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Deutsche Identität und autochthoner Ursprung

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In Was ist eine Nation? schrieb Ernest Renan, dieser subtile Kenner Deutschlands und seiner Geschichtsschreibung: „Eine heroische Vergangenheit, große Persönlichkeiten, Ruhm – das ist das gesellschaftliche Kapital, auf dem man eine nationale Identität gründen kann.“3 Im 19. Jahrhundert betrachtete Deutschland sich als „späte“ bzw. „verspätete Nation“4 im Vergleich mit den anderen großen Ländern Europas. Vor allem der Vergleich mit Frankreich fiel für die Deutschen der Zeit um 1800 erschütternd aus. Frankreich war eine Nation, die erst von den Königen geeint wurde, dann vom neuen Zentralstaat, den sich die Revolution schuf, mit einheitlichem Rechtssystem und einer Einheitssprache. Das mächtige und vereinte Frankreich hatte über ein Heiliges Germanisches Reich deutscher Nation gesiegt, wobei die beiden letzten Elemente dieses Begriffs in der Düsternis der Niederlage von 1806 noch vergeblich nach ihrer Definition suchten.

Wie sollte man diese nationale Identität Deutschlands definieren? Sie war nicht politischer Natur, denn ganz im Unterschied zu Frankreich bestanden die deutschen Lande aus einer Vielzahl von Kleinstaaten, von kleinen Königreichen, Fürstentümern, Markgrafschaften, freien Städten, Bistümern und Baronien, insgesamt mehr als 300 Staaten, deren Macht- und Autonomiestreben der Westfälische Frieden weidlich bedient hatte. Er dehnte ja einerseits das Prinzip der Landeshoheit auch auf Staaten weit unterhalb der Ebene eines Königreichs aus und hielt andererseits an der in der Wirklichkeit nicht einlösbaren Fiktion des Fortbestehens des Reichs fest.

War die Einheit Deutschlands also kultureller Natur? Ja und nein. Zwar begrüßten und feierten die deutschen Humanisten seit der Renaissance die sprachliche Einheit, der Luther mit seiner Übersetzung der Hieronymus-Bibel anno 1522 das erste Denkmal setzte. Doch verfügte die deutsche Sprache nicht über eine Regel und Normen setzende Einrichtung wie die Académie française. Sie zerfiel weiterhin in zahlreiche Dialekte, die bis in die Gegenwart eine Lebenskraft bewiesen, die den französischen Beobachter, der an die sprachliche Einheitlichkeit der Schule Condorcets und Jules Ferrys gewöhnt war, nur erstaunen konnte. Darüber hinaus sind die Deutschen seit der Reformation konfessionell gespalten in einen mehrheitlich protestantischen Norden und einen eher katholischen rheinischen und alpenländischen Süden. Die Teilungslinie verläuft entlang dem sogenannten Weißwurstäquator5, der seinen Namen der Tatsache verdankt, dass Norden und Süden sich auch in ihren Essgewohnheiten unterscheiden.

Eine Definition mit Hilfe von politischen, sprachlichen oder religiösen Kriterien erwies sich da als unfruchtbar, und so kam es, dass sich Deutschland im 19. Jahrhunderts eher an anthropologischen Kriterien orientierte. Man suchte die mysteriöse deutsche Identität im kontinuierlichen Fortbestehen einer Rasse, die seit Urzeiten auf germanisch-deutscher Erde lebte.

Deren Existenz ließ sich mindestens für die letzten zwei Jahrtausende belegen.6 Seit der Renaissance halten die deutschen Intellektuellen einen Text des Tacitus7 in Händen, der die Volksstämme beschreibt, mit denen sich die Römer nördlich der Donau und östlich des Rheins auseinanderzusetzen hatten. Die Schrift De origine et situ germanorum, die der offizielle Historiograph der Flavier im Jahre 98 verfasste, verlieh jenen Stämmen, die über keinerlei schriftliches Gedächtnis verfügten, das ganze Prestige, das mit antiker Patina verbunden ist. Die Untertanen des Königreichs Frankreich und dann die Franzosen konnten sich schon sehr früh auf Cäsar beziehen, dessen Text die Erinnerung an die Gallier ehrfürchtig aufbewahrt und am Leben erhält. Nunmehr hatten die Deutschen ihre Germania: Eine Darstellung aus der Feder eines Autors aus dem alten Rom bedeutete für die im Entstehen begriffenen Nationen so etwas wie einen Altertumsnachweis, die Bestätigung einer Existenz seit fernen und dementsprechend ehrwürdigen Zeiten und eines Fortbestehens im Lauf der Geschichte bis hin zur Gegenwart.8

Germanien ist von Germanen bewohnt. Doch woher kommen diese? Tacitus bietet uns eine oberflächliche Genealogie der germanischen Stämme an. Er weiß nicht, mit wem er sie in Verbindung bringen könnte, und beweist nur geringen Einfallsreichtum, wenn er ihren Stammbaum bereits im zweiten Abschnitt seines Texts im Anschluss an einen nachhaltig erfolgreichen griechischen Gedankengang in der Tiefe eines nährenden Urgrunds verankert:

Die Germanen selbst sind Ureinwohner, wie ich glauben möchte, und durch Zuwanderung und Aufnahme fremder Stämme gar nicht vermischt.“9

Die beiden Wörter Germanos indigenas begründeten den Mythos germanischer „Autochthonie“, der Annahme ihrer Ureinwohnerschaft. Das lateinische Adjektiv indigena, -ae leitet sich von unde ab, jenem Relativ- oder Fragepronomen, das zusammen mit seinem Korrelat inde den Ursprung bezeichnet. Der indigena ist also derjenige, „der von dort stammt“, vom in Rede stehenden Ort. Dieses lateinische Wort, dessen sich Tacitus bedient, entspricht genau dem Gedanken, der in der doppelten griechischen Wurzel des Worts „autochthon“ steckt. Die Germanen sind „selbst-geboren“, ohne Zutat, ohne Beifügung von exogenen Bevölkerungsgruppen, so wie die Athener, die das Bewusstsein ihres Vorrangs unter den hellenischen Völkern auf die Überzeugung gründeten, autochthon zu sein und keine Einwanderer aus der Fremde wie etwa die aus der dorischen Einwanderung hervorgegangenen Lakedämonier.10

Zu diesem autochthonen Ursprung, dieser Urzeugung eines Volks aus seinem eigenen Boden heraus, zu dieser wahren Parthenogenese, dieser jungfräulichen Geburt aus fruchtbarem und blutgetränktem Boden kam der zweite Topos einer phantasiegeborenen deutschen Identität, der Reinheitstopos. Unvermischten Ursprungs, haben die germanischen Völker sich niemals vermengt mit anderen Völkern:

Ich selbst trete den Meinungen derer bei, die glauben, daß die Völker Germaniens nicht durch Zusammenheirat aus anderen Völkern ungünstig beeinflußt wurden und deshalb ein eigenwüchsiger, reiner und nur sich selbst gleicher Menschenschlag sind.“11

Tacitus versah die Deutschen mit einer alten und schon dadurch schmeichelhaften Genealogie sowie mit einer sie aufwertenden physischen und charakterlichen Identität. Seine ethnographische Studie begründete ein anthropomorphes Stereotyp, dem eine große Zukunft beschieden sein sollte, das des Germanen und – auf dem Weg legitimer Erbfolge – des Deutschen. Dessen Körper stattete er mit bemerkenswerten geistig-seelischen Eigenschaften aus. Der germanische Ethnotyp wurde insgesamt positiv dargestellt, physisch wie psychisch. Die Bahn war frei für eine nachhaltig positive Tacitus-Rezeption im Rahmen eines Prozesses der Identitätsbestimmung.

Der Nationalsozialismus und die Antike

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