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Erster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

[Ich brauche wohl kaum anzumerken, daß in dieser zweiten und in der folgenden Abtheilung die beiden von einander getrennten Liebenden nur hin und herphantasiren; ihr armer Kopf ist ganz hin.]

Ich habe die Feder hundertmal ergriffen und wieder weggeworfen, ich stocke beim ersten Worte, ich weiß nicht, wie ich den rechten Ton finden, weiß nicht, womit ich anfangen soll. Und schreibe an Julie. Ach, ich Armer! Wohin ist es mit mir gekommen! Die Zeit ist also nicht mehr, wo tausend köstliche Gefühle meiner Feder wie ein unversieglicher Strom entquollen! Jene süßen Augenblicke der Hingebung, der Herzergießung sind dahin, wir gehören einander nicht mehr an, sind nicht mehr die Nämlichen, ich weiß nicht mehr, an wen ich schreibe. Werden Sie denn meine Briefe annehmen wollen? Werden Ihre Augen sie durchlaufen wollen? Werden sie Ihnen zurückhaltend genug und bedächtig genug scheinen? Darf ich in ihnen noch die alte vertrauliche Weise beibehalten? Darf ich noch von einer Liebe reden, die erloschen oder verschmäht ist? Und bin ich nicht weiter zurück als an dem ersten Tage, da ich Ihnen schrieb? Welcher Abstand, o Himmel, von jenen reizenden, süßen Tagen, zu diesem grauenvollen Elende! O Schmerz! ich fing an zu sein und ich bin in das Nichts zurückgeschaudert; die Hoffnung, zu leben, beseelte mein Herz, ich habe nichts mehr vor mir als das Bild des Todes; und mit diesem Zeitraume von drei Jahren ist der Glückskreis meiner Tage geschlossen. O warum habe ich ihnen nicht ein Ende gemacht, bevor ich mich selbst überlebte; warum bin ich nicht meinen Ahnungen gefolgt nach jenen kurzen Augenblicken der Wonne, da ich nichts mehr im Leben vor mir sah, was ihm noch ferner hätte Werth geben können! Ja gewiß, auf diese drei Jahre hätte es sich beschränken, oder sie selbst hätten seinen Lauf nicht unterbrechen müssen; es wäre besser gewesen, nie das Glück zu schmecken, als es zu schmecken, um es zu verlieren. Wenn ich diesen verhängnißvollen Zeitraum übersprungen hätte, wenn ich jenen ersten Blick vermieden hätte, der mir eine neue Seele schuf, so würde ich jetzt noch den Gebrauch meiner Vernunft haben, würde meine menschlichen Pflichten erfüllen, würde vielleicht mit mancher Tugend meinen kahlen Weg bestreuen. Ein Augenblick der Verirrung hat Alles geändert. Mein Auge wagte zu betrachten, was es nimmer hätte sehen sollen; dieses Anschauen hat zuletzt seine unausbleibliche Wirkung gehabt. Nachdem ich mich von Stufe zu Stufe mehr mir selbst entfremdet, bin ich jetzt nur noch ein Wüthender, ohne Besinnung, ein feiger Sklave ohne Kraft und Muth, der in Schmach seine Kette und seine Verzweiflung hinschleppt.

Eitele Ausgeburten eines wüst gewordenen Hirnes! trügerische Sehnsuchtsträume, die das Herz, das sie gebildet, im Augenblicke nachher verwirft! Was nutzt es, für wirkliche Leiden eingebildete Heilmittel auszudenken, die, wenn sie angeboten würden, verworfen werden müßten? Ach! Wer wird glauben, der die Liebe kennt und hat dich gesehen, daß noch ein Glück denkbar sei, welches ich um den Preis meiner ersten Gluten kaufen möchte? Nein, nimmer! Der Himmel behalte seine Wohlthaten und lasse mir mit meinem Elende das Gedächtniß meines vergangenen Glückes. Lieber, lieber die Freuden, die in meiner Rückerinnerung liegen, und dabei die Schmerzen, die mir die Seele zerreißen, als je ein Glück ohne meine Julie! Komm, angebetetes Bild, komm, fülle dieses Herz aus, das nur durch dich lebt; folge mir in meine Verbannung, tröste mich in meinem Jammer, entzünde wieder und ernähre die erloschene Hoffnung in meiner Brust. Ewig wird dieses unglückliche Herz dein Heiligthum sein, der unverletzliche Schrein, aus welchem dich weder das Schicksal noch die Menschen jemals werden reißen können. Wenn ich dem Glücke abgestorben bin, nicht bin ich es der Liebe, die mich seiner wohl werth macht. Diese Liebe ist unüberwindlich wie der Zauber, welcher sie geschaffen hat; sie ruht auf dem unerschütterlichen Grunde des Verdienstes und der Tugend; sie kann nimmer vergehen in einer unsterblichen Seele; sie braucht die Stütze der Hoffnung nicht mehr und nimmt aus der Vergangenheit Kraft genug für eine ewige Zukunft.

Aber du, Julie, du, die du einst lieben konntest, wie hat es dein zärtliches Herz verlernt, zu leben? Wie hat das heilige Feuer erlöschen können in deiner Seele? Wie hat sich deine Lust an jenen himmlischen Freuden, die nur du allein zu fühlen und zu spenden fähig bist, verlieren können? Du jagst mich ohne Erbarmen weg, du schickst mich in schmähliche Verbannung, giebst mich meiner Verzweiflung preis; und siehst nicht, siehst nicht in dem Wahne, der dich verwirrt, daß du, indem du mich elend machst, dir das Glück deines Lebens raubst! Ach, Julie, glaube nur, du wirst vergebens ein zweites Herz dem deinigen befreundet suchen: tausend ohne Zweifel werden dich anbeten, lieben konnte dich nur meines allein.

Jetzt steh mir Rede, betrogene oder trügliche Geliebte, was ist geworden aus den Plänen, die du so geheim hieltst? wo sind sie hin, die eitelen Hoffnungen, mit denen du so oft meine leichtgläubige Einfalt kirrtest? Wo ist die geheiligte, die heißersehnte Verbindung, das süße Ziel so vieler heißen Seufzer, und womit deine Feder und dein Mund meinen Wünschen schmeichelte? Ach, ach; im Vertrauen auf deine Versprechungen war ich so kühn, den heiligen Namen Gattin auszusprechen, und dünkte mich schon den glücklichsten der Menschen. Sprich, Grausame, äfftest du mich nur deshalb so, damit mein Schmerz zuletzt desto heftiger und meine Demüthigung desto tiefer würde? Wodurch habe ich mein Unglück verschuldet? Habe ich es an Gehorsam, an Willfährigkeit, an Bescheidenheit fehlen lassen? Sahst du mich etwa so schwächlich begehren, daß ich den Laufpaß verdiente, oder sahst du mich etwa meine stürmischen Begierden über deinen gebietenden Willen stellen? Ich that Alles nur dir zu gefallen, und du verlässest mich! Du nahmst mein Glück in deine Hut, und du hast mich ins Verderben gestoßen! Gieb Rechenschaft, Undankbare, von dem Pfande, das ich dir vertraut habe; Rechenschaft von meinem Ich, nachdem du mein Herz irregeführt mit dieser Seligkeit über alle Seligkeit, die du mir gezeigt hast und dann raubst. Euch, ihr Engel des Himmels, hätt' ich um eure Luft nicht beneidet, ich wäre das glücklichste aller Geschöpfe gewesen .... O weh, und ich bin nichts mehr, ein Augenblick hat mir Alles genommen. Ich bin ohne Uebergang von dem Gipfel der Freude in ewiges Elend versunken: noch berühre ich das Glück, das mir entflieht …. berühre es noch und fort ist es auf ewig! .... Ach wenn ich glauben dürfte, wenn die Ueberreste einer eiteln Hoffnung …. O ihr Felsen von Meillerie, die mein wirres Auge so oft maß, warum habt ihr nicht meiner Verzweiflung gedient? Ich hätte an dem Leben weniger verloren, hätte ich weniger seinen Werth empfunden gehabt.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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