Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 67

Sechzigster Brief.
An Julie.

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Beruhige dich, zärtliche, geliebte Julie, und aus dem Berichte, den ich dir über das eben Vorgegangene geben werde, erkenne und theile die Gefühle, die es in mir erregt hat.

Ich war noch so voll Unwillen, als ich deinen Brief erhielt, daß ich ihn kaum mit der Aufmerksamkeit lesen konnte, welche er verdiente. Was half es, daß ich seinen Gründen nichts entgegenzusetzen hatte, der blinde Zorn hatte die Oberhand. Du magst Recht haben, sagte ich bei mir selbst, aber kein Wort davon, daß ich dich je herabsetzen lasse. Müßte ich dich verlieren und in Schuld hinfahren, ich werde nicht leiden, daß Jemand die dir gebührende Achtung aus den Augen setzt, und so lange ein Athem in mir ist, soll Alles, was dir naht, dich ehren, wie mein Herz dich ehrt. In Betreff der acht Tage jedoch, die du von mir verlangtest, nahm ich keinen Anstand; Milord Eduard's Zufall und mein Gelübde, dir zu gehorchen, kamen zusammen, diesen Aufschub nothwendig zu machen. Entschlossen, deinem Befehle gemäß, diese Zeit zur Ueberlegung dessen, was du mir schriebst, anzuwenden, beschäftigte ich mich unablässig damit, deinen Brief wieder zu lesen und darüber nachzudenken, nicht um andrer Ansicht zu werden, sondern um die meinige zu rechtfertigen.

Ich hatte auch heute Morgen diesen mir zu klugen und zu vernünftigen Brief zur Hand genommen und las ihn voll Unruhe wieder durch, als an meine Zimmerthür gepocht wird. Einen Augenblick darauf sehe ich Milord Eduard ohne Degen eintreten, auf ein Rohr gestützt; drei Personen mit ihm, unter denen ich Herrn von Orbe bemerke. Ueberrascht durch diesen unverhofften Besuch, erwarte ich schweigend, was er mir bringen würde, als Eduard mich bittet, ihm einen Augenblick Gehör zu geben, und ihn machen und reden zu lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Ich ersuche Sie, sagte er, mir Ihr Wort darauf zu geben;

die Gegenwart dieser Gerren, welche zu Ihren Freunden gehören, bürgt Ihnen dafür, daß Sie es nicht unbehutsamer Weise einsetzen. Ich willigte unbedenklich ein. Kaum hatte ich es ausgesprochen, sah ich mit einem Erstaunen, das du dir denken kannst, Milord Eduard auf den Knien vor mir. Ueberrascht durch diese seltsame Stellung, wollte ich ihn sogleich aufheben: aber er erinnerte mich an mein Versprechen und sagte dann ungefähr Folgendes: „Ich komme, mein Herr, um offen die beleidigenden Worte zurückzunehmen, die ich im Rausche in Ihrer Gegenwart gesprochen habe: in ihrer Ungerechtigkeit sind sie kränkender für mich selbst als für Sie, und ich bin mir schuldig, sie auf beglaubigte Weise zu widerrufen. Ich unterwerfe mich jeder Strafe, die Sie mir auflegen wollen, und werde meine Ehre nicht eher für wiederhergestellt halten, als bis mein Vergehen wieder gut gemacht sein wird. Um welchen Preis es sei, gewähren Sie mir die Verzeihung, um welche ich Sie bitte, und wenden Sie mir Ihre Freundschaft wieder zu!“ Milord, antwortete ich ihm sogleich, ich erkenne jetzt den Adel und die Hoheit Ihrer Seele, und weiß nun zu unterscheiden, was aus Ihnen das Herz spricht, von dem, was Ihnen entfuhr, da Sie nicht bei sich selbst waren: sei es auf ewig vergessen. Zugleich half ich ihm aufstehen und wir umarmten uns. Milord wendete sich hierauf zu den Umstehenden und sagte: „ Meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Gefälligkeit. Brave Männer wie sie sind,“ setzte er mit stolzer Miene und belebtem Tone hinzu, „fühlen daß Der, welcher auf diese Art sein eigenes Unrecht wieder gut macht, von Niemanden unrecht erträgt … Sie können das weiter erzählen, was Sie gesehen haben.“ Hierauf lud er uns Vier zum Abendessen zu sich ein und die Herren entfernten sich.

Kaum waren wir allein, so umarmte er mich abermals inniger und freunschaftlicher; dann ergriff er meine Hand und setzte sich neben mich. Glücklicher Mensch, rief er aus, genießen Sie eines Glückes, dessen Sie würdig sind. Juliens Herz gehört Ihnen. Mögen Sie beide ….! Was sagen Sie, Milord, unterbrach ich ihn: sind Sie von Sinnen? Nein, entgegnete er lächelnd. Aber ich war nahe daran, es zu sein, und es wäre vielleicht um mich geschehen, wenn nicht Die, welche mir den Verstand geraubt hat, ihn mir wiedergegeben hätte. Er gab mir darauf den Brief, in welchem ich mit Erstaunen eine Hand erkannte, die nie an einen Mann [Man wird, denke ich, ihren Vater ausnehmen müssen.] geschrieben hat, als mich. Was habe ich gefühlt bei diesem Briefe! Ich sah ein liebendes Weib, wie es kein zweites giebt, sich aufopfern, um mich zu retten; ich erkannte Julie. Aber als ich an jene Stelle kam, wo sie schwört, den beglücktesten der Menschen nicht zu überleben, da habe ich geschaudert vor der Gefahr, in welche ich rannte, da habe ich gemurrt, zu sehr geliebt zu sein, und mein inneres Beben hat mich gemahnt, daß du nur eine Sterbliche bist. Ach! gieb mir den Muth wieder, den du mir entrissen hast; ich hatte Muth, dem Tode zu trotzen, der nur mich allein bedrohte, ich habe keinen, um in meinem ganzen Ich zu sterben.

Während sich meine Seele diesen bitteren Betrachtungen hingab, sprach Eduard, und ich hörte wenig auf das, was er sagte; aber er weckte meine Aufmerksamkeit, als er von dir zu reden anfing, denn was er jetzt sagte, gefiel meinem Herzen und reizte nicht mehr meine Eifersucht. Es schien ihm herzlich leid zu sein, daß er unsere Liebe und deine Ruhe gestört hatte. Du bist das, was er am meisten auf der Welt verehrt, und da er nicht wagt, auch dir seine Entschuldigung zu machen, so hat er mich gebeten, sie in deinem Namen anzunehmen und sie dir auszurichten. Ich habe Sie, sagte er, als ihren Repräsentanten betrachtet und konnte mich vor Dem, was sie liebt, nicht zu sehr demüthigen, da ich mich an sie selbst nicht wenden konnte, ohne sie zu compromittiren, sie nicht einmal nennen durfte. Er gesteht, daß er von den Gefühlen für dich ergriffen war, deren man sich nicht erwehren kann, wenn man dich zu viel ansieht; aber es war mehr eine zärtliche Bewunderung als Liebe. Diese Gefühle haben ihm niemals Absichten oder Hoffnung eingeflößt; er hat sie den unsrigen im Augenblick geopfert, sobald er von diesen Kenntniß erhielt, und die üble Rede, die ihm entfahren war, ist mehr eine Wirkung des Punsches als der Eifersucht gewesen. Er behandelt die Liebe auf Philosophenmanier, indem er seine Seele über die Leidenschaften erhaben glaubt: ich indessen müßte mich sehr irren, wenn er nicht schon eine in sich erfahren hätte, welche anderen nicht mehr erlaubt, tiefe Wurzeln zu schlagen. Er nimmt die Erschöpfung seines Herzens für eine Kraftäußerung der Vernunft, und ich weiß wohl, daß Julien lieben und ihr entsagen keine Tugend für Menschen ist.

Er hat gewünscht, die Geschichte unserer Liebe umständlich zu erfahren, auch die Hindernisse kennenzulernen, welche sich dem Glücke deines Freundes in den Weg stellen; ich habe geglaubt, daß nach deinem Briefe ein halbes Vertrauen gefährlich und nicht wohl angebracht wäre; ich habe es also ganz gegeben und er hat mir mit einer Aufmerksamkeit zugehört, welche mir seine Aufrichtigkeit bezeugte. Ich habe mehr als einmal seine Augen feucht und sein Herz gerührt gesehen; ich nahm vorzüglich wahr, welchen Eindruck alle jene Triumphe der Tugend auf ihn machten, und ich glaube dem Claude Anet einen neuen Beschützer gewonnen zu haben, der sich seiner nicht minder eifrig annehmen wird als dein Vater. In dem allen, was Sie mir erzählt haben, sagte er, ist keine überraschende Begebenheit, nichts Abenteuerliches, und doch würden mich die Katastrophen eines Romans weit weniger fesseln! Eure beiden Seelen sind so außergewöhnlich, daß man sie nicht mit dem gemeinen Maße messen muß. Das Glück liegt für euch nicht auf dem nämlichen Wege und ist nicht von der nämlichen Art, wie für die anderen Menschen; sie streben nur nach Macht und Geltung; was ihr braucht, ist nur Zärtlichkeit und friedliches Dasein. Es hat sich euerer Liebe ein Wetteifer in der Tugend beigesellt, der euch erbebt; ihr würdet beide weniger werth sein, wenn ihr euch nicht geliebt hättet. Die Liebe wird vergehen, erdreistete er sich hinzuzusetzen, (verzeihen wir ihm diese Blasphemie, die er in der Unwissenheit seines Herzens ausstieß!) die Liebe wird vergehen, sagte er; die Tugenden werden bleiben. Ach, möchten sie nur dauern, Julie, so lange als sie; mehr brauchte der Himmel nicht zu verlangen.

So sehe ich denn nun, daß die philosophische und nationale Schroffheit in diesem braven Engländer das natürliche Menschengefühl nicht erstickt hat, und daß er an unseren Leiden wahrhaften Antheil nimmt. Wenn Ansehen und Reichthum etwas für uns thun könnten, so dürften wir, wie ich glaube, auf ihn zählen. Aber ach! was vermögen Macht und Geld, um Herzen zu beglücken?

Unsere Unterhaltung, während deren wir die Stunden nicht zählten, zog sich bis zur Zeit des Mittagstisches hin. Ich ließ ein Hühnchen bringen, und nach dem Essen fuhren wir fort zu schwatzen. Er kam auf seinen Schritt von heute Morgen zurück, und ich konnte mich nicht enthalten, ihm mein Erstaunen zu bezeigen, daß er denselben so feierlich vor Zeugen und in so übertriebener Weise gethan hatte: er setzte aber außer dem Grunde, welchen er mir schon angeführt hatte, noch hinzu, daß eine halbe Satisfaction eines Mannes von Muth unwürdig wäre, daß man sie vollständig geben müßte, oder gar nicht, damit man sich nicht erniedrige, ohne etwas gut zumachen, und die Möglichkeit offen lasse, einen mit Widerstreben und halbem Willen gethanen Schritt auf Rechnung der Verzagtheit zu schreiben. Uebrigens, sagte er noch, ist meine Reputation gesichert, ich darf gerecht sein, ohne daß man mich der Feigheit beschuldigen wird; Sie aber, der Sie noch jung sind und erst in der Welt auftreten, müssen so glatt aus dem ersten Handel hervorgehen, daß er Niemanden in Versuchung führt, Ihnen einen zweiten zu bereiten. Die Welt ist voll von dergleichen geschickten Poltrons, die, wie man sich ausdrückt, den Leuten an den Puls fühlen, nämlich um Einen zu entdecken. der noch mehr Poltron ist als sie und auf dessen Kosten sie sich ein Ansehen geben können. Ich will einem Manne von Ehre, wie Sie es sind, die Nothwendigkeit ersparen, Einen von diesem Pack zu züchtigen, wobei kein Ruhm zu gewinnen ist; und ich will, wenn jene eine Lection brauchen, lieber, daß sie sie von mir erhalten, als von Ihnen: denn ein Handel mehr macht für Den nichts aus, der schon mehre gehabt hat; aber einen zu haben, ist immer eine Art Flecken, und Juliens Geliebter soll rein davon bleiben.

Dies ist der kurze Inhalt meiner langen Unterredung mit Milord Eduard. Ich habe es für nöthig gehalten, dir Bericht darüber zu geben, damit du mich anweisest, wie ich mich gegen ihn benehmen soll.

Jetzt, da du beruhigt sein mußt, verbanne, ich beschwöre dich, die bangen Gedanken, welche dich seit einigen Tagen belagern. Denke an die Schonung, welche die Ungewißheit deines gegenwärtigen Zustandes nöthig macht. O, wenn du bald mein Sein verdreifachtest! wenn bald ein geliebtes Pfand .... Hoffnung, schon zu sehr gesunkene Hoffnung, willst du mich noch einmal blenden?... O Wünsche! o Furcht! o Verlegenheiten! Reizende Freundin meines Herzens, leben wir, um uns zu lieben! und laß den Himmel des Uebrigen walten.

N. S. Ich vergaß dir zu sagen, daß Milord mir deinen Brief zugestellt hat, und daß ich keine Schwierigkeiten machte, ihn anzunehmen, indem ich dafür hielt, daß ein solches Unterpfand nicht in den Händen eines Dritten bleiben dürfte. Ich werde ihn dir das nächste Mal, daß wir uns sehen, zurückgeben, denn ich für mein Theil weiß nicht, was ich damit machen soll; er ist zu tief in mein Herz geschrieben, als daß ich ihn je wieder zu lesen brauchte.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

Подняться наверх