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Sechster Brief.
Julie an Milord Eduard.

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Inhaltsverzeichnis

Ihr Brief, Milord. durchdringt mich mit Rührung und Bewunderung. Der Freund, den Sie Ihres Schutzes würdigen, wird nicht weniger dafür erkenntlich sein, wenn er Alles erfahren wird, was Sie für uns haben thun wollen. Ach! nur der Unglückliche ist fähig, den ganzen Werth einer wohlthätigen Seele zu fühlen. Wir haben nur schon zu viel Gelegenheit gehabt, die Ihrige würdigen zu lernen, und Ihre heroischen Tugenden werden uns stets rühren, aber sie überraschen uns nicht mehr.

Wie süß wäre es mir, unter der Obhut eines so großmüthigen Freundes glücklich zu sein, und seinen Wohlthaten das Glück zu verdanken, das mir mein Glück versagt hat! Aber Milord, ich sehe zu meiner Verzweiflung, daß es Ihre guten Absichten vereitelt; mein grausames Schicksal ist stärker als Ihr Eifer, und das holde Bild der Güter, welche Sie mir anbieten, dient nur dazu, mir die Entbehrung derselben desto empfindlicher zu machen. Sie wollen zwei verfolgten Liebenden einen angenehmen und sichern Zufluchtsort öffnen, dort ihre Liebe legitim, ihr Bündniß zu einem geweihten machen, und ich weiß, daß ich unter Ihrem Schutze leicht den Verfolgungen einer erzürnten Familie entgehen würde. Das ist viel für die Liebe; ist es aber genug für den Seelenfrieden? Nein, wenn Sie wollen, daß ich ruhig und zufrieden lebe, so geben Sie mir einen noch schirmenderen Zufluchtsort, wo man vor der Schande und der Reue sicher ist. Sie kommen unseren Bedürfnissen entgegen, und berauben sich aus beispiellosem Großmuth zu unserem Unterhalte eines Theiles der Güter, welche Ihnen den Ihrigen gewähren. Reicher, in geachteterer Stellung durch Ihre Wohlthaten als von Hause aus, kann ich bei Ihnen für Alles Ersatz finden und Sie werden mir ein zweiter Vater sein wollen. Ach, Milord, würde ich werth sein, einen wieder zu finden, nachdem ich den verließ, welchen mir die Natur gab?

Hier ist die Quelle der Vorwürfe, welche mir mein aufgeschrecktes Gewissen macht, und des geheimen Unfriedens, der mein Herz zerfleischt. Es handelt sich nicht darum, ob ich ein Recht habe, über mich zu verfügen gegen den Willen der Urheber meiner Tage, sondern ob ich so verfügen kann, ohne sie bis in den Tod zu betrüben, ob ich entfliehen kann, ohne sie in Verzweiflung zu stürzen. Ach! es wäre nichts Anderes, als wollte man fragen, ob ich das Recht habe, ihnen das Leben zu nehmen. Seit wann wägt die Tugend so die Rechte des Blutes und der Natur? Seit wann steckt ein gefühlvolles Herz so ängstlich die Grenzen der Erkenntlichkeit ab? Heißt es nicht schon, sich strafbar machen. wenn man bis zu dem Punkte geht, wo die Strafbarkeit beginnt? Und sucht man so mühsam die Grenzen seiner Pflichten auf, wenn man nicht schon versucht ist, sie zu überschreiten? Was? Ich? ich sollte fühllos Die verlassen, von denen ich das Leben habe, sie, die mir das Leben erhalten, das sie mir geschenkt haben, und es mir lieb machen, sie, die keine andere Hoffnung, keine andere Freude haben als mich allein, einen fast sechzigjährigen Vater, eine stets kränkelnde Mutter! ich, ihr einziges Kind, ich sollte sie ohne Beistand lassen in der Mühseligkeit und Oede des Alters, dann, wenn es Zeit ist, ihnen die zärtliche Sorge zu erwiedern, die sie auf mich verschwendet haben! ich sollte ihre letzten Tage der Scham, dem Leide, den Thränen preisgeben! Der Schauder, der Schrei meines aufgestachelten Gewissens würden mir unaufhörlich meinen Vater, meine Mutter vormalen trostlos sterbend und der undankbaren Tochter fluchend, die sie verlassen und entehrt hat! Nein, Milord, die Tugend, von der ich gewichen bin, weicht nun auch von mir und spricht nicht mehr zu meinem Herzen, aber dieser schaudervolle Gedanke spricht an ihrer Statt; er würde mir zu meiner Qual in jedem Augenblicke meines Lebens folgen und würde mich elend machen im Schooße des Glückes. Kurz, wenn einmal mein Leben hinfort den innern Vorwürfen verfallen sein muß, so ist doch gerade dieser zu schrecklich, als daß er sich ertragen ließe; ich will lieber allen anderen trotzen.

Ich kann Ihren Gründen nichts entgegensetzen, ich gestehe es, ich habe nur zu große Neigung, sie gut zu finden. Aber, Milord, Sie sind nicht verheirathet: fühlen Sie nicht, daß man Vater sein muß, um das Recht zu haben, fremden Kindern Rath zu geben? Mein Entschluß ist gefaßt; meine Eltern werden mich unglücklich machen, ich weiß es; aber es wird weniger hart für mich sein, mein Unglück zu beseufzen, als mich schuld an dem ihrigen zu wissen, und ich werde nimmermehr aus dem väterlichen Hause entlaufen. Fahre denn hin, süßes Trugbild einer empfindsamen Seele, reizendes, ersehntes Glück, fahre dahin in die Nacht der Träume, du wirst für mich keine Wirklichkeit mehr haben. Und Sie, allzu großmüthiger Freund, vergessen Sie Ihre liebenswürdigen Pläne, und keine Spur bleibe davon zurück, außer auf dem Grunde eines Herzens, das zu dankbar ist, um sie je vergessen zu können. Wenn das Uebermaß unserer Leiden Ihre große Seele nicht entmuthigt, wenn Ihre hochherzige Güte nicht erschöpft ist, so haben Sie noch Gelegenheit, sie rühmlich anzuwenden, und Der, den Sie mit dem Titel Ihres Freundes beehren, kann durch Ihre Bemühungen dahin gelangen, daß er es zu werden verdient. Beurtheilen Sie ihn nicht nach dem Zustande, in welchem Sie ihn erblicken: seine Verstörtheit rührt nicht von Schwachmuth her, sondern von einem feurigen, stolzen Geiste, der sich gegen das Schicksal bäumt. Es ist oft mehr Stumpfheit als Muth in einer anscheinenden Standhaftigkeit; der gewöhnliche Mensch weiß nichts von heftigen Schmerzen, und große Leidenschaften entkeimen nicht in schwachen Seelen. Ach! er hat in die seinige jene Fülle des Gefühls gepflanzt, welche die edlen Seelen auszeichnet, und das, das ist schuld an meiner jetzigen Schande und Verzweiflung. Milord, o glauben Sie mir, wenn er nichts als ein gewöhnlicher Mensch wäre, würde Julie nicht untergegangen sein.

Nein, nein, diese geheime Hinneigung, die in Ihnen einer gerechtfertigten Achtung zuvorkam, hat Sie nicht getäuscht. Er verdient Alles, was Sie für ihn gethan haben, ohne ihn noch recht zu kennen; Sie werden wo möglich noch mehr thun, wann Sie ihn erst kennen werden. Ja, sein Sie sein Tröster, sein Beschützer, sein Freund, sein Vater; zugleich Ihretwegen und seinetwegen beschwöre ich Sie darum; er wird Ihr Vertrauen rechtfertigen, er wird Ihren Wohlthaten Ehre machen, er wird Ihre guten Lehren nutzen, er wird Ihre Tugenden sich zum Vorbilde nehmen, er wird von Ihnen Weisheit lernen. Ach, Milord, wenn er unter Ihren Händen zu dem wird, was er werden kann, wie stolz werden Sie eines Tages auf Ihr Werk sein!

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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