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ОглавлениеRot oder schwarz – Eine Frage des Überlebens
Der 14. September 1963 war ein Samstag, ein milder, frühherbstlicher Tag mit einem strahlend blauen Himmel, getupft nur von ein paar weißen Schäfchenwolken. Der Gesang der Zikaden ertönte hier mal anschwellend laut, dort abflauend leise, und die Bäume, immer noch in ihrem schönsten Kleid, verloren ihre ersten bunten Blätter in der zarten, milden Brise. Um welche Uhrzeit ich geboren wurde, kann meine Mutter mir nicht genau sagen. Es war in Xuzhou auch nicht üblich, die genaue Geburtsstunde und -minute zu notieren. Sie weiß aber, dass es vormittags nach neun Uhr gewesen sein muss. Denn als mein Großvater um neun Uhr morgens vorbeikam und sich nach dem Stand der Dinge erkundigte, war ich noch nicht auf der Welt. Und so mussten sich meine Großeltern draußen vor dem Kreißsaal noch etwas gedulden, bis sie schließlich hocherfreut ihr gesundes Enkelkind in die Arme schließen konnten. Sie gaben mir den Kosenamen Dashun. „Da“ bedeutet groß und ist ein Attribut zu „Shun“, was „stromabwärts fahren und in Windrichtung segeln“ heißt. „Shun“, semantisch ein „Unternehmen ohne Widerstand und Gegenwehr“, bedeutet Erfolg, der im Einklang mit den Himmelsregeln und den irdischen Gesetzen steht. So heiße ich nun „Shun“ und trage die frommen Wünsche und die Hoffnung der Großeltern in mir, den rechten Weg im Einklang mit dem gesellschaftlichen Fortschritt zu gehen. Sie wollten mit dieser Namensgebung auch sozialen Ungerechtigkeiten vorbeugen, die sich aus meiner diffusen Klassenzugehörigkeit ergeben konnten. Zu guter Letzt wünschten sie sich ein ehrerbietiges und gehorsames Kind. Denn auch das bedeutet „Shun“: Gehorsam und ehrfurchtsvoller Respekt. Zusammen mit weiteren Charakterzügen ergeben sich daraus weitere vierzig Redewendungen, die wiederum Hunderte von Bedeutungen haben. Doch bevor ich mich in endlosen chinesischen Wortklaubereien verliere: Was meine Großeltern mir mit diesem Kosenamen wünschten, war ein Leben ohne materielle Nöte und ohne seelisches Leid. Sie wünschten mir schlicht und ergreifend körperliche und seelische Unversehrtheit.
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, entbehrte jedoch jeglicher Harmonie. Als ich im Kreißsaal des „Krankenhauses der Brüderlichkeit“ in der BoÁi-Straße zur Welt kam, war die Luft vom Verwesungsgestank der Leichen von sechsunddreißig Millionen Verhungerten geschwängert, und der Regen spülte immer noch die Blutströme von dreißig Millionen Menschen von den Straßen, die während der proletarischen Diktatur grausam verstümmelt worden waren. Es war eine Zeit des rebellischen Lärmens und terroristischen Getöses, eine Zeit tiefster Finsternis, in der Maos blutige Kampagnen den Alltag bestimmten. Die Menschen wurden in rote und schwarze Kategorien eingeteilt und vermeintliche Feinde auf brutalste Weise gequält oder getötet – und das im Namen einer Ideologie, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebte.
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, war auch eine Zeit der allgemeinen bitteren Armut. Denn die sogenannte große Bodenreform, bei der sowohl große als auch kleine Landbesitzer systematisch enteignet worden waren, hatte statt zu fruchtbaren Ernten zu furchtbaren Gewaltexzessen unter der Bevölkerung geführt und die Idylle des Landlebens in kolossale Armut und Hunger verkehrt. Noch katastrophaler waren die Auswirkungen des „Großen Sprungs nach vorn“, Maos Versuch, aus dem rückständigen Land eine Industrienation zu machen. Der Aufruf an das Volk zum Bau von Hochöfen und zur Stahlproduktion hatte dazu geführt, dass die Bauern ihre Felder vernachlässigten und stattdessen unter erbärmlichsten Bedingungen minderwertiges Eisen produzierten, dem perfiderweise auch dringend benötigte landwirtschaftliche Geräte und Werkzeuge geopfert wurden. So endete der „Große Sprung nach vorn“ Anfang der 1960er-Jahre in einer der größten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte.
Nach dem gescheiterten „Großen Sprung nach vorn“ entstand in China eine neue Klassengesellschaft, bestehend aus Armen, Ärmeren und Ärmsten, und die Klassifizierung der Menschen erfolgte aufgrund zweier Kriterien: In politischer Hinsicht wurde man, je nachdem, was für Eltern man hatte, in eine rote oder eine schwarze Klasse eingeteilt, und in materieller Hinsicht fand eine Trennung in Land- und Stadtbewohner statt. Die Menschen wurden unter strengster Überwachung auf ihre jeweilige Klassenzugehörigkeit und ihren Wohnort festgenagelt. Wo man geboren wurde und von welchen Eltern man abstammte, bestimmte also das spätere Schicksal jedes Einzelnen. Nur der Geburtsort war entscheidend dafür, ob man hungern musste oder einigermaßen satt wurde. Wurde man auf dem Land geboren, half einem auch eine rote Herkunft nicht immer, und man war von den ohnehin schon streng rationierten Lebensmitteln abgeschnitten. Wurde man dagegen in der Stadt geboren, hatte man selbst dann noch materielle Vorteile, wenn man nicht zur roten Klasse gehörte. Die Zweiteilung der Menschen in eine Landbevölkerung und in Städter zog eine willkürliche Linie zwischen Armut und Prosperität, sozialem Elend und sozialer Fürsorge. 80 Prozent der Chinesen waren damals in maoistischer Terminologie als „arme Bauern und untere Mittelbauern“ bezeichnete Dörfler, de facto Menschen zweiter und dritter Klasse in ihrem eigenen Land. Jeder meiner Generation, da bin ich mir sicher, wird ein trauriges Lied von dieser Zeit zu singen wissen.
Ich wurde, Gott sei Dank, in der Stadt geboren. Wie jedes neugeborene Kind musste ich im Hukou eingetragen werden, dem Einwohnerregister der Sicherheitsbehörde. Jede Familie besaß ein Heftchen, das auf Reisen auch als Ausweis diente. Geburtsurkunden wie in Europa gab es nicht. Das Hukou war das wichtigste Dokument, das jede Familie mit sich führte. Es glich einem Meldeschein des Einwohnermeldeamts, hatte aber lebenswichtige Bedeutung. Denn es berechtigte einen zu Bildung, Beruf und Nahrungsmitteln. Ich bescherte meinen Eltern monatlich Bezugsscheine für 5 Kilo Getreide, 5 Eier, 50 Gramm Zucker, 0,2 Liter Speiseöl, 250 Gramm Fleisch und 500 Gramm Fisch sowie allerlei sogenannte Nebenlebensmittel wie Tofu und Nüsse. Obst und Gemüse kaufte man, wenn es überhaupt welches gab, ohne Bezugsscheine. Ein Neugeborenes war allein aus diesem Grund allemal eine Freude für die ganze Familie. So habe ich es also meinem Geburtsort zur verdanken, dass ich das allgemein vorherrschende Gefühl des Hungers, das meine ganze Generation geprägt hat, nicht am eigenen Leib erfahren musste. Üppig waren die Mahlzeiten nie, aber es gab genug, um satt zu werden.
Mein behördlicher Name lautet Chen Zhaoyang. Er stammt von meinem Vater und bedeutet aufgehende Sonne. Nach dem traditionellen Ahnenkult und dem Willen meines Urgroßvaters hätte ich Chen Yushun heißen müssen, weil „Yu“ als Kennzeichen meiner Generation im Stammbuch unserer Vorfahren festgeschrieben ist und alle meine Cousins und Cousinen „Yu“ als Bindeglied im Namen tragen. So heißen mein Cousin Chen Yulong und meine Cousine Chen Yuqin et cetera. Ganz im Zeichen der politischen Kampagne „Niederreißen der vier Alten“ (Gedanken, Kulturen, Gebräuche, Gewohnheiten) wollte mein Vater die Tradition nicht fortsetzen und gab uns Namen, die die Jugendfrische und Lebenskraft des neuen Staates symbolisieren sollten. So bedeutet der Name meiner Schwester „Knospe in der Morgenstunde“, der Name meines Bruders „gen Himmel strebende Vitalität“. Die Namensgebung reflektierte selbstverständlich das soziale Milieu und den Zeitgeist. Mein Vater wünschte sich, wie alle Eltern seiner Generation, dass wir im neuen China unter der roten Fahne gesund und glücklich aufwachsen würden.
Die Geburt allein berechtigte einen jedoch noch nicht zum Leben. Auch die Namensgebung allein bescheinigte noch nicht die Existenz eines Neugeborenen. Als Mensch fing man erst an zu existieren, wenn die Klassenzugehörigkeit festgestellt worden war. Die Bestimmung der Klassenzugehörigkeit war in den 1960er-Jahren der Hauptinhalt der kommunistischen Blutlehre. Die perfide Art und Weise der lückenlosen Sortierung der Menschen diente einerseits der Verfolgung von Menschen besitzbürgerlicher Herkunft und der sozialen Ausgrenzung der vormaligen Führungseliten, andererseits der Schaffung und Reglementierung der neuen proletarischen Gesellschaft. Die Frage nach der Klassenzugehörigkeit war die am häufigsten gestellte Frage im Land. Sie wurde gestellt beim Antrag auf einen Kindergartenplatz, bei der Aufnahme in die Schule, bei der Arbeitssuche, bei der Heiratsanbahnung und der Familiengründung. Die Klassenzugehörigkeit entschied auch darüber, ob jemand nach dem Tod ordentlich bestattet wurde. Nachkommen aus den fünf schwarzen Kategorien von Großgrundbesitzern, Großbauern, Konterrevolutionären, Übeltätern und Rechtsabweichlern waren kraft Abstammung Klassenfeinde. Sie waren von Geburt an politisch Verfemte und Objekte des Klassenkampfs. Der deutsche Philosoph Karl Marx hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff von der Klassengesellschaft geprägt und betrachtete die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von fortwährenden Klassenkämpfen. Eine gesellschaftliche Neuordnung, die der kapitalistischen Klassengesellschaft ein Ende bereitete, konnte ihm zufolge nur errichtet werden, wenn das Proletariat alle ausbeuterischen Elemente der früheren Führungseliten systematisch eliminierte. Wer aber waren die neuen Feinde, nachdem die Feinde wie die ehemals regierende Kuomintangix und die imperialistischen Kolonialmächte besiegt und aus dem Land vertrieben worden waren? So kam die Volksregierung nach der Gründung des kommunistischen Chinas 1950 auf die Idee, die Menschen nach Klassenzugehörigkeiten zu separieren und sie dadurch zu Klassenfreunden bzw. -feinden zu machen. Die Menschen wurden daher in fünf Kategorien und 58 Klassen unterteilt. Das war die nötige Voraussetzung für einen Klassenkampf. Bei der behördlichen Anmeldung musste also meine politische Klassenzugehörigkeit festgestellt und in das Formular eingetragen werden. Ein trauriger Akt, der meiner Familie viel Streit und Kummer bescherte. Zwei Jahre zuvor war mein Vater noch „revolutionärer Kader“ gewesen. Daher durfte meine ältere Schwester noch ohne Weiteres als Sprössling eines revolutionären Kaders angemeldet werden. Nach der freiwilligen Kündigung seines Beamtenstatus war mein Vater jetzt allerdings ein Freiberufler, der zu den gesellschaftlichen „Sonderlingen“, wenn nicht „Übeltätern“ gezählt wurde, weil Freiberufler, wie der Name schon sagt, frei von den systemimmanenten Arbeitseinheiten und deshalb frei von jeglicher Kontrolle waren. Unter diesen Umständen hätte ich die Klassenzugehörigkeit meiner Mutter oder meiner Großeltern übernehmen müssen. Denn hier ging es nur um die Klassifizierung in rote oder schwarze Gruppen. In meiner Familie mütterlicherseits gab es drei berühmte Großgrundbesitzer: Liu, Sha, Shi, nach denen schon seit Jahrhunderten drei Gemeinden in Xuzhou benannt sind. Alle drei Familienoberhäupter wurden unmittelbar nach der Machtübernahme von den Kommunisten auf grausamste Art und Weise ermordet. Die Klassenzugehörigkeit meiner Familie mütterlicherseits war also denkbar schlecht für uns Kinder und durfte auf keinen Fall vererbt werden. Die Klassenzugehörigkeit väterlicherseits fiel in die Kategorie Handel und Kommerz, Klasse nationalistischer Kapitalisten. Beide Elternteile waren also nicht roter Herkunft. Mein Vater wollte aber nicht zulassen, dass meine Klassenzugehörigkeit irgendwie schwarz gefärbt wurde. So verwickelte er die Chefin des Straßenkomitees, eine gewisse Frau Tian, so sehr in eine verwirrende Diskussion, dass sie am Ende völlig entnervt aufgab und meinem Vater erlaubte, meine Klassenzugehörigkeit auf dem Formular seinen Vorstellungen entsprechend anzugeben. So lautete meine Klassenzugehörigkeit, genau wie die meiner Schwester, „revolutionärer Kader“. Das war die Klasse meines Vaters, der im roten China sein Diplom erworben und als Regierungsbeamter gearbeitet hatte. Diese Klassenzugehörigkeit konnte uns Kindern in den ersten zehn Lebensjahren Sicherheit verschaffen und vor politischer Verfemung schützen, obwohl meine Mutter aus einer „ausbeuterischen“ Familie stammte. Unser Schicksal sollte jedoch eine entscheidende Wendung nehmen, als mein Vater als mutmaßliches Mitglied der konterrevolutionären 516-Verschwörerclique ins Gefängnis geworfen wurde. Da war ich bereits neun Jahre alt. Wegen seiner Inhaftierung wurden wir später nachträglich zu Mitgliedern der „Fünf schwarzen Elemente“ gemacht. Es folgten Jahre der Angst vor der Frage nach der Klassenzugehörigkeit, was mich seelisch nicht unversehrt ließ.
Die Blutlehre der Kommunistischen Partei Chinas, der KPCh, wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Millionen Märtyrer, die gegen diese Lehre und für eine Rehabilitation kämpfen, warten vergeblich darauf, dass ihre leidvolle Geschichte aufgearbeitet und ihnen eine ehrbare und unschuldige Jugend zumindest in moralischer Hinsicht zurückgegeben wird. Helden wie Yu Luoke, der in seinem berühmten Aufsatz „Über die Herkunftstheorie“ die Klassenzugehörigkeitspraxis der KPCh sehr zutreffend und sehr überzeugend kritisierte und deswegen 1970 mit nur siebenundzwanzig Jahren hingerichtet wurde, vertraten die Ansicht, dass die Weltanschauung eines Menschen nicht von der Klassenzugehörigkeit abhängig sein konnte. Menschen qua Geburt in gute und schlechte Klassen zu kategorisieren, hätte mit dem Marxismus nichts zu tun und würde Millionen unschuldigen Kindern das Lebensrecht absprechen. Die Politik der kommunistischen Führung, die Menschen systematisch durch Herkunftsverordnungen zu entrechten und zu diskriminieren, glich den Nürnberger Rassengesetzen Nazi-Deutschlands. Unschuldige Menschen wurden aus der zivilen Gesellschaft ausgestoßen. Sie mussten einen schwarzen Flicken auf der Brust tragen und auf jeder Massenversammlung vorsingen:
„Ich bin ein Rinderteufel und Schlangengeist,
ich bin wegen meiner Herkunft schuldig,
ich bin ein geborener Verbrecher gegenüber dem Volk,
das Volk hat zu Recht die Diktatur über mich.
Ich darf nur aufrichtig, ehrlich und gewissenhaft sein, ich soll keine unverantwortlichen Bemerkungen machen und mich nicht unerlaubt fortbewegen.
Wenn ich nicht gehorsam bin,
wird mir der Schädel zertrümmert!“
Heute lachen die Kinder darüber, wenn sie das Lied hören, das in ihren Ohren sarkastisch, hohl und intelligenzbeleidigend klingt. Doch mir ist es unmöglich, ihnen meine damalige Ohnmacht und Angst zu vermitteln. Niemand ahnte 1970, dass die öffentliche Hinrichtung von Yu Luoke vor 100 000 Menschen im Sportstadium der Arbeiter in Peking noch längst nicht der Höhepunkt des kommunistischen Klassenwahns sein sollte. In den ersten dreißig Jahren des kommunistischen Regimes in China wurden nach unvollständiger Berechnung mindestens 29 Millionen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zur schwarzen Klasse getötet. Wie viele Menschen insgesamt der blutigen Diktatur des großen Führers Mao zum Opfer fielen, geht aus Zahlen hervor, die – von der KPCh selbst bestätigt – folgendermaßen aussehen:
987 000 Menschen wurden 1950/51 in der „Nieder-mitden-Konterrevolutionären“-Kampagne getötet;
75 000 wurden 1955/56 hingerichtet;
2,6 Millionen Rechtsabweichler und deren Familienangehörige wurden 1956/57von ihren Wohnorten und Arbeitsplätzen entfernt und größtenteils durch Sklavenarbeit eliminiert;
41,36 Millionen Menschen sind in den Jahren 1958 bis 1962 verhungert;
29,53 Millionen „schwarze Elemente“ konterrevolutionärer Herkunft starben zwischen 1962 und 1966 eines unnatürlichen Todes;
712 000 „Übeltäter“ fielen zwischen 1966 und 1976 einer Säuberung zum Opfer.
Insgesamt ließ der „große Führer“ also mindestens 75 Millionen unschuldige Menschen ermorden. Zusätzlich wurden unzählige Familien auseinandergerissen und deren Mitglieder brutal verfolgt und misshandelt. Dieser grausame Teil der Geschichte Chinas wird von den politischen Machthabern in Peking bis heute unter den Teppich gekehrt.
Die „Fünf schwarzen Klassen“ bildeten also das Freiwild unter der proletarischen Diktatur. Jeder durfte sie bestrafen, wie und wann er wollte. Zu den Strafen gehörten vor allem Verfemung, öffentliche Diffamierung und Selbst- bzw. Lynchjustiz. Denn eine Justiz im Sinne einer veritablen Rechtspflege gab es in den ersten dreißig der kommunistischen Herrschaft nicht. Es gab auch keine regulären Gefängnisse, wie man sie aus Rechtsstaaten kennt, sondern vielmehr Arbeitslager, die organisiert waren wie die Konzentrationslager der Nazis. Es war keine Straftat und wurde auch nicht politisch hinterfragt, wenn ein Roter einen Schwarzen im Affekt umbrachte oder durch Misshandlung tötete. Täglich sahen wir, wie Menschen auf der Straße zu irgendeiner Volksversammlung getrieben wurden. Als Sündenböcke und Prügelknaben dienten sie der Volksbelustigung. Sie mussten sich einen langen Papierhut aufsetzen und eine Holztafel mit ihrem Namen tragen, der rot durchgestrichen war. Die Streichung des eigenen Namens bedeutete: Freiwild. Derart gezeichnet mussten sie in gebückter Haltung durch eine von der Menschenmenge gebildete Gasse laufen, wobei sie beschimpft, geschubst, geschlagen und bespuckt wurden.
Dass ich dank des vehementen Einsatzes meines Vaters die „richtige“ Klassenzugehörigkeit erhielt und so gerettet wurde, dafür bin ich bis heute zutiefst dankbar. Mein Vater stammte zwar aus einer Buchhändlerfamilie, die nach der Klassentheorie der Kommunisten nicht zu den Roten gehörte, hatte aber sein Studium der Volkswirtschaftslehre im schon kommunistischen China abgeschlossen und nach dem Studium als Kader in der Provinzregierung Qinghai gearbeitet. Deswegen gehörte er nicht zur schwarzen Klasse. Das war insofern ein Glücksfall, als Menschen, die fünf Jahre vor meinem Vater noch zur republikanischen Zeit studiert hatten, vom Vorsitzenden Mao höchstpersönlich pauschal als kapitalistische Intellektuelle abgestempelt und zur Umerziehung durch Zwangsarbeit verurteilt wurden.