges Opfer für ihre segensreiche Zukunft sei. So wurden Schmerzen und Verstümmelung folgsam hingenommen, und die Fähigkeit zu leiden von Generation zu Generation vererbt. Gott sei Dank hatte Dr. Sun Yat-sen diese jahrtausendealte Praxis 1910 verboten.

Mein Vater und ich sind uns darin einig, dass der Charakterzug der Chinesen, Widrigkeiten fügsam hinzunehmen, wissenschaftlich untersucht werden sollte, um herauszufinden, ob wir von Natur aus nur im Leiden Freude empfinden können und ob wir für universale Werte wie Freiheit und Demokratie überhaupt genetisch geschaffen sind.

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