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Fünfundsechzigster Brief.
Clara an Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Alles ist geschehen; und ungeachtet ihrer Unbesonnenheiten ist meine Julie in Sicherheit. Die Geheimnisse deines Herzens sind in Dunkel begraben. Du bist noch im Schoße deiner Familie und deiner Heimat, geliebt, geehrt, und genießest eines fleckenlosen Rufes und der allgemeinen Achtung. Betrachte nun mit Schauder die Gefahren, in welche dich Scham oder Liebe jagte, indem du bald zu viel und bald zu wenig thatest. Lerne, daß man unvereinbare Gefühle nicht mit einander versöhnen kann und segne den Himmel, bald zu blinde Liebhaberin, bald zu furchtsames Mädchen du, für ein Glück, das wohl noch keiner Andern geschenkt ward.

Ich wollte deinem betrübten Herzen die Schilderung dieses so schmerzlichen, aber so nothwendigen Abschieds ersparen. Du hast sie verlangt, ich habe sie versprochen; ich werde Wort halten, mit allem Freimuth, wie er uns beiden eigen ist, die wir jeden andern Vortheil stets dem ehrlichen Worthalten nachstellen. Lies also, liebe arme Freundin, lies, weil es sein muß; aber mache dir Muth und sei standhaft.

Alle Maßregeln, welche ich genommen hatte, wie ich dir schon gestern berichtete, sind pünktlich befolgt worden. Als ich nach Hause kam, fand ich Herrn von Orbe und Milord Eduard. Ich fing damit an, daß ich dem Letzteren sagte, was wir von seiner heroischen Großmuth wüßten, und gab ihm zu erkennen, wie sehr wir beide davon durchdrungen wären. Hierauf setzte ich ihnen auseinander, welche gewichtigen Gründe wir hätten, deinen Freund schleunig zu entfernen, und wie schwierig es mir doch schiene, ihn dazu zu bewegen, Milord sah das Alles vollkommen ein und bezeigte sich sehr betrübt über die Wirkung, welche sein unüberlegter Eifer hervorgebracht hatte. Sie räumten ein, daß es von Wichtigkeit wäre, die Entfernung deines Freundes zu beeilen und den ersten Augenblick seiner Einwilligung wahrzunehmen, um neuer Unschlüssigkeit zuvorzukommen und ihn der Gefahr, die ihm hier am Orte unablässig droht, zu entreißen. Ich wollte Herrn von Orbe das Geschäft übertragen, die erforderlichen Vorbereitungen ohne sein Wissen zu treffen; aber Milord erklärte, daß dies seine Sache sei und nahm Alles über sich. Er versprach, daß seine Chaise heute Vormittag um 11 Uhr bereit sein sollte, daß er ihn so weit als nöthig begleiten würde, und machte den Vorschlag, ihn zuerst unter irgend einem andern Vorwande zu entführen, um ihn mehr mit Muße zu dem nothwendigen Schritte bestimmen zu können. Dieses Verfahren schien mir nicht ehrlich genug für uns und für unsern Freund; auch wollte ich ihn nicht entfernt von uns den ersten Wirkungen einer Verzweiflung aussetzen, die leichter den Augen Milord's als den meinigen entgehen konnte. Aus demselben Grunde nahm ich auch den Vorschlag nicht an, welchen Milord machte, ihm die Sache selber vorzutragen, um ihn zur Abreise zu vermögen. Ich sah, wie zarter Natur diese Verhandlung sein müßte und wollte sie Niemandem anvertrauen als mir selbst; denn ich kenne die empfindliche Stelle seines Herzens genauer und weiß, daß Männer bei solchen Angelegenheiten immer eine gewisse Trockenheit haben, die eine Frau besser zu mildern versteht. Indessen sah ich auch ein, daß Milords Beistand nicht unnütz sein würde, um den Weg zu bahnen. Ich bedachte, von welcher Wirkung die Reden eines gefühlvollen Mannes, der sich übrigens für einen bloßen Philosophen hält, auf ein tugendhaftes Herz sein müßten, und wie viel Wärme die Freundesstimme den Ermahnungen des Weisen einhauchen könnte.

Ich bat also Milord Eduard, den Abend mit ihm zuzubringen, und, ohne etwas zu sagen, was unmittelbar auf seine Lage Bezug hätte, unvermerkt seine Seele zu stoischer Festigkeit zu stimmen. Sie, die Sie Ihren Epiktet so gut inne haben, sagte ich ihm, haben hier wenn je Gelegenheit, einen guten Gebrauch davon zu machen. Heben Sie den Unterschied der scheinbaren Güter von den wahren scharf hervor, deren die in uns sind von jenen, die uns äußerlich sind. Beweisen Sie ihm in einem Augenblicke, da von außen die Prüfung naht, daß man alles Schlimme nur von sich selbst erleidet, und daß der Weise, der sich selbst stets bei sich trägt, auch sein Glück stets bei sich trage. Ich merkte an seiner Antwort, daß diese kleine Stichelei, die nichts Beleidigendes für ihn haben konnte, hinreichend war, um seinen Eifer anzuspornen, und daß er stark darauf rechnete, mir am andern Morgen deinen Freund wohl vorbereitet zuzuschicken. Mehr hatte ich nicht gewollt, denn obwohl ich im Grunde, ebenso wie du, nicht viel von dieser schwatzenden Philosophie halte, bin ich doch überzeugt, daß ein ordentlicher Mann sich immer einigermaßen schämt, vom Abend auf den Morgen seine Maximen zu wechseln und sich in seinem Herzen heute von dem loszusagen, was gestern seine Vernunft gutgeheißen hatte.

Herr von Orbe wollte sich ebenfalls anschließen und den Abend mit ihnen zubringen: aber ich bat ihn, es nicht zu thun: er würde sich nur gelangweilt, oder die Unterhaltung gelähmt haben. Der Antheil, welchen ich an ihm nehme, verhindert mich nicht, zu gestehen, daß er von dem Schwunge der beiden Anderen nichts hat. Das männliche Denken starker Seelen, welches eine so eigenthümliche Ausdrucksweise erzeugt, ist eine Sprache, von der er nicht die Anfangsgründe versteht. Als sie gingen, fiel mir der Punsch ein, und aus Furcht vor vorzeitigen Eröffnungen, ließ ich lachend ein Wort darüber gegen Milord fallen. Seien Sie ruhig, sagte er, ich hänge meinen Gewohnheiten nur nach, wenn ich keine Gefahr dabei sehe; aber ich habe mich nie zu ihrem Sklaven gemacht; es geht hier um die Ehre Juliens, um das Schicksal, vielleicht um das Leben eines Menschen und meines Freundes, Ich werde Punsch trinken wie gewöhnlich, um nicht der Unterhaltung einen Anstrich von Gesuchtem zu geben, aber es soll statt Punsches Limonade sein, und da er jetzt keinen trinkt, so wird er es nicht bemerken. Findest du nicht, meine Liebe, daß man sich recht schämen muß, Gewohnheiten angenommen zu haben, die zu dergleichen Vorsichtsmaßregeln zwingen?

Ich habe die Nacht in großer Aufregung zugebracht, und nicht ganz nur deinetwegen. Unsere unschuldigen Jugendfreuden, die Süßigkeit eines so langen traulichen Umganges, der noch engere Anschluß seit einem Jahre zwischen ihm und mir, den die Schwierigkeit eures Zusammenkommens veranlaßt hatte, Alles das machte mir diese Trennung so bitter. Ich fühlte, daß ich mit der Hälfte deines Selbst einen Theil meines eigenen Daseins verlieren sollte. Ich zählte unruhig die Stunden und als ich es Morgen werden sah, konnte ich nicht ohne Zittern den Tag anbrechen sehen, der über dein Schicksal entscheiden mußte. Ich brachte den Morgen damit hin, mir Alles auszudenken, was ich sagen wollte, und mir den Eindruck vorzustellen, den meine Worte hervorbringen könnten. Endlich schlägt die Stunde und ich sehe deinen Freund eintreten. Er sah unruhig aus und fragte mich hastig nach dir; denn er wußte, daß du seit dem Auftritte mit deinem Vater krank warst, und Milord Eduard hatte ihm gestern noch gesagt, daß du seitdem das Bette nicht verlassen hattest. Um hierüber nicht in's Einzelne gehen zu müssen, sagte ich geschwind, ich hätte dich gestern Abend besser verlassen und setzte hinzu, er würde augenblicklich mehr hören, da Hans, den ich zu dir geschickt, sogleich wiederkommen müßte. Meine Vorsicht half mir nicht; er that hundert Fragen über deinen Zustand, und da sie mich von meinem Gegenstande abzogen, gab ich kurze Antworten und that meinerseits Fragen an ihn.

Ich fing damit an, seine Stimmung auszuforschen. Ich fand ihn ernst, nachdenklich und ganz in der Verfassung, das Gefühl auf die Wage der Vernunft zu legen. Gott sei Dank, sagte ich bei mir, mein Weiser ist wohl bereitet; es kommt nun darauf an, ihn auf die Probe zu stellen. Man pflegt zwar traurige Nachrichten sonst immer nur allmählig vorzubringen, aber da ich seine stürmische Einbildungskraft kannte, die nur eines Wortes bedarf, um Alles aufs Aeußerste zu treiben, so beschloß ich einen entgegengesetzten Weg einzuschlagen und wollte ihn lieber im ersten Augenblick niederschmettern, um sodann die Milderungen eintreten zu lassen, als seine Schmerzen ohne Noth vervielfältigen und ihm tausend Schläge statt eines einzigen versetzen. Ich nahm also einen ernsteren Ton an, und sagte, indem ich ihn fest ansah: Freund, kennen Sie die Grenzen des Muthes und der Tugend in einer starken Seele, und glauben Sie, daß es eine übermenschliche Kraftanstrengung sei, dem zu entsagen, was man liebt? Augenblicklich sprang er auf wie ein Rasender; dann seine Hände zusammenschlagend und sie so gefaltet an seine Stirn dringend rief er: Ich verstehe Sie; Julie ist todt, Julie ist todt, wiederholte er mit einem Tone, bei dem es mich kalt überlief: ich sehe es, Sie wollen mich hinhalten, Sie wollen mich schonen. Thörichtes Bemühen, das mir den Tod nur langsamer, grausamer macht!

Obgleich erschrocken über seine plötzliche Bewegung, errieth ich doch im Augenblicke die Ursache und begriff wohl, wie die Nachricht von deiner Krankheit, Milord Eduard's Moralpredigten, die Aufforderung heute Morgen zu mir zu kommen, meine ausweichenden Antworten und meine Fragen ihm zusammen diesen falschen Schrecken verursacht hatten. Ich erkannte auch sogleich, welchen Nutzen ich von seinem Irrthume ziehen könnte, wenn ich ihn einige Augenblicke darin ließ, aber ich konnte mich zu dieser Barbarei nicht entschließen. Der Gedanke des Todes dessen, was man liebt, ist so schrecklich, daß es keinen giebt, der nicht an seiner Stelle süß wäre, und ich nahm geschwind diesen Vortheil wahr. Sie werden Sie vielleicht nicht wiedersehen, sagte ich; aber sie lebt und liebt Sie. Ha! wenn Julie todt wäre, würde dann Clara Ihnen etwas zu sagen haben? Danken Sie dem Himmel, der Ihnen in Ihrem Unglücke Leiden erspart, mit denen er Sie überhäufen könnte. Er war so erstaunt, so erschüttert, so verwirrt, daß ich, nachdem ich ihn wieder hatte niedersitzen lassen, Zeit fand, ihm Alles, was er wissen mußte, der Ordnung nach vorzutragen; ich stellte Milord Eduard's Benehmen in das schönste Licht, um in seinem edlen Herzen dem Schmerze durch den Reiz der Erkenntlichkeit eine Diversion zu machen.

Dies, mein Lieber, fuhr ich fort, ist die Lage der Sache. Julie schwebt am Rande des Abgrundes; öffentliche Schmach, Unwillen ihrer Familie, Mißhandlungen von Seiten eines heftigen Vaters und ihre eigene Verzweiflung brechen über sie herein. Die Gefahr wächst mit jedem Augenblicke; das Messer, von der Hand ihres Vaters oder ihrer eigenen, ist jeden Augenblick nur zwei Finger von ihrem Herzen entfernt. Ein einziges Mittel ist noch übrig, um allem Unglücke vorzubeugen und dieses Mittel hängt allein von Ihnen ab. Das Schicksal Ihrer Geliebten liegt in Ihren Händen. Sehen Sie zu, ob Sie den Muth haben, sie zu retten, indem Sie sich von ihr entfernen, da es ihr auch ohnehin nicht mehr verstattet ist, Sie zu sehen, oder ob Sie lieber Urheber und Zeuge ihres Unterganges und ihrer Schmach sein wollen. Nachdem sie Alles für Sie gethan hat, wird sie nun erfahren, was Ihr Herz für sie thun kann. Ist es ein Wunder, daß ihre Gesundheit ihren Leiden erliegt? Sie sind in Sorge um ihr Leben, wissen Sie denn, daß Sie Herr darüber sind?

Er hörte mich an, ohne mich zu unterbrechen; sobald er begriff, um was es sich handelte, sah ich an ihm die lebhafte Geberde, den funkelnden Blick, die scheue aber zuckende Miene, welche er zuvor gehabt, verschwinden, Bestürmung und Trübsinn überzog mit dunklem Schleier sein Gesicht; sein düsteres Auge und seine erloschenen Züge kündigten die Niedergeschlagenheit seines Herzens an: kaum hatte er die Kraft, den Mund aufzuthun, um mir zu antworten. Es muß geschieden sein, sagte er mit einem Tone, den ein Anderer für ruhig gehalten haben würde; gut! ich werde gehen. Habe ich nicht genug gelebt? Nein, gewiß nicht! antwortete ich sogleich; Sie müssen leben für Die, welche Sie liebt; haben Sie vergessen, daß ihre Tage von den Ihrigen abhängen? Man müßte sie also ungetrennt lassen, fiel er rasch ein; sie konnte es, sie kann es noch. Ich that, als hörte ich die letzten Worte nicht, und suchte einige Hoffnung in ihm anzuregen, der seine Seele jedoch nicht zugänglich war; da trat Hans ein, und brachte mir gute Nachricht. In dem Augenblick der Freude, welche er darüber empfand, rief er aus: Ha! sie lebe, sie sei glücklich .... wenn es möglich ist. Ich will ihr nur mein letztes Lebewohl sagen, und dann gehe ich. Vergessen Sie, sagte ich, daß es ihr nicht mehr erlaubt ist, Sie zu sehen? Ach! euer Lebewohl ist gesagt, ihr seid schon getrennt, Ihr Schicksal wird weniger hart sein, wenn Sie fern von ihr sein werden; Sie werden wenigstens die Freude haben, ihre Sicherheit bewirkt zuhaben. Eilen Sie noch heute fort von hier, den Augenblick; daß Sie nicht ein Opfer von solcher Größe bringen und bringen es zu spät. Zittern Sie, ihren Tod noch zu verursachen, nachdem Sie sich schon für sie dahingegeben! Wie? rief er mit einer Art Wuth, ich soll hinweggehen, ohne sie zu sehen? Wie? Ich soll sie nicht mehr sehen? Nein! Nein! Wir werden beide sterben, wenn es sein muß; der Tod, ich weiß es, wird ihr mit mir nicht hart dünken; aber ich will sie sehen, was auch daraus entstehe; ich will mein Herz, mein Leben zu ihren Füßen lassen, ehe ich mich von mir selbst reiße. Es ist mir nicht schwer geworden, ihm die Thorheit und Grausamkeit eines solchen Vorhabens zu zeigen. Aber dieses „Wie? ich soll sie nicht mehr sehen?" das immer wieder und mit immer schmerzlicherem Tone wiederkehrte, schien Trost wenigstens für die Zukunft zu suchen. Warum, sagte ich ihm, wollen Sie sich Ihr Unglück ärger vorstellen als es ist? Warum Hoffnungen entsagen, die Julie selbst nicht aufgegeben hat? Denken Sie, daß sie sich so von Ihnen hätte trennen können, wenn sie glaubte, daß es für immer wäre? Nein, mein Freund, Sie müssen ja ihr Herz kennen; Sie müssen wissen, wie viel ihr ihre Liebe mehr ist als ihr Leben. Ich fürchte, ich fürchte nur zu sehr (ich fügte diese Worte hinzu, gestehe ich dir), daß sie sie bald Allem vorziehen werde, Glauben Sie also, daß sie hofft, da sie willig ist, zu leben: glauben Sie nur, die Vorsorge, welche ihr die Klugheit eingiebt, ist mehr auf Sie berechnet als es den Anschein hat, und sie nimmt sich nicht weniger Ihretwegen so in Acht als ihrer selbst wegen. Ich langte hierauf deinen letzten Brief hervor, und indem ich ihm die Liebeshoffnungen dieses verblendeten Mädchens, das keine Liebe mehr in sich zu haben wähnt, zeigte, belebte ich die seinigen mit dieser milden Wärme. Die wenigen Zeilen schienen einen lindernden Balsam in seine vergifete Wunde zu träufeln. Ich sah seine Blicke sich sänftigen und seine Augen sich netzen, ich sah Schritt für Schritt seine Verzweiflung in Wehmuth übergehen; und bei den letzten so rührenden Worten, wie dein Herz sie nur sagen kann: „Wir werden nicht lange getrennt leben," zerfloß er in Thränen. Nein, Julie, nein, meine Julie, sagte er mit steigender Stimme und den Brief küssend, wir werden nicht lange getrennt leben; der Himmel wird unser Schicksal auf Erden vereinigen, oder unsre Herzen in dem ewigen Aufenthalte.

Dies war nun die Stimmung, in welcher ich ihn gewünscht hatte. Sein starrer, düsterer Schmerz hatte mich besorgt gemacht. Ich hätte ihn in dieser Gemüthsverfassung nicht von hier fortgelassen; aber sobald ich ihn weinen sah, und deinen geliebten Namen sanft aus seinem Munde kommen hörte, fürchtete ich nicht mehr für sein Leben, denn nichts ist so fern von Zärtlichkeit als die Verzweiflung. In diesem Augenblicke gerieth er in der Bewegung seines Herzens auf einen Einwand, auf den ich nicht gefaßt war. Er sprach von den Umständen, in welchen du dich zu befinden glaubtest, und schwor, lieber tausend Tode zu sterben, als dich in allen den Gefahren, die dir droheten, allein zu lassen. Ich hütete mich, etwas von deinem Zufalle zu erwähnen; ich sagte ihm einfach, daß deine Erwartung wieder getäuscht worden und daß nichts mehr zu hoffen wäre. So wird denn, sagte er mit einem Seufzer, auf Erden sein Denkmal meines Glückes bleiben; es ist verschwunden wie ein Traum, der niemals Wirklichkeit gehabt hatte.

Ich hatte noch den letzten Theil deines Auftrages auszuführen und ich glaubte, daß es nach der Gemeinschaft, in welcher ihr gelebt habt, dabei keines Umschweifs und Heimlichthun bedurfte. Ich würde selbst ein wenig Streit über diesen geringfügigen Gegenstand gar nicht ungern gesehen haben, um dem auszuweichen, welcher sich über den Gegenstand unserer Unterredung immer noch von neuem entspinnen konnte. Ich warf ihm seine Nachlässigkeit in der Besorgung seiner Angelegenheiten vor. Ich sagte ihm, du fürchtest, daß er seit langer Zeit hierin nicht mehr sorgfältig genug sei, und beföhlest ihm einstweilen, bis er es werden würde, sich für dich zu erhalten, besser für seine Bedürfnisse zu sorgen und sich zu dem Ende mit der schwachen Zubuse zu belästigen, welche ich ihm von deiner Seite zuzustellen hatte. Er schien von diesem Anerbieten weder beleidigt, noch geneigt es sich zu Nutze zu machen. Er sagte einfach, du wüßtest wohl, daß ihm nichts von dir käme, was er nicht mit Entzücken annähme, aber deine Vorsicht wäre überflüssig, durch den Erlös von einem kleinen Eigenthume in Granson, welches ihm von seinem geringen Erbgute noch geblieben war, und welches er verkauft hatte, [Ich begreife nicht recht, wie dieser Anonyme Liebhaber, der, wie man weiterhin sehen wird, noch nicht vierundzwanzig Jahre alt war, ein Haus verkaufen konnte, ohne majorenn zu sein. Diese Briefe sind aber so voll von dergleichen Unwahrscheinlichkeiten, daß ich nichts weiter darüber bemerken will: genug, ich habe darauf aufmerksam gemacht.] wäre er reichlicher mit Gelde versehen als je in seinem Leben. Uebrigens, setzte er hinzu, besitze ich manche Fertigkeit, wovon ich mich überall ernähren kann. Es wird nur ein Glück für mich sein, sie gebrauchen zu müssen, da ich vielleicht ein wenig dadurch von meinen Leiden abgezogen werde; da ich in größerer Nähe gesehen habe, welche Anwendung Julie von ihren Ueberschüssen macht, betrachte ich dieses Geld wie den geheiligten Schatz der Witwe und der Waise, dem ich um der Menschlichkeit willen nichts entziehen darf. Ich rief ihm seine Reise nach dem Wallis ins Gedächtniß, deinen Brief und die Gemessenheit deines Befehls. Es walten, sagte ich, die nämlichen Gründe ob …. Die nämlichen? Unterbrach er mich mit dem Tone des Unwillens. Die Strafe für meine Weigerung war, sie nicht wieder zu sehen: lasse sie mich bleiben, und ich nehme ihr Geld an. Wenn ich gehorche, warum mich bestrafen? Wenn ich nicht gehorche, was kann mir denn Schlimmeres geschehen? ….

Die nämlichen? Wiederholteer mit dem Tone der Ungeduld. Unsere Verbindung war im Beginnen, jetzt ist sie im Begriffe zu enden; vielleicht gehe ich, um von ihr auf ewig getrennt zu sein; es ist nichts mehr gemein zwischen ihr und mir; wir werden ja nun Fremde für einander sein. Er sprach diese letzten Worte so gepreßt aus, daß ich mir so schwer geworden war, ihn zu reitzen, Sie sind ein Kind, sagte ich mit angenommenen Lächeln, Sie müssen noch einen Vormund haben, und ich will es sein. Ich werde das behalten, und um in dem Verkehre, in welchem wir mit einander stehen werden, zweckmäßig darüber verfügen zu können, will ich von Ihren Angelegenheiten genau unterrichtet sein. Ich suchte ihn so von seinen schlimmen Gedanken durch den Gedanken an einen vertraulichen Briefwechsel zwischen uns abzulenken, und diese schlichte Seele, die sich immer nur an alles was dich umgiebt, so zu sagen, anzuhaken sucht, ließ sich leicht dadurch kirren. Wir verabredeten dann die Adressen, und da ihm diese Veranstaltung nur angenehm sein konnte, so zog ich die Unterhandlung darüber so lange hin, bis Herr von Orbe kam, der mir ein Zeichen gab, daß alles fertig sei.

Dein Freund begriff leicht, um was es zu thun war: er bat inständigst, daß wir ihm noch an dich schreiben ließen, aber ich habe mich wohl gehütet, es zu erlauben. Ich sah voraus, daß er zu weich werden, und daß es, wenn er kaum bis zur Hälfte seines Briefes gelangt wäre, nicht mehr möglich sein würde, ihn zur abreise zu bewegen. Jeder Aufschub, sagte ich ihm, ist gefährlich; beeilen sie sich die erste Station zu erreichen, von wo sie ihr dann in aller Muße schreiben können. Bei diesen Worten trat ich zu ihm, indem ich zugleich Herrn von Orbe einen Wink gab, indem mir das Herz von Schluchzen schwoll, und preßte mein Gesicht auf das seinige; ich weiß nicht, was weiter mit ihm geschehen ist; die Thränen verdunkelten mir das Gesicht, mein Kopf fing an zu schwindeln und es war Zeit, daß meine Rolle endete ….

Einen Augenblick darauf hörte ich sie schnell die Treppe hinabsteigen. Ich ging hinaus an die Treppe, um ihnen mit den Augen zu folgen. Dieser letzte Zug fehlte mir noch zu meiner Verstörung; ich sah den Unsinnigen sich mitten auf der Treppe niederwerfen, tausendmal die Stufen küssen, und wie Orbe Mühe hatte, ihn von den kalten Steinen aufzureißen, gegen die er, lange Seufzer aushauchend, Leib, Kopf, Arme drückte. Ich fühlte mich nahe daran, mit einzustimmen, und zog mich hastig zurück, um nicht dem ganzen Hause einen Auftritt zu geben.

Einige Augenblicke später kam Herr von Orbe zurück, mit dem Taschentuch vor den Augen. Es ist gethan, sagte er, sie sind unterwegs. Als er vor sein Haus kam, fand Ihr Freund die Chaise bereit stehen; Milord Eduard erwartete ihn; er sprang ihm entgegen und preßte ihn an seine Brust. „Komm, Unglücklicher!" rief er mit tiefbewegter Stimme; „komm, schütte deine Schmerzen in dieses Herz, das dich liebt. Komm, du empfindest vielleicht noch einst, daß man nicht Alles verloren hat, wenn man noch einen Freund besitzt wie mich." Im Augenblicke hob er ihn mit kräftigem Arme in die Chaise und sie fuhren ab, einander in den Armen liegend.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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