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6. Celine

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Samstag, 17 Uhr.

Ich stehe vor Celines Wohnung. Habe geklingelt und höre Schritte. Sie öffnet die Tür. Sichtlich überrascht, begrüßt sie mich: „Du?“ „War gerade in der Gegend und dachte, ich schau mal vorbei.“ Sagte ich. „Mit dir hätte ich jetzt am allerwenigsten gerechnet“, erwiderte sie immer noch sichtlich überrascht. Wie viele Monate ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben?“ „So ungefähr ein Jahr“, entgegnete ich einigermaßen vorbereitet. Sie bat mich herein und ich fragte vorsichtshalber, ob ich nicht störe oder ungelegen käme. Die Antwort wollte ich gar nicht wissen und war erst einmal froh, dass sie alleine war und allem Anschein nach, auch alleine lebte. „Ich musste die Tage an dich denken“, meinte sie plötzlich. Das fängt ja gut an, dachte ich; warum an mich und nicht an Melvin? Als hätte sie meine Gedanken erraten, fuhr sie fort: „Hab’ ein amerikanisches Basketballspiel mit Dirk Nowitzki auf DSF gesehen, da musste ich an dich und Melvin denken.“ Melvin! Gut, sie kannte noch seinen Namen, kein schlechtes Zeichen. Darauf lässt sich aufbauen und kam mir einen Augenblick lang wie Inspektor Colombo vor, da ich scharf sinnierte, welche unverfängliche Frage ich ihr als nächstes stellen konnte. Wie Frauen in ihrem Wissensdurst eben sind, kam sie mir jedoch zuvor: „Wie geht es euch, dir und Melvin?“ Wer fragt der führt, hab’ ich mal irgendwo gelesen. Also, provozierte ich mit einer Gegenfrage, was Inspektor Colombo nie getan hätte: „Interessiert dich das wirklich Celine, oder willst du nur Smalltalk machen?“ Und schon bereute ich mein arrogantes und unpädagogisches Vorgehen, denn sie setzte sich auf den Küchenstuhl und sah mich schweigend an. Ich war dermaßen überrascht von ihrem Verhalten, da ich eine impulsive Celine in Erinnerung hatte. Eine Celine, die gekontert hätte, „Mach’ mich nicht von der Seite an!“ oder so ähnlich. Die von heute, sah mich jedoch nur an und schwieg.

Ich erwiderte ihren Augenkontakt und blickte in extrem ruhige Augen. Wunderschön und traurig. Mir kamen die Sekunden wie Minuten vor. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen meiner zu direkten Frage, Angst ein eventuelles Gespräch mit ihr von vornherein zu Nichte gemacht zu haben, Angst, dass sie mich dezent „hinaus begleitet“ und ich Melvin gestehen müsste, was für ein unfähiger Idiot ich bin. Meine Befürchtungen waren unbegründet, denn sie brach die Stille mit den Worten: „Natürlich interessiert es mich wie es euch geht. Kannst du annähernd erahnen, wie ich mich seit der Trennung von Melvin fühle? Wenn ein Mann mal fremdgeht, ist das cool; wenn eine Frau das macht, ist es eine Katastrophe und unverzeihlich.“ Schon wollte ich erwidern, dass er ihr längst verziehen habe. Doch ich war viel zu perplex, von der Art und Weise mit der sie dies sagte. Und die Wärme in ihrer Stimme verunsicherte mich. (Ich stehe total auf Wärme in weiblichen Stimmen.) „Seit sechs Monaten besuche ich wöchentlich eine Gruppentherapie, die sich mit Internetsucht befasst“, sagte sie plötzlich. Jetzt setze ich mich vollkommen perplex und wortlos auf einen Stuhl am anderen Ende des Küchentisches, weil ich nur noch „Bahnhof“ verstand. „Internetsucht?“, war das einzige was ich krächzend herausbekam. Sie erzählte mir alles. Von Anfang an. Wie es dazu kam, dass sie mit einem nahezu wildfremden Mann im Bett landete. Einer Internetbekanntschaft. Es begann mit langen und einsamen Abenden. Sie akzeptierte ja, dass Karriere in der freien Wirtschaft ihren Preis hatte. Wie bei den Ärzten in ihren Klinik-Jahren, mit vierundzwanzig oder mehr Stundenschichten, wo viele Beziehungen zerbrachen. Sie war auch nicht der Typ von Frau, der gut mit Einsamkeit umgehen konnte. Nachdem ihr eine Arbeitskollegin vorgeschwärmt hatte, wie locker und unverfänglich man im „Netz“ Kontakte knüpfen und stundenlang chatten könne, fing sie irgendwann auch damit an.

Anfangs kam sie überhaupt nicht damit klar, weil sie sich im Netz nicht auf Anhieb zurechtfand und schnell merkte, dass Lügen bei dieser unpersönlichen Art der Kommunikation ein immens präsenter Bestandteil sind. Erst als ihre Kollegin einige heiße Tipps gab, fand sie interessante Chatrooms. Alles war erlaubt. Die Abende wurden zusehends unterhaltsamer, sie vergaß ihre Sehnsucht nach Melvin und begann ein gefährliches Spiel im Cyberspace. Als Frau ist man auf dieser elektronischen Bühne extrem begehrt. Einfach aus dem Grund, weil die Mehrheit der Chatroom-User, männlich ist. Man stellt sich vor, mit Alter, Beruf, Aussehen, Hobbys, Familienstand, etc. Verschickt Bilder und lernt sich mit der Zeit immer mehr kennen. Das Tempo bestimmt man selbst. Unverbindlich und jederzeit sich die Freiheit nehmen zu können sich ohne Rechtfertigung zu verabschieden. Von der Sache her, genial. Wenn die langen Abende alleine nicht so dominant in ihrem Leben gewesen wären, hätte sie auch die Kontrolle behalten. Melvin war zeitweise auch an Wochenenden unterwegs. Dass er anscheinend gut mit dieser Distanz zurechtkam, verletzte sie sehr; sie fühlte sich dermaßen ungeliebt, dass sie häufig weinen musste und sich immer mehr gefühlsmäßig von ihm abkapselte. Als Ersatz für ihren Liebesentzug, entdeckte sie für sich das verführerische World Wide Web. Da gab es Männer, die wussten, wie man mit einsamen und vernachlässigten Frauen umgehen musste. Profis, die jede Sekunde ihrer Freizeit damit verbrachten nach Beute Ausschau zu halten. Heute weiß sie, dass streng genommen jeder Typ der sich auffällig viel im Netz aufhält, mit Vorsicht zu genießen ist. Dabei können Männer – im Gegensatz zu Frauen – in der realen Welt einfach abends ausgehen und leicht Kontakte knüpfen. Da sie stattdessen jedoch an ihren PCs kleben, stimmt häufig etwas nicht mit ihnen. Manche Typen sind in der Tat sehr attraktiv und können nahezu perfekt verbal mit Frauen umgehen. Das macht die Sache noch spannender und gleichzeitig komplizierter. Die wenigsten sind jedoch wirklich auf eine gesunde Beziehung aus. Oft sind es virtuelle Spanner, eine Spezies von „Cyberjägern“, mit dem Ziel attraktive Frauen kennenzulernen und zur Strecke zu bringen. Das heißt, sie im Netz verbal zu verführen und anschließend in der Realität flachzulegen. Das wusste sie jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie war süchtig nach ihren Chatrooms und freute sich darauf, endlich alleine zu sein, um ungestört online zu gehen. Stundenlang, manchmal bis kurz bevor Melvin müde nach Hause kam. Einem Typen namens Mark, erzählte sie nahezu alles von Melvin und sich. Möglicherweise einer der größten Fehler ihres Lebens. Mark war ihr virtueller Traummann. Eloquent und verführerisch charmant. Einfühlsam, verständnis- und humorvoll. Mit einer gelegentlichen erotischen Phantasie, welche sie sehr stimulierend fand. Manchmal saß sie nur im Slip am PC, um ihren Händen freien Lauf lassen zu können! Telefonsex ist ja schon ganz nett, aber Cyber-Chat-Sex ist ein megascharfer Kick. Mit der Zeit vergaß sie, dass es sich um eine Scheinwelt handelt. Ohne Fakten oder der Möglichkeit echtes Vertrauen aufzubauen. Es war ein irrer Kick und sie war in einem Grad süchtig geworden, dass sie wie ein Junkie Entzugserscheinungen hatte, wenn sie mal darauf verzichten musste. Mark drängte immer öfters darauf, sie endlich zu treffen. Was Celine eigentlich nie vorhatte. Doch die Neugierde, aufgestachelt durch wochenlanges Kennen lernen war größer. Er war ihre Cyber-Beziehung geworden; darauf hatte er es auch angelegt. Einsame Frauen in einer Weise an sich binden, dass sie – wenn man es clever genug anstellt – fast bedingungslos abhängig werden. Das hatte er erreicht. Sexuell gesehen, war sie trotz Cyber-Chat-Sex weiterhin sehr ausgehungert. Mark war ein Cyber-Vollprofi. Ein charmanter und getarnter Macho. Er wusste auch, dass sie immer noch tiefere Gefühle für Melvin hatte. Mark wollte sie jedoch – wie viele andere – lediglich für schnellen Sex. Wie eine Nutte, die er nicht zu bezahlen brauchte. Für diese Typen, ein geiler Zeitvertreib. Sie war sich sicher, dass Melvin im Hotel übernachten würde. Mark sah auch in der Realität sehr gut aus. Doch als er die Wohnung betrat, fühlte sie sofort, dass es ein folgenschwerer Fehler war! Die ganze Geschichte. Es sollte lediglich ein scharfer virtueller Zeitvertreib sein. Mehr nicht. Sie konnte den Stop-Knopf nicht mehr drücken. Der Wein tat sein Übriges. Eines führte zum anderen. Es ging sehr schnell. Sie empfand rein gar nichts.

Der Rest ist ja bekannt. Zum Kondom musste sie ihn zwingen, da er unbedingt ‚ohne’ wollte. An diesem Punkt, hatte sie die Gewissheit, dass er ein krankes Schwein war und sie eine dumme Kuh! Ein unerfahrener Teenager, der sich nach allen Regeln der Kunst willenlos verführen ließ. Im Nachhinein vermutete sie, dass er ihr irgendwas in den Wein getan hat. Melvin stand plötzlich in der Tür. Er drehte sich wortlos um und ging wieder. Sie weinte die ganze Nacht. Sie hatte ungeheure Magenkrämpfe. Sie wollte nur noch sterben. In jenen wenigen Sekunden, als er in der Tür stand, spürte sie, wie sehr sie ihn immer noch liebte. Sie erkannte außerdem, dass es mehr war, als „nur“ ein Fremdgehen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihr Verhalten gehabt. Es war eine Sucht geworden. Ein Begriff, den sie früher nur amüsant belächelt hätte. Seit 6 Monaten befand sie sich nun deswegen in Therapie, was ihr sehr gut tat. Sie hat sehr viel über sich erfahren. Zum Beispiel, dass sie Melvin immer noch liebte. Mehr als sie ahnte. Er ist der Einzige, dem sie diese wunderbaren Gefühle bislang entgegengebracht hat. Sie kannte sich selbst nur nicht gut genug. Es gibt keinen anderen Mann in ihrem Leben. Sie möchte die Therapie abschließen und dann ein neues Leben beginnen. Sie wünscht sich von Herzen in naher Zukunft, Melvin wieder zu sehen, um ihm all die Dinge, die ihr wichtig sind, sagen zu können.

Ich schaute sie wortlos an. Von der Celine, der vor einem Jahr, war lediglich ihr Körper übrig geblieben. Ihr neues Wesen faszinierte mich. Ihr Monolog glich einem modernen Glaubenscredo, bestehend aus Erkenntnis, Reue und Liebe. Ich schaute sie immer noch gebannt an und versuchte gleichzeitig die gegenwärtige Situation zu analysieren: Elvis Presleys „Suspicious Minds“ ging mir durch den Kopf! „Celine, ich finde es toll, dass du dich dermaßen geöffnet hast!“, war das Einzige was ich herausbekam. Und: „Ist Cyber-Chat-Sex wirklich besser als Telefonsex?“ Sie lächelte. „Willst du etwas trinken?“ „Gerne“, antwortete ich, nicht wissend, ob es doch besser wäre, zu gehen. Intuitiv spürte ich jedoch, dass es hierfür keinen Grund gab. Vielleicht wollte sie meine Reaktion auf ihre Ausführungen beobachten. Wir standen uns eigentlich nie besonders nahe, da sie für mich früher einen Tick zu kühl war. Wie schon gesagt, früher. In diesem Moment musste ich an Pia denken. Was mir bei ihr als Erstes gefiel, war ihre ruhige Art und ihre warme Ausstrahlung. Einmal, es war beim Abschied unseres dritten Dates, umarmte ich sie freundschaftlich. Eine himmlische Berührung. Hätte ich sie bloß nicht mehr losgelassen. Celine erinnerte mich in diesem Moment an sie. Celine hatte ihr Herz entdeckt. „Wie geht es dir denn so?“, war ihre überraschende Frage. Also erzählte ich ihr von meiner Kündigung, meiner anhaltenden Kreativlosigkeit und dem damit verbundenen Wunsch ein anderes Leben zu führen. Und natürlich von Pia. Celine lobte mich was meine Kündigung betraf und meinte ich sei bei dieser intellektuell kleinen Tageszeitung schon immer fehl am Platze gewesen, da ich mitunter zu viel Phantasie besaß. Hört, hört. Sie war noch nie der Typ Frau, der Komplimente verteilt. Bekommen ja, aber selbst welche geben – so gut wie nie. Das gehörte früher zu ihrer leicht unterkühlten Persönlichkeit. „Bei der New York Post oder der Los Angeles Times, bei so einem Kaliber könnte ich mir dich gut vorstellen!“ setzte sie noch eins drauf. Verlegen und irritiert trank ich schnell von meinem Glas Wasser. Erwidern konnte ich nichts, da sie sofort weiterfragte: „Und wer ist diese Pia?“ Schon wollte ich antworten: „Eine attraktive Frau von einem anderen Stern.“ behielt den Gedanken jedoch für mich, und entgegnete simpel: „Eine hoch intelligente Mathematikerin, mitte dreißig, die jedoch noch zuhause wohnt.“ „Ah non!“ war ihre amüsierte Reaktion. „Du Armer! Mathematiker leben doch in ihrer eigenen Welt“, schmunzelte sie. „Na ja, ganz so schlimm ist es vielleicht auch wieder nicht“, fügte sie immer noch lächelnd hinzu. “Du verstehst schon, in ihrem Fall vielleicht nicht in ihrer eigenen Welt, sonst würde sie ja nicht mehr zuhause wohnen! ‚Eigene Welt’ meine ich mehr im ‚introvertierten’ Sinne. Verstehst du Max?“ Ich verstand nicht und versuchte mir Celine im Slip vor dem PC vorzustellen und wie sie ihren Händen freien Lauf ließ. Ich kam mir in diesen Sekunden wieder wie der Arzt „JD“ aus der Comedy-Serie „Scrubs, die Anfänger“ vor, der permanent Tagträume hat. So einen Tag- bzw. Spätabendstraum hatte ich gerade auch und musste unbedingt Pia fragen, wie sie im allgemeinen, vor dem PC sitzt. Ich erzählte Celine noch, wie wir (Pia und ich) uns kennengelernt hatten, von unserem Treffen im Kaffee, am See und im Freibad, mit anschließender Stadtbesichtigung – und dass ich mit der Gesamtsituation eher unglücklich bin, jedoch nicht bereue, sie kennengelernt zu haben. „Das klingt ja spannend!“ murmelte Celine, lächelnd. Alleine dieses Lächeln gab ihr eine neue Persönlichkeit! Erneut freute ich mich für Melvin! Dieser Glückspilz! Ich ertappte mich, wie sehr ich ihn um diese zweite Chance beneidete.

„Max“, fuhr sie fort, „schreib doch ein Buch, einen Roman! Ich glaube, das könntest du!“ Vielleicht sollte ich mich auch mehr in diesen Chatrooms aufhalten. Reden kann ich und charmant bin ich auch. Vielleicht treibt sich Pia privat auch dort rum. Dann schließt sie ihre Zimmertüre ab, um ein wenig Privatsphäre zu haben und chattet stundenlang mit mir. Wie in dem Romantik-Drama „Rendezvous mit Joe Black“. Nein, den Film meine ich doch gar nicht. Den anderen: „E-Mail für Dich“, mit Tom Hanks und Meg Ryan. Ich bin Tom Hanks und Pia ist Meg Ryan und wir chatten dermaßen intensiv und wild, bis ich ihr (endlich) die entscheidende Frage stellen kann: „Was hast du (noch) an?“ Oh Gott, ich bin viel schlimmer als dieser JD aus Scrubs! Was hat Celine gerade gesagt? Ich – ein – Buch – schreiben? Über was? Über: Seinen Händen freien Lauf lassen? Schon wieder rät mir jemand, ich solle ein Buch schreiben. Und wer würde es kaufen? Vielleicht meine Mutter? Aber nur, um mir sagen zu können, wo überall Rechtschreibfehler sind und dass ich von deutscher Semantik, viel zu wenig Ahnung habe. Wer hat das Gegenteil behauptet? Wer würde es noch kaufen? Geht der Verlag vielleicht wegen mir und den schlechten Verkaufszahlen meines Erstlingswerkes dann Pleite und dutzende wenn nicht hunderte von Angestellten werden wegen mir und meiner literarischen Bruchlandung, daraufhin arbeitslos? Viele haben Familie und Kinder. Einige laufen Amok, weil sie Mitglied in einem Schützenverein sind und ein Waffenarsenal im heimischen Schlafzimmer haben, mit dem man wieder mal in den Irak einmarschieren könnte. Mein Roman wäre dann indirekt schuld, wenn wieder „Rot-Grün“ an die Macht käme, weil die das mit dem Irak Krieg so gut verkaufen können. Dann wäre ja Obama, ein zweiter Bush! Wie kommt jetzt Celine eigentlich auf „Roman schreiben“? Und warum komme ich mir, während ich diese Zeilen schreibe, vor, wie Frank Drebin von der Spezialeinheit aus „Die nackte Kanone“?

„Ich erkenne dich nicht wieder, Celine“, schrie ich sie fast an. „Früher hättest du so was nie gesagt! Hör’ auf damit, du machst mich verlegen“, stotterte ich. Nach einer kleineren Pause erwiderte sie: „Wenn du mal so tief unten warst wie ich, dann wirst du ein positiver und dankbarer Mensch. Schon allein deswegen, weil du Leute kennen gelernt hast, die dir dabei helfen. Auch wenn es sehr wehgetan hat, bin ich froh, dass ich dadurch ein neues Leben führen kann. Ich war eine femme fatale! Jeder Tag kann wie ein Neuanfang sein. Und wenn du den Mut aufbringst, kannst du ihn auch wie einen Neuanfang behandeln. Dankbarkeit hat mich zu der Frau gemacht, die gerade vor dir sitzt!“ Schach matt! – Ich konnte mit keinem Zug etwas erwidern. Was wie ein Versuch der Wiederverkupplung zweier Erwachsener begann, entwickelte sich zu einem der bedeutungsvollsten Unterhaltungen, welche ich seit langem geführt hatte. Celine Bretier (ihr Vater ist Franzose) hatte sich nicht nur zu einem reiferen und sensibleren Menschen entwickelt, sie erhielt dadurch eine Attraktivität und Ausstrahlung die simpel ausgedrückt, umwerfend war. Es war inzwischen einundzwanzig Uhr. Vier Stunden. Völlig perplex starrte ich auf meine Uhr. Wir schwiegen...

„Wow, du hast dich extrem zu deinem Vorteil verändert“, beendete ich endlich die Stille. „Als ich heute zu dir kam, war ich auf alle Eventualitäten vorbereitet. Ich rechnete damit, dass du mich gar nicht rein lassen würdest. Mich verdächtigen könntest, dich auszuspionieren. Womit du nicht mal so falsch gelegen hättest. Mir die Türe nicht öffnen würdest, obwohl wir über die Gegensprechanlage bereits gequatscht hätten, dein neuer Lover schon bei dir wohnen würde – was Melvin endgültig das Herz gebrochen hätte – oder, dass du nicht zu Hause sein könntest, oder auch nur so tun würdest, als wenn du nicht zu Hause bist, weil du gerade keine Lust hättest, jemandem zu öffnen. Oder gerade mit deinem neuen Lover 'Flaschendrehen' spielst. Stattdessen erzählst du mir Dinge über dich, die mir fast die Schamröte ins Gesicht treiben und machst mich zu einem sehr glücklichen Menschen, da ich nun meinem besten Freund sehr gute Nachrichten übermitteln kann!“ Sie unterbrach mich, indem sie abrupt die Hand hob und fragte: „Weiß Melvin, dass du hier bist?“ Ich erzählte ihr, wie mies es ihm geht und von unserer Strategie. Von dem Treffen auf der Autobahn und dem heutigen Überrumpelungsbesuch, mit dem einen Ziel, sie auszuspionieren. Herauszufinden, ob sie bereits einen „Neuen“ hat. Wieder lächelte sie. Mit dem einen Unterschied, dass ihre Augen jetzt feucht waren. „Geh jetzt bitte und richte Melvin aus, dass es keinen Neuen gibt und dass ich ihn wahnsinnig gerne treffen möchte!“ Sie begleitete mich zur Türe, nahm mich in die Arme, drückte mich und flüsterte: „Ich danke dir sehr, dass du mich heute besucht hast! Merci beaucoup!“

Auf dem Display meines Handys waren fünfzehn Anrufe. – Melvin! Der Arme, es war fast 22 Uhr. Was wird er wohl denken? Noch im Auto vor Celines Wohnung rief ich ihn zurück und bemühte mich, bis auf die letzte Silbe alles zu berichten. Gott sei Dank war mein Akku geladen. Und ich konnte endlich meine Wochenend-Flatrate voll ausnutzen, da ich fünfundvierzig Minuten später, immer noch vor ihrer Wohnung stand und erst losfahren wollte, als ich einen spürbar erleichterten Freund von meinem Handy wegdrücken konnte. Ich blieb weitere dreißig Minuten regungslos im Auto sitzen, da ich a: immer noch nicht glauben konnte, welch überraschend positiven Abend ich mit Celine verbracht hatte, b: was eigentlich passiert wäre, wenn wir uns nicht in dieser muffigen Autobahnraststätte getroffen hätten, c: was jetzt wohl gerade Pia so treibt und vor allem mit wem, d: ich eine dermaßen volle Blase hatte, dass ich mich kaum mehr bewegen konnte, e: dass ich gerade eine filmreife Liebesbeziehung wieder gekittet hatte und f: warum muss ich permanent Elvis Presleys "Walk a mile in my shoes" summen?

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Nie mehr Blind Date

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