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Zweiter Brief.
Milord Eduard an Clara.

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Inhaltsverzeichnis

Wir sind soeben in Besançon angekommen und ich lasse es meine erste Sorge sein, Ihnen Bericht über unsere Reise zu geben. Sie ist, wenn auch nicht in aller Ruhe, doch wenigstens ohne Unfall abgelaufen und Ihr Freund befindet sich leiblich so wohl, als man es bei einem so kranken Herzen sein kann; er giebt sich sogar Mühe, äußerlich eine Art Ruhe zur Schau zu tragen. Er schämt sich seines Zustandes und thut sich vor mir große Gewalt an; Alles aber verräth seine innere Aufregung, und wenn ich mich so stelle, als merkte ich nichts davon, so thue ich das, damit ich ihn nicht hindere, sich selbst hindurchzukämpfen, und daß es einem Theile seiner Seelenkräfte überlassen bleibe, die Wirkung der anderen zu brechen.

Er war den ersten Tag sehr gedrückt; ich kürzte die Tagereise ab, da ich sah, daß die Geschwindigkeit unserer Fahrt seinen Schmerz stachelte. Er sprach kein Wort mit mir, noch ich mit ihm; zudringliches Trösten kann schwere Trübsal nur verbittern. Gleichgültigkeit und Kälte finden leicht Worte, aber die wahre Sprache der Freundschaft in solchem Falle ist Traurigkeit und Schweigen. Ich bemerkte gestern die ersten Funken der Wuth, welche einer solchen Abspannung immer zu folgen pflegt. In unserem Mittagsquartiere waren wir kaum seit einer Viertelstunde angekommen, als er sich ungeduldig zu mir wendete. Warum machen wir nicht fort? sagte er mit bitterem Lächeln; warum bleiben wir ihr einen Augenblick so nahe? Am Abend strengte er sich an, viel zu sprechen, ohne Juliens mit einem Worte zu gedenken, er brachte Fragen, die ich schon zehnmal beantwortet hatte, immer wieder von Neuem vor. Er wollte wissen, ob wir schon auf französischem Boden wären, und gleich darauf fragte er, ob wir bald in Vevay sein würden. Das Erste, was er auf jeder Station thut, ist, daß er einen Brief anfängt, den er einen Augenblick nachher zerreißt oder zerknittert! Ich habe ein Paar von diesen Anfängen aus dem Feuer gerettet, an denen Sie den Zustand seiner Seele erkennen werden. Ich glaube jedoch, daß er auch noch einen ganzen Brief glücklich zu Stande gebracht hat.

Die Heftigkeit, welche sich in diesem ersten Symptome verräth, ließ sich leicht voraussehen, aber was sie für Folgen haben und wie lange sie anhalten wird, vermag ich nicht zu sagen; denn das hängt von mancherlei zusammenwirkenden Ursachen ab, von dem Charakter des Menschen, von der Art seiner Leidenschaft, von Umständen, die zufällig eintreten, von tausend Dingen, die keine menschliche Klugheit vorherbestimmen kann. Ich hafte für Wuthausbrüche, nicht aber für alle Wirkungen der Verzweiflung, denn, was man auch thun möge, immer ist doch der Mensch Herr über sein Leben.

Indessen schmeichle ich mir, daß er sich selbst und meine Dienste achten werde, und zwar mache ich mir dabei weniger auf den Eifer meiner Freundschaft, der zwar nicht gespart werden soll, als auf den Charakter seiner Leidenschaft und den seiner Geliebten Rechnung. Die Seele kann sich nicht lebhaft und lange mit einem Gegenstande beschäftigen, ohne Eindrücke von ihm anzunehmen und durch ihn bestimmt zu werden. Juliens außerordentliche Milde muß die Hitze der Glut, welche von ihr angefacht ist, mäßigen, und ebenso zweifle ich nicht daran, daß die Liebe eines so lebhaften Mannes auch ihr hinwieder ein wenig mehr Rührigkeit giebt, als ohne ihn von Natur ihr beiwohnen würde.

Ich glaube auch auf sein Herz rechnen zu dürfen: es ist zu Kampf und Sieg geschaffen. Eine Liebe wie die seinige ist nicht sowohl eine Schwachheit, als eine unrecht angewendete Kraft. Wohl möglich, daß eine so heiße und unglückliche Liebe auf eine Zeit, vielleicht sogar auf immer, einen Theil seiner Fähigkeiten hinwegzehre; aber sie ist an sich selbst ein Beweis von der Güte derselben und von dem Vortheile, den er aus ihnen zum Anbau der Weisheit ziehen könnte; denn die erhabene Vernunft erhält ihre Nahrung aus derselben Kraft der Seele, welche auch die mächtigen Leidenschaften gebiert, und man kann der Philosophie nicht anders würdig dienen, als mit demselben Feuer, das man für eine Geliebte nährt.

Sein Sie überzeugt, liebenswürdige Clara, daß ich nicht minderen Antheil als Sie an dem Schicksale dieses unglücklichen Paares nehme; nicht aus einem Gefühle von Mitleid, was vielleicht nur eine Schwachheit wäre, sondern in Betrachtung der natürlichen Ordnung und Gerechtigkeit, die da erheischen, daß Jeder die für ihn selbst und für die Gesellschaft vortheilhafteste Stellung einnehme. Diese beiden schönen Seelen gingen für einander bestimmt aus den Händen der Natur hervor; in süßer Vereinigung im Schooße des Glückes würden sie, bei der Freiheit, ihre Kräfte zu entfalten und ihre Tugenden auszuüben, der Welt mit ihrem Beispiele vorgeleuchtet haben. Warum muß nun ein unsinniges Vorurtheil die ewigen Bestimmungen umstoßen und die Harmonie denkender Wesen zerreißen? Warum soll der Dünkel eines hartherzigen Vaters so das Licht unter den Scheffel stellen, und unter Thränen sich härmen lassen zwei zärtliche, mildthätige Herzen, die dazu geschaffen sind, fremde Thränen zu trocknen? Ist nicht das eheliche Band das freieste ebenso wie das heiligste der Bande? Ja, alle Gesetze, welche es verengen, sind ungerecht; alle Väter, welche es zu knüpfen oder zu zerreißen wagen, sind Tyrannen. Dieses keusche Band der Natur kann weder einer oberherrlichen Macht noch der väterlichen Gewalt unterworfen sein, sondern nur dem Willen des Vaters unser Aller, der die Herzen zu lenken weiß, und, indem er ihnen gebietet, sich zu vereinigen, sie dazu zwingen kann, sich zu lieben. [In manchen Ländern wird bei den Verheirathungen so sehr nur auf Stand und Vermögen gesehen, statt die Natur und die Herzen zu Rathe zu ziehen, daß nichts weiter nöthig ist als der Mangel jener ersteren beiden, um die glücklichsten Verbindungen zu verhindern oder auch zu brechen, ohne Rücksicht auf die verlorene Ehre der unglücklichen Mädchen, welche täglich diese, abscheulichen Vorurtheilen geopfert werden. Ich habe einen berühmten Prozeß beim Parlamente von Paris verhandeln sehen, in welchem die Standesehre öffentlich und ungescheut auf Sittsamkeit, eheliche Pflicht und Treue ihre Angriffe richtete und der unwürdige Vater, der den Prozess gewann, keine Bedenken trug, seinen Sohn zu verderben, blos weil dieser kein ehrloser Mensch sein wollte. Es ist unsäglich, wie in diesem so galanten Lande die Frauen vom Gesetze tyrannisirt sind. Darf man sich wundern, daß sie sich so grausam durch ihre Sitten dafür rächen?]

Was soll es, daß man die Anforderungen der Natur den Anforderungen der Meinung zum Opfer bringt? Der Vermögens- und Standesunterschied hebt sich in der Ehe auf und thut nichts zum Glücke, aber die Verschiedenheit des Charakters und Gemüthes bleibt, und durch sie wird man glücklich oder unglücklich. Das Kind, das keinen Maßstab anlegt als die Liebe, wählt schlecht; der Vater, der keinen Maßstab anlegt als die Meinung, wählt noch schlechter. Ein braver Vater soll der Tochter, der es an Einsicht, an Erfahrung fehlt, um die Gesinnung und die Sitten ihres Erwählten zu beurtheilen, allerdings zu Hülfe kommen; er hat das Recht, ja, die Pflicht, ihr zu sagen: meine Tochter, dieser ist ein braver Mann, dieser ist ein Schuft; dieser ein verständiger Mensch, dieser ein Geck. Das sind die Erfordernisse, von denen er Kenntniß zu nehmen hat; die Beurtheilung der übrigen steht der Tochter zu. Schreit man, das hieße die gesellschaftliche Ordnung zerstören, nein! eure Tyrannei zerstört sie. Daß den Rang das Verdienst bestimme und die Vereinigung der Herzen deren freie Wahl, dies ist die wahre gesellschaftliche Ordnung; Diejenigen, welche sie nach der Geburt oder dem Reichthum modeln, sind ihre wahren Zerstörer; über diese sollte man schreien, sie sollte man bestrafen.

Demnach fordert die allgemeine Gerechtigkeit, daß solche Mißbräuche abgestellt werden; die Menschenpflicht fordert, daß man sich der Gewalt widersetze und zur Ordnung beitrage; und wenn es mir gelänge, diese beiden Liebenden einem unvernünftigen alten Manne zum Trotze mit einander zu verbinden, so zweifeln Sie nicht, daß ich darin die Absicht des Himmels erfüllen würde, und der Beifall der Menschen sollte mich nicht kümmern.

Sie sind glücklicher, liebenswürdige Clara, Sie haben einen Vater, der nicht den Anspruch macht, besser als Sie zu wissen, was zu Ihrem Glücke dient. Vielleicht ist es nicht eben besondere Klugheit oder übergroße Zärtlichkeit, was ihn dazu bestimmt, Ihr Schicksal in Ihrer Hand zu lassen; aber was liegt an dem Beweggrunde, wenn der Erfolg der nämliche ist? Mögen Sie immerhin die Freiheit, welche er Ihnen läßt, seiner Liebe zur Bequemlichkeit statt dem Vernunftgebote verdanken! Genug, daß Sie diese Freiheit nicht gemißbraucht, sondern zu zwanzig Jahren eine Wahl getroffen haben, welcher der verständigste Vater seinen Beifall nicht versagt haben würde. Ihr Herz, von einer Freundschaft ohne Gleichen ganz dahingenommen, hat nur wenig Raum für Liebesglut; doch haben Sie an deren Statt Alles, was in der Ehe dafür entschädigen kann: wenn Sie, bei mehr Freundschaft als Liebe, nicht die zärtlichste Gattin sein werden, so werden Sie die tugendhafteste sein, und das Band, welches die Klugheit geschlungen hat, wird mit den Jahren sich nur immer fester knüpfen und nicht von ihnen überdauert werden. Der Trieb des Herzens ist blinder, doch ist er unbezwinglicher: man richtet sich nur zu Grunde, wenn man sich in die Notwendigkeit versetzt, ihm Widerstand zu leisten. Glücklich Die, welche die Liebe so zusammenführt, wie es die Vernunft nur hätte thun können, und die dabei kein Hinderniß zu überwinden und mit keinem Vorurtheile der Welt zu kämpfen haben! Glücklich würden unsere beiden Liebenden sein, wenn nicht der ungerechte Widerstand eines eigensinnigen Vaters wäre; und glücklich könnten sie dessenungeachtet noch werden, wenn Einer von Beiden gut berathen würde.

Juliens Beispiel und das Ihrige zeigen gleichermaßen, daß es den Gatten allein zukommt, zu beurtheilen, ob sie füreinander passen. Wo nicht die Liebe die Herrschaft hat, wird die Vernunft allein Wählen: dies ist Ihr Fall; herrscht die Liebe, so hat die Natur bereits gewählt: dies ist Juliens Fall. Ein heiliges Naturgesetz waltet hier, in welches der Mensch nicht eingreifen darf, welches er nie ungestraft verletzt und welches, wenn es der Rücksicht auf Stand und Rang weichen soll, stets nur mit Unglück und Verbrechen abgekauft wird.

Obwohl der Winter näher rückt und ich nach Rom muß, will ich doch den Freund, den ich unter meiner Hut habe, nicht eher verlassen, als bis ich sein Gemüth wieder so befestigt sehe, daß sich darauf bauen läßt. Es ist ein Pfand, das mir theuer ist sowohl seines Werthes wegen, als weil es mir von Ihnen anvertraut worden. Wenn ich es nicht dahin bringen kann, daß er glücklich werde, so will ich es wenigstens dahin zu bringen suchen, daß er vernünftig werde und menschliches Unglück menschlich trage. Ich habe beschlossen, hier vierzehn Tage bei ihm zu bleiben; ich hoffe, daß wir in der Zwischenzeit Nachricht von Julien und von Ihnen erhalten, und daß Sie beide helfen werden, lindernden Balsam in die Wunden dieses kranken Herzens träufeln, welches der Vernunft noch nicht anders als durch Vermittlung des Gefühls zugänglich ist.

Ich schließe einen Brief für Ihre Freundin ein; vertrauen Sie ihn, bitte, keinem Dritten an, sondern geben Sie ihn ihr selbst.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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