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Mission und Kolonialpolitik

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Die Verbindung des missionarischen Neuaufbruchs mit der kolonialen Machtentfaltung der Staaten strebte in den 1880er Jahren einem Höhepunkt entgegen. Die europäischen Großmächte standen innenpolitisch unter dem Druck des Nationalismus. Seine Vertreter forderten sichtbare Beweise für die Überlegenheit des eigenen Systems. Sie wollten auf den internationalen Märkten der Konkurrenz nicht unterliegen und an der Nutzung der Rohstoffe teilhaben. Wer im künftigen Weltstaatensystem nicht zu kurz kommen wolle, müsse um einen „Platz an der Sonne“ kämpfen. Allmählich galt es als ausgemacht, dass auf dem Gebiet der Kolonialpolitik über die Machtbeziehungen der Staaten Europas entschieden werde. 1883/84 begann der Kampf um die noch nicht verteilten Gebiete Afrikas, in den Folgejahren die Konkurrenz um alle weiteren als „frei“ oder als zur Disposition stehend betrachteten Gebiete. Das Deutsche Reich machte 1884/85 Erwerbungen in jenen Gebieten Afrikas, die sich noch nicht in britischer oder französischer Hand befanden: in Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Togo, Kamerun. Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 fand in Berlin die Westafrika-Konferenz statt. Die „Kongo-Akte“ regelte unter anderem die Modalitäten bei der Errichtung von Missionen.

Die nationale Kolonialmission, die in das Gefüge der geopolitischen Interessen des jeweiligen europäischen Mutterlandes eingebaut war, markierte eine neue Stufe in der Missionsgeschichte des Christentums. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Missionsvereine weitgehend als staatsfreie Organisationen tätig gewesen. Gewiss war im 16. Jahrhundert die römisch-katholische Mission bereits eng mit den Eroberungen der spanischen und der portugiesischen Krone verbunden, ebenso hatte die dänische Krone im 18. Jahrhundert als Schutzmacht gewirkt. Aber diese Synthese von frühneuzeitlicher kolonialer Expansion und Mission hatte noch unter anderen Vorzeichen gestanden als nunmehr die nationale Kolonialmission. Die Verschmelzung von staatlicher Kolonialpolitik und Missionsarbeit führte einerseits zu einer starken Politisierung der Mission, andererseits zur Aufnahme zivilisatorischer Ziele in die Kolonialprogramme wie Bildung und ärztliche Versorgung, auf jeden Fall aber zu Spannungen zwischen Macht- und Missionsinteressen.

Sie entluden sich in Auseinandersetzungen zwischen den Missionsgesellschaften älteren Typs und jenen, die erst im Zuge der nationalen Kolonialmission entstanden. Doch auch durch die älteren Missionsgesellschaften verliefen Risse. In den älteren deutsch-protestantischen Missionen war keineswegs jeder Verantwortliche bereit, dem Drängen Friedrich Fabris nach Ineinanderführung von Mission und kolonialer Landnahme zu folgen. Gleichwohl verknüpften sich Missions-, Wirtschafts- und Politikinteressen in zunehmendem Maße. Mancher Missionar, der den neuen Stil nicht verstand, wurde zur Demission veranlasst. Einige der älteren Missionen verweigerten sich zunächst der Missionsarbeit im Kolonialgebiet des Deutschen Reiches, beugten sich aber dem Druck, der teilweise aus den eigenen Reihen kam. Im Zeichen einer Kolonialpolitik, die das Adjektiv „christlich“ mitunter nur noch als kulturelles Schutzschild vor sich hertrug, stand die Evangelische Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika aus dem Jahr 1886. Erst Friedrich von Bodelschwinghs Einflussnahme 1906 veränderte ihr Gesicht. Die Bodelschwinghsche Deutsch-Ostafrikanische Missions-Handlungsgesellschaft m. b. H. von 1910, die dieser Missionsgesellschaft angegliedert wurde, war unter den gegebenen Verhältnissen als eine Art von Kompromiss zwischen älterem Missionsverständnis und nationaler Kolonialmission anzusehen. Der 1890 von Wilhelm II. gegründete Kolonialrat sorgte für Abstimmung zwischen kolonialstaatlicher Politik und Missionsarbeit.

Auch die USA hatten teil an den modernen Missionsstrategien, namentlich in China. 1910 war das dortige amerikanische Missionspersonal – Ärzte, ordinierte Missionare und weibliche Kräfte – fast sechsmal größer als das gesamte Missionspersonal aus Europa. Inspiriert war die missionarische Expansion Nordamerikas von dem großen Prediger des Revivalism, Dwight L. Moody. Man hoffte, noch zu Lebzeiten der damaligen Generation den Erdball evangelisieren zu können. Der neue evangelikale Aufbruch in den USA der 1870er und 1880er Jahre führte missionspolitisch zu systematischer Durchdringung der Hochkulturländer im Fernen und Nahen Osten.

Kein Land war zu weit, keine Information über die Widerstände der indigenen Kulturen gegen das Christentum zu entmutigend, kein Bedenken wegen der örtlichen Konkurrenz von Missionsgesellschaften stark genug, um die nationale Kolonialmission aufzuhalten. Seit 1884 stand ein Teil Neuguineas – ansonsten Einflussgebiet der Londoner Mission – samt dem Bismarck-Archipel unter deutschem Protektorat. Die Rheinische Missionsgesellschaft und die Mission von Neuendettelsau verstärkten daraufhin ihre Bemühungen. Wovor Gustav Warneck, der sich 1874 zunächst in ein Landpfarramt nach Rotenschirmbach zurückgezogen hatte, warnte, nämlich über die Mission in den eigenen Kolonien den Zusammenhang der Missions-Internationale nicht zu vernachlässigen, war am Ende des 19. Jahrhunderts eine Realität. Die durchaus vorhandenen Spannungen zwischen Kolonialbehörden und den nationalen Kolonialmissionen wichen in missionarischen Konkurrenzsituationen dem patriotischen Schulterschluss. Die Missionen wussten sich unter dem hoheitlichen Schutz ihrer Staaten, und sie begaben sich ihnen gegenüber in die Pflicht.

Besonderer missionarischer Ehrgeiz entfaltete sich bei der Wiederbelebung bzw. Stärkung der orientalischen Kirchen in den Ländern des Islam. Vorposten war die unter britischer Herrschaft stehende Insel Malta, auf der 1846 das Malta Protestant College entstand. Die auf die Ionischen Inseln, nach Konstantinopel, Syrien, Ägypten und Äthiopien reisenden Missionare kamen in der ersten Jahrhunderthälfte überwiegend aus England, Schottland und Nordamerika. 1869 ergriff Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen bei einer Palästina-Reise Besitz vom Ruinenfeld des Hospizes der Johanniter und der dazugehörigen Kirche, einem Geschenk des Sultans an Wilhelm I. Der Vordere Orient zog in den 1860er und 1870er Jahren vielfältige Interessen auf sich. Sie ließen die Vision einer Wiederbelebung der Gebiete der Alten Kirche in den Hintergrund treten. Spätestens seit der glanzvollen Eröffnung des Suezkanals am 14. November 1869 ging es um europäische Großmachtpolitik. Auch Kronprinz Friedrich Wilhelm nahm neben dem Kaiser von Österreich Franz Joseph I., der Kaiserin Eugénie aus Frankreich (1826–1920), dem britischen Botschafter in Konstantinopel, Sir Henry Elliot (1817–1884), und zahllosen weiteren Ehrengästen an der Einweihung dieses Wunderwerks der Technik – einer Fahrrinne von 161 Kilometern durch Wüstenland und Salzseen – teil.

1889 rief Kaiser Wilhelm I. die Evangelische Jerusalem-Stiftung ins Leben. Sie diente neben dem Jerusalemverein der Schaffung und Pflege evangelischer Einrichtungen im Heiligen Land. An eine Fortsetzung des anglo-deutschen Bistums war wegen der konkurrierenden Interessen des britischen Empire und des Deutschen Reiches nicht mehr zu denken. Der Bistumsvertrag war seit 1886 aufgelöst. Für die Globalstrategie des Deutschen Reiches besaß der Nahe Osten einen hohen Stellenwert. Als Wilhelm II. 1898 in den Orient reiste und am Reformationstag in Jerusalem die Erlöserkirche einweihte, verfolgte er im Rahmen der komplexen deutschen Palästinapolitik bestimmte konfessions- und außenpolitische Ziele. Deutschland sollte neben England als gleichberechtigte Schutzmacht der evangelischen Christen in dieser Region dastehen. Gleichzeitig sollte den Katholiken Deutschlands mit der Schenkung der Dormitio Mariae auf dem Zion ein Wink gegeben werden, dass sie nicht nur Katholiken, sondern auch Deutsche seien, sich also aus dem französischen Religionsprotektorat lösen sollten. Auf nackte Politikinteressen ließ sich die Orientreise Wilhelms II. 1898 nicht reduzieren. Religiosität, archäologische Faszination und politisches Kalkül griffen ineinander. Indes, eine solche Mischlage war generell charakteristisch für die Orientpolitik im Zeitalter der nationalen Kolonialmission.

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