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Fünfter Brief.
Antwort.

Inhaltsverzeichnis

Deine Unschlüssigkeit hat nur zu viel Grund, liebe Julie; ich habe sie vorausgesehen, aber ihr nicht zuvorkommen können; ich empfinde sie und kann ihr kein Ende machen, und was mir bei deiner Lage das Schlimmste scheint, ist dies, daß dich Niemand daraus ziehen kann, als du selbst. Wenn es um Vorsicht zu thun ist, so kommt die Freundschaft einer bewegten Seele zu Hülfe; wenn es sich darum handelt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, so mag die Leidenschaft, welche nicht zu urtheilen im Stande ist, vor einem uneigennützigen Rathschlage verstummen. Aber hier, welchen Entschluß du auch fassest, die Natur heiligt ihn und verdammt ihn, die Vernunft verwirft ihn und billigt ihn, die Pflicht schweigt oder ist mit sich selbst in Widerspruch; die Folgen sind auf beiden Seiten gleicher Weise zu fürchten; du kannst nicht unentschieden bleiben, noch kannst du recht wählen; du hast nur Leid gegen Leid zu halten und dein Herz allein hat zu entscheiden. Ich, ich bin erschrocken vor der Wichtigkeit dieser Entscheidung und mich betrübt ihre nothwendige Folge. Welches Geschick du erwählen mögest, immer wird es wenig deiner würdig sein; und da ich weder einen Ausweg weiß, wie er sich für dich schicken würde, noch dich zum wahren Glücke führen kann, so habe ich nicht den Muth, über dein Schicksal zu bestimmen. Dies ist das erste Mal, daß deine Freundin dir etwas abschlägt, und ich fühle wohl, so sauer wird es mir, daß es auch das letzte Mal sein wird; aber es wäre ein Verrath an dir, wenn ich dich in einem Falle leiten wollte, wo die Vernunft selbst sich Stillschweigen auflegt und die einzige Richtschnur sein kann, daß du deinem eigenen Hange folgest.

Sei nicht ungerecht gegen mich, meine süße Freundin, und richte nicht voreilig über mich. Ich weiß, daß es vorsichtige Freundschaften giebt, die, aus Furcht, sich zu compromittiren, Rath in schwierigen Fällen verweigern und deren Zurückhaltung mit der Gefahr des Freundes wächst. Ach, du wirst sehen, ob dieses Herz, das dich liebt, von solchen ängstlichen Vorsichtsmaßregeln etwas weiß. Erlaube mir, daß ich, statt der deinen, einen Augenblick von meinen Angelegenheiten spreche.

Hast du nie bemerkt, mein Engel, wie Alles, was dir naht, sich an dich hängt? Daß Vater und Mutter eine einzige Tochter lieben, ist, weiß ich wohl, nichts Erstaunliches; daß ein junger feuriger Mensch sich für einen liebenswürdigen Gegenstand entzündet, auch das ist nichts Außerordentliches. Aber daß in reifem Alter ein so kalter Mann, wie Herr von Wolmar, bei deinem Anblicke sich zum ersten Male in seinem Leben ergriffen fühlt, daß eine ganze Familie dich einhelligen Sinnes vergöttert, daß mein Vater, ein nichts weniger als empfindsamer Mann, dich ebenso lieb, vielleicht noch lieber hat als seine eigenen Kinder, daß Freunde, Bekannte, Dienstboten, Nachbarn und eine ganze Stadt dich Einer wie Alle und Alle für Einen anbeten und an deinem Schicksale den zärtlichsten Antheil nehmen, sieh, Liebe, das ist ein minder gewöhnliches Zusammentreffen und würde gewiß nicht eingetreten sein, wenn nicht ein besonderer Grund dazu in deiner Person läge. Weißt du wohl, was dieser Grund ist? Nicht deine Schönheit, noch dein Verstand, noch deine Anmuth, noch irgend etwas von dem, was man die Gabe zu gefallen nennt, sondern dein zärtliches Herz, deine anschmiegende Weichheit, die nicht ihres Gleichen hat, mit einem Worte: die Gabe zu lieben ist das, was dir die Liebe Aller gewinnt. Man kann Allem widerstehen, nur nicht dem Wohlwollen, und es giebt kein sichereres Mittel, die Zuneigung der Andern zu gewinnen, als wenn man ihnen mit der seinigen entgegenkommt. Tausend Frauen sind schöner als du, manche geben dir an Grazie nichts nach, aber nur du allein hast, außer diesen, etwas Verführerisches, das nicht blos gefällt, sondern ergreift und alle Herzen zwingt, dir zuzufliegen. Man fühlt, daß dieses zärtliche Herz nichts Anderes verlangt, als sich hinzugeben, und das süße Gefühl, dem es nachgeht, geht auch ihm selber nach.

Du siehst zum Beispiel, mit Erstaunen, die unglaubliche Zuneigung Milord Eduard's zu deinem Freunde; du siehst, wie eifrig besorgt er für dein Glück ist; du nimmst mit Bewunderung seine großmüthigen Anerbietungen entgegen; du missest sie lediglich der Tugend bei: und meine Julie, husch, gerührt! Alles Irrthum, Täuschung, reizende Cousine! Gott verhüte, daß ich Milord Eduard's Mildthätigkeit verkleinere und seine große Seele herabsetze! Aber glaube mir, dieser Eifer, so rein er ist, würde weniger feurig sein, wenn er unter gleichen Umständen andere Personen beträfe. Deine unwiderstehliche Macht und die deines Freundes wirken, ohne daß er es selbst merkt, so auf seine Seele, daß er aus Anhänglichkeit thut, was er nur aus Biederkeit zu thun meint.

So geht es Seelen aus einem gewissen Teige immer: sie wandeln so zu sagen die Anderen nach sich um; sie haben eine Wirkungssphäre, in welcher ihnen nichts widersteht; man kann sie nicht kennen, ohne sie nachahmen zu wollen, und mit ihrem hohen Wesen ziehen sie Alles an sich, was in ihren Bereich kommt. Deswegen aber, meine Lieben, werdet ihr, du wie dein Freund, vielleicht nie die Menschen kennen lernen; denn ihr werdet sie immer mehr so sehen, wie ihr sie zu sein zwingt, als wie sie von selbst sind. Ihr werdet Allen, die mit euch leben, den Ton geben; sie werden euch ausweichen oder euch ähnlich werden, und Alles, was ihr erfahren werdet, wird vielleicht nichts ihm Aehnliches in der ganzen übrigen Welt haben.

Kommen wir nun auf mich, Cousine, auf mich, die dasselbe Blut, gleiches Alter und vor Allem eine Uebereinstimmung der Neigungen und der Gemüthsart, bei ganz entgegengesetztem Temperamente, von Kindheit auf dir verbündet hat.

Congiunti eran l'alberghi, Ma più congiunti i cuori: Conforme era l'etate, Ma'l pensier più conforme.

[Die Wohnungen waren verbunden. Verbundener die Herzen, Und gleich die Zahl der Jahre, Die Sinnesart noch gleicher. Tasso's Aminta.]

Wie denkst du, daß dieser bezaubernde Einfluß, der sich Allem fühlbar macht, was dir naht, auf Die gewirkt habe, welche mit dir ihr Leben hingebracht hat? Glaubst du, daß zwischen uns nur eine alltägliche Verbindung bestehen kann? Geben meine Augen die süße Freude nicht wieder, welche ich jeden Tag, wenn wir einander sehen, in den deinigen schöpfe? Liesest du nicht in meinem bewegten Herzen, welche Lust es mir ist, deine Leiden zu theilen und mit dir zu weinen? Kann ich es vergessen, daß dir in dem ersten Entzücken einer keimenden Liebe die Freundschaft nicht zur Last war und daß das Murren deines Liebhabers dich nicht bewegen konnte, mich von dir zu entfernen und mir das Schauspiel deiner Schwachheit zu entziehen? Dies war ein kritischer Augenblick, meine Julie; ich weiß, was bei deinem züchtigen Herzen das Opfer werth ist, welches du mit einer Scham gebracht, die nicht gegenseitig war. Nie würde ich deine Vertraute geworden sein, wenn ich nur halb deine Freundin gewesen wäre, und unsere Seelen haben sich in ihrer Vereinigung zu sehr gefühlt, um je wieder getrennt werden zu können.

Was ist es, das Freundschaften so lau und so wenig dauerhaft unter Frauen macht, nämlich auch unter solchen, die der Liebe fähig sind? Die Interessen der Liebe, die Herrschaft der Schönheit, die Eifersucht auf Eroberungen. Nun, wenn etwas der Art uns hätte scheiden können, so würden wir schon geschieden sein. Aber wenn mein Herz auch weniger ungeschickt zur Liebe wäre, wenn ich auch nicht wüßte, daß euere Flamme von solcher Art ist, daß sie nur mit eurem Leben selbst erlöschen kann, dein Geliebter ist mein Freund, das heißt, mein Bruder, und wer sah je eine wirkliche Freundschaft in Liebe enden? Was Herrn von Orbe betrifft, so würde er sich gewiß deiner Gesinnung für ihn bedeutend zu rühmen haben müssen, ehe es mir einfiele, darüber böse zu sein, und ich bin nicht mehr in Versuchung, ihn mit Gewalt festzuhalten, als du, ihn mir zu entreißen. Ei, Kind! Wollte Gott, ich könnte dich auf Kosten seiner Anhänglichkeit von der deinigen heilen! ich behalte sie gern, aber ich würde sie mit Freuden opfern.

Hinsichts der Prätensionen auf Aeußeres könnte ich so viele machen, als ich immer wollte, du bist nicht das Mädchen dazu, sie mir zu bestreiten, und ich bin sehr sicher, daß es dir im Leben nicht in den Sinn kommen wird, wissen zu wollen, welche von uns beiden die Hübscheste ist. Ich bin in Bezug auf diesen Punkt nicht ganz eben so achtlos gewesen; ich weiß, wie es damit steht, ohne daß es mir den geringsten Kummer verursachte. Es kommt mir sogar vor, als ob es mich eher selbstzufrieden als eifersüchtig machte; denn da im Grunde deine äußern Reize nicht diejenigen sind, die mir stehen würden, so nehmen sie mir nichts von dem, was ich habe, und ich finde mich auch noch schön von deiner Schönheit, liebenswürdig von deiner Grazie, geziert durch deine Talente; ich schmücke mich mit allen deinen Vollkommenheiten und meine am besten verstandene Eigenliebe setze ich in dich. Ich würde freilich für mein Theil nicht gerade gerne Furcht machen, aber ich bin hübsch genug für mein Bedürfniß darnach. Alles Mehrere wäre Ueberfluß, und ich brauche mich nicht gedemüthigt zu fühlen, wenn ich dir nachstehe.

Du wirst ungeduldig, zu erfahren, wo hinaus ich will. Ich bin schon da. Den Rath, den du verlangst, kann ich dir nicht geben, ich habe dir die Ursache davon gesagt; aber was du für dich beschließen wirst, das wirst du zugleich für deine Freundin beschließen; und wie auch dein Loos falle, ich bin Willens, es zu theilen. Wenn du fortgehest, gehe ich mit; wenn du bleibst, bleibe ich; mein Entschluß steht unerschütterlich fest; es ist meine Pflicht und nichts soll mich davon ablenken. Meine unselige Nachgiebigkeit hat dein Verderben herbeigeführt; dem Schicksal muß das meinige sein, und da wir von Kindheit auf unzertrennlich waren, meine Julie, wollen wir es auch bis zum Grabe sein.

Du wirft in diesem Plane, sehe ich voraus, vielen Leichtsinn finden, aber im Grunde ist er doch vernünftiger, als es scheint, und ich habe nicht dieselben Gründe, unschlüssig zu sein, wie du. Erstlich, was meine Familie betrifft, so verlasse ich, wenn ich einen willfährigen Vater verlasse, auch einen ziemlich unbekümmerten, der seine Kinder thun läßt, was sie wollen, mehr aus Lässigkeit als aus Zärtlichkeit, denn du weißt, daß ihn die europäischen Angelegenheiten weit mehr beschäftigen als seine eigenen, und daß ihm seine Tochter lange nicht so viel gilt als die Pragmatische Sanktion. Außerdem bin ich nicht, wie du, das einzige Kind, und mit den Kindern, die er behält, wird er kaum wissen, ob ihm eines fehlt.

Ich lasse eine Heirat, die zum Schlusse reif ist, im Stiche? Manco male“[Italienische Redensart; etwa: „ei, und warum nicht?“; „nicht übel“; „auch gut“; „immerhin“ u. dergl.], meine Liebe; Herr von Orbe muß, wenn er mich lieb hat, sich zu trösten suchen. Was mich betrifft, so schätze ich zwar seinen Charakter, bin nicht ohne Anhänglichkeit für ihn, und so wäre mir um den braven Mann leid, aber neben meiner Julie ist er mir nichts. Sage mir, Kind, hat das Gemüth ein Geschlecht? In der That, ich fühle nichts davon an dem meinigen. Ich kann Phantasien haben, aber recht wenig Liebe. Ein Ehemann mag recht gut für mich sein, aber er wird nie mehr für mich sein als ein Mann, und einen solchen kann ich, frei noch und leidlich wie ich bin, überall in der Welt finden.

Beachte wohl, Cousine, daß, wenn auch ich keinen Anstand nehme, damit nicht gesagt ist, daß auch du keinen nehmen sollst, oder daß ich dir anrathen wolle, den Entschluß zu fassen, welchen ich ergreisfn würde, wenn du fortgingest. Der Unterschied zwischen uns beiden ist groß und deine Pflichten sind viel strenger bindend. Du weißt auch, daß eine fast einzige Zuneigung mein Herz ausfüllt und alle andere Gefühle so aufzehrt, daß sie wie nicht da sind. Eine unwiderstehliche süße Gewohnheit fesselt mich an dich von Kindheit auf; ich habe nur dich vollkommen lieb, und wenn ich, um mit dir zu gehen, irgend ein Band zerreißen muß, so wird mir dein Beispiel Muth machen. Ich werde mir sagen, ich ahme Julien nach, und , werde mich so gerechtfertigt dünken.

Billet.
von Julie an Clara.

Ich verstehe dich, unvergleichliche Freundin, und ich danke dir. Einmal wenigstens werde ich meine Pflicht gethan haben, und nicht ganz deiner unwerth sein.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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