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Protestantismus und Judentum

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In den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts waren nicht unbeträchtliche Teile der deutschen Juden zu den christlichen Kirchen übergetreten. Die jüdischen Übertritte zum Christentum waren teils aus Glaubensgründen, teils aus Gründen politisch-kultureller Integration erfolgt – Heinrich Heine prägte in dem Zusammenhang den Begriff „Entreebillet“. Die mit der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und der Reichsgesetzgebung 1869/71 gewährleistete staatsbürgerliche Gleichstellung führte zum Absinken der Übertritte. Der Seitenweg der Emanzipation, die Taufe, schien nicht mehr nötig. Staatsbürgerliche Gleichstellung bedeutete jedoch noch nicht Gleichachtung. Der kaiserzeitliche Antisemitismus bewies, wie unerledigt die „Judenfrage“ war. Die Jahre nach 1870/71 waren nicht die Inkubations-, sondern bereits eine Expansionsphase des modernen, also des Wirtschafts-, Kultur- und Rassenantisemitismus. „Wählt keine Juden!“, forderte der antisemitische Publizist Wilhelm Marr (1819–1904) die Bürger und Politiker auf. In der Reihe „Antisemitische Hefte“ schrieb er über „Goldene Ratten und rothe Mäuse“ (Chemnitz 1880). Als „Philosoph des Antisemitismus“ galt im Kaiserreich der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921). Ende der 1870er Jahre nahm der Antisemitismus politische Organisationsformen an. Im Oktober 1879 erfolgte in Berlin die Gründung der Antisemitenliga. Vom 10. bis 12. September 1882 tagte in Dresden der Erste internationale antijüdische Kongress mit 300 bis 400 Teilnehmern aus Deutschland, Österreich, Russland und Ungarn. Resolutionen verlangten die „Brechung des jüdischen Einflusses auf unser gesamtes Volks- und Staatsleben“. Unter Führung von Theodor Fritsch (1852–1933), Verfasser des „Antisemiten-Katechismus“, der 1893 in der 25. Auflage erschien und seit 1907 „Handbuch der Judenfrage“ hieß, fand am 13./14. Juni 1886 in Kassel die Gründung der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“ statt. Weitere Gründungen folgten.

Auf protestantisch-parteipolitischer Ebene wurde der Antisemitismus sichtbar in Adolf Stoeckers Christlichsozialer Partei. Nachdem in der Christlichsozialen Arbeiterpartei die Gewinnung der Arbeiterschaft nicht gelungen war, wollte Stoecker mit der Christlichsozialen Partei vor allem auf Handwerker und kleine Kaufleute einwirken. Den Wirtschaftsantisemitismus hielt er für ein brauchbares Instrument. Am 24. Januar 1893 erklärte Stoecker im Preußischen Abgeordnetenhaus, er habe „die Judenfrage auf dem literarischen Gebiet in die Volksversammlungen und damit in die politische Praxis eingeführt“ (Lexikon zur Parteigeschichte, Bd. 1, Leipzig 1983, 443). Seine Versicherung, er bekämpfe das Judentum nur wirtschaftlich und nicht religiös-theologisch, war wenig überzeugend. In der „Judenfrage“ sind Trennlinien zwischen Religion und Politik kaum zu ziehen gewesen. Stoeckers Wirkungsspuren finden sich in evangelischer Kirche und Diakonie bis weit in die 1920er und 1930er Jahre.

Kulturphilosophisch und nationalpolitisch wirksam waren die „Deutschen Schriften“ – zweibändig von 1878/81, 1903 in der vierten Auflage erschienen – des Göttinger Orientalisten und Theologen Paul de Lagarde (1827–1891). Nach Lagardes Ansicht verhinderte das Judentum die Bildung der Deutschen zur (christlichen) Nation. Er bezeichnete die Juden als Fremdkörper und erstrebte ein von jüdisch-mittelmeerischen Einflüssen gereinigtes Christentum.

Von einem durchgängigen Antijudaismus und/oder Antisemitismus im Protestantismus des Kaiserreichs kann nicht gesprochen werden. Den antijudaistisch-antisemitischen Affinitäten des protestantischen Milieus standen namhafte Freunde und Verteidiger des Judentums gegenüber. An vorderster Front befand sich der bedeutende Leipziger Alttestamentler und Talmudkenner Franz Julius Delitzsch (1813–1900). Er wies die periodisch aufflackernden Blutbeschuldigungen des „Ritualmords“ zurück, er förderte die Judenmission durch Gründung des Organs „Saat auf Hoffnung“ 1863 und des Evangelisch-lutherischen Centralvereins für Mission unter Israel im Jahr 1871. Das Missionsseminar Institutum Judaicum von 1886 bekräftigte das Anliegen. Gänzlich unkritisch sah Delitzsch das Judentum, vor allem das liberale Judentum, nicht. Dass die „Judenfrage“ nicht durch Mission zu erledigen war, bemerkte er kaum. Seine Stärke lag im religiösen Diskurs, nicht in der Einsicht, dass es im Verhältnis zur jüdischen Minorität um die Festigung der religiösen Toleranz und der modernen Menschenrechte ging.

Unfreiwillig zugearbeitet haben dem Antisemitismus theologische Interpretationen des Alten Testaments als „Gesetzbuch“ und die Herabstufung bestimmter Teile der alttestamentlichen Frömmigkeit. Das Anliegen einer gesamtbiblischen Theologie blieb in pietistisch-erwecklichen Kreisen aufbewahrt, die wissenschaftlich jedoch kaum Mitspracherecht besaßen und die ihrerseits Sozialressentiments gegen das moderne Judentum hegten.

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