Читать книгу Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter - Группа авторов - Страница 62

6.1 Genetische Befunde

Оглавление

Die Vermutung, dass den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) eine genetische Ursache zugrunde liegt, findet sich schon in den Erstbeschreibungen von Leo Kanner (1968) und Hans Asperger (1944). Doch bis in die späten 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die Ätiologie des Autismus nicht auf eine biologische respektive genetische Basis gestellt. Erst mit den bahnbrechenden Zwillingsstudien von Folstein und Rutter (1977), die eine genetische Ursache der Störung belegen konnten, kam es zu einem Umdenken.

Für den Nachweis eines möglichen genetischen Ursprungs von ASS haben sich drei Untersuchungsmethoden als effektiv herausgestellt:

1. Zwillingsstudien, die monozygote und dizygote Zwillinge vergleichen,

2. Genome Screens in Familien, die den Anteil spezifisch autistischer Merkmale bei Verwandten ersten Grades untersuchen und

3. Studien seltener genetischer Syndrome, die mit autistischen Symptomen assoziiert sind.

Aufgrund der Tatsache, dass monozygote Zwillinge (MZZ) 100% ihres Erbguts, dizygote Zwillinge (DZZ) jedoch nur etwa 50%, beide aber die vorgeburtliche in utero-Umwelt mit ihrem Zwilling teilen, wird angenommen, dass ein häufigeres gemeinsames Auftreten der ASS bei MZZ gegenüber DZZ eine genetische Ursache unterstützt. Tatsächlich übersteigt die phänotypische Konkordanz von ASS bei MZZ diejenige von DZZ um ein Vielfaches. Bei der schon erwähnten Studie von Folstein und Rutter lag die Konkordanz bei 82%, eine skandinavische Studie fand für MZZ sogar eine Übereinstimmung von 91% (Steffenburg et al. 1989) und bei Studien mit einer enger begrenzten Definition von Autismus findet sich eine Konkordanzrate von ca. 60% (Bailey et al. 1995; Hallmayer et al. 2011; Rosenberg et al. 2009). Damit gehören ASS unter den Kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnosen zu jenen Störungen, mit dem stärksten genetischen Einfluss. Auch neuere Zwillingsstudien und Meta-Analysen belegen die hohe Heritabilität der Autismus-Spektrum-Störungen mit Konkordanzraten zwischen 65 % und 98% (Ronald u. Hoeckstra 2011; Tick et al. 2016). Trotz dieser hohen Heritabilität finden sich auch Hinweise, dass das Symptomspektrum bei vergebener Diagnose eine große Bandbreite aufweist und die Bandbreite der Symptomausprägung substanziell durch Umweltfaktoren beeinflusst wird, die nicht geteilt werden (Castelbaum et al. 2020).

Familienstudien zeigen, dass Verwandte ersten Grades in Bezug zur Population ein deutlich erhöhtes Risiko für Autismus in sich tragen, was auch die Vermutung stützt, dass die Genetik eine große Rolle spielt. Verwandte ersten Grades zeigen ebenfalls – hinsichtlich behavioraler, kognitiver, sozialer und sprachlicher Defizite – Auffälligkeiten im Sinne einer autistischen Symptomatik. Für diese subklinischen Defizite wurde der Begriff breiter bzw. erweiterter Phänotyp (broader phenotype) gewählt, der restriktive, repetitive Verhaltensweisen sowie Defizite in sozialer Kognition mit einschließt, aber aufgrund deren unterschwelliger Ausprägung die diagnostischen Kriterien für eine ASS nicht erfüllt (Constantino 2011; Losh et al. 2009). Beim erweiterten Phänotyp (BP) handelt es sich um ein latentes Konstrukt eines subklinischen Phänomens. Aus diesem Grund ist es schwer erfassbar und die Frage wie verbreitet dieses in der Bevölkerung ist, hängt folglich stark davon ab, wie das Konstrukt definiert und gemessen wird. Eine große Bandbreite an Ansätzen und Methoden macht es daher sehr schwer die Studien meta-analytisch zusammenzufassen und daraus abzuleiten wie viele Menschen tatsächlich einen BP haben (Rubenstein u. Chawla 2018).

Ausgehend von den Ergebnissen der genetischen Forschung in den letzten Jahren zeigt sich, dass mit dem Störungsbild ASD ein breites Spektrum an Mutationen assoziiert ist. Mit Blick auf die bisher entdeckten Gene sind es sowohl pleiotrope (ein Gen determiniert mehrere phänotypische Merkmale) als auch polygene (Beteiligung mehrerer Gene an der Ausprägung eines bestimmten biologischen Merkmals) Effekte, die im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren und stochastischen Phänomenen zu einer ätiologischen Heterogenität führen. Gerade die zahlreichen Allel-Varianten eines einzelnen Gens und die vielen verschiedenen Gen-Loci, machen die Zusammenführung der genetischen Erkenntnisse mit den Daten aus morphologischen und funktionalen Studien zur Hirnentwicklung zu einer relevanten Herausforderung für die Ätiologieforschung, insbesondere da viele der in molekulargenetischen Studien identifizierten Genomvariationen leider häufig nicht replizierbar sind.

Seit dem Beginn molekulargenetischer Untersuchungen im Bereich der ASS ist bekannt, dass einige seltene genetische Syndrome mit einem monogenetischen Defekt in Zusammenhang mit Autismus stehen. Obwohl diese Syndrome ein deutlicher Beleg für den genetischen Ursprung autistischer Störungen sind, werden sie als Sonderfälle betrachtet, die letztlich nur 10–15% der Diagnosen des Spektrums repräsentieren.

Zu den syndromalen Autismusformen zählen

Angelman-Syndrom (Mutation Gen UBE3A Genloci q11.2 – q11.13 auf Chromosom 15)

Fragile-X-Syndrom (instabile Trinukleotidsequenz in dem 38 Basenpaare umfassenden Gen FMR1 in der Bande Xq27.3 auf dem X-Chromosom)

Rett-Syndrom (Mutation Gen MeCP2 Genlocus Xq28 und Mutation Gen CDKL5 Genlocus Xp22).

Smith-Lemli-Opitz-Syndrom (Mutation Gen DHCR7 Genlocus 11q13.4)

Smith-Magenis-Syndrom (Mikrodeletion oder Mutation Gen RAI1 Genlocus 17p11.2)

Tuberöse Sklerose (Mutation Gen TSC1 auf Chromosom 9 Genlocus q34 und Gen TSC2 auf Chromosom 16 Genlocus p13.3)

Der überwiegende Teil der Diagnosen im Bereich der ASS beruht jedoch nicht auf einer genetisch differenzierten Ätiologie, sondern ist idiopathisch.

Zwar ist davon auszugehen, dass es sich im Falle der ASS um seltene hoch-penetrante Genmutationen handelt, doch entsprechen die unterschiedlichen Merkmale des Autismus eher einem quantitativen Funktionskontinuum, das in unterschiedlichen Mustern vererbt werden kann. Dies steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass spezifische genetische Faktoren zur Entwicklung und Funktion bestimmter Hirnstrukturen beitragen und dass unterschiedliche neuronale Schaltkreise durch verschiedene ASS-Komponenten beeinflusst werden. Ähnlich wie bei anderen Störungsbildern mit einer auf einen genetischen Anteil zurückzuführenden Ätiologie, wird bei ASS ein Modell angenommen, in welchem mehrere Genvarianten (sog. Risiko- oder Anfälligkeitsgene), die einzeln jedoch nur kleine Effektstärken aufweisen, miteinander interagieren und unter Einfluss von Umweltfaktoren die Wahrscheinlichkeit für ASS erhöhen. Man spricht hier von einem komplexgenetischen Modell. Die Risikogene erhöhen zwar die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose, jede einzelne Genvariante allein ist jedoch nicht hinreichend für eine kausale Verursachung von ASS.

Die gleichen Varianten tragen auch bei typisch entwickelten Individuen zur normalen Varianz von Kognition und Verhalten bei, treten sie jedoch in einer ungünstigen Kombination auf, verursachen sie ASS. Dieses Modell ist somit auch in der Lage, das Vorhandensein unterschwelliger genetischer Merkmale des Broader Phenotypes, also in nicht-autistischen Verwandten ersten Grades, wie Geschwister und Eltern von Personen mit ASS, zu erklären.

Nach aktuellem Stand lässt sich feststellen, dass Autismus-Spektrum-Störungen durch genetische Defekte verursacht werden können. Dies geschieht durch strukturelle Variationen des Erbguts bzw. Mikro-Deletionen und Mikroduplikationen, Mutationen von Einzelnukleotidvarianten und polygener Mechanismen (Nakanishi et al. 2019). Die Veränderungen der Gehirnentwicklung können sowohl in einen pränatalen als auch in einen postnatalen Abschnitt unterteilt werden. In der pränatalen Hirnentwicklung erfolgt in den Trimestern 1-3 aufgrund einer Gruppe hirnspezifischer Risikogene die Unterbrechung der Zellproliferation, der Neurogenese, der Migration der Zellen und der Zelldifferenzierung. Noch im dritten Abschnitt des Trimesters und in einer frühen postnatalen Phase sorgt eine weitere Gruppe hirnspezifischer Risikogene für die Störung des Neuritenwachstums, der Synaptogenese und der Verschaltung bzw. Vernetzung des Kortex (Courchesne et al. 2020).


Ein komplexes multifaktorielles Vererbungsmodell

Die Schwierigkeit eines spezifischen Erklärungsmodells für ASS liegt in der Komplexität psychiatrischer Erkrankungen im Allgemeinen begründet. Denn diese betreffen immer psychische Funktionen höherer Ordnung und entsprechen hierarchisch organisierten Kreisläufen, die sensorische, motorische, autonom regulierte, sozial-emotionale und kognitive Bereiche miteinander verbinden. Die histogenetischen Entwicklungsprozesse dieser Funktionen, die gliazelluläre Spezialisierung bei der Migration axonaler Verbindungen, die Genese von Synapsen, die aktivitätsabhängige Stabiliserung der Zytoarchitektur und das axonale, dendritische und synaptische Pruning (Rückbau oder optimierende Rückentwicklung von Synapsen) werden durch tausende von Genen beeinflusst. Entstehen nun also aufgrund von Risikogenen Mutationen, die die Funktion und/oder die Struktur der exprimierten Proteine beeinflussen, verändern sich auch die neuronalen Entwicklungsprozesse, die für den Aufbau zunehmend komplexerer Schichten zerebraler Organisation zuständig sind, wie z.B. die verbindenden neuronalen Pfade zwischen verschiedenen Hirnregionen. Diese molekular und neuronal veränderten Prozesse begleiten die gesamte Entwicklung und werden sowohl durch Umwelteinflüsse als auch durch stochastische Effekte und epigenetische Phänomene beeinflusst. Dabei können bestimmte genetische Varianten verschiedene Entwicklungsverläufe anstoßen und beeinflussen, die letztendlich mit einer Vielzahl unterschiedlicher klinischer Phänomene, wie Intelligenzminderung, Schizophrenie oder ASS, korrespondieren (s. Abb. 1).

Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter

Подняться наверх