Читать книгу Der Nationalsozialismus und die Antike - Johann Chapoutot - Страница 8

Einleitung

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Am Beginn der vorliegenden Studie steht ein Erstaunen: Im Zusammenhang mit Forschungen über die Jugendbewegungen und die europäische Idee stieß ich auf Reden Alfred Rosenbergs, in denen dieser behauptete, die Griechen seien ein nordisches Volk. Ich ging der Sache nach und stellte fest, dass dieser seltsame Text getreu dem Leitwerk der NS-Doktrin folgte, schrieb Hitler doch in Mein Kampf, dass zwischen Griechen, Römern und Germanen eine „Rasse-Einheit“ bestehe, und dass diese drei Völker seit Jahrtausenden in einem gemeinsamen Kampf stünden.

Um diesen verstörenden Ausführungen einen Sinn abzugewinnen, mag man sich darauf beziehen, dass die Zeitgenossen Jahrhunderte der Geschichte und – um mit Victor Hugo zu sprechen – die Legende der Jahrhunderte mit sich führten und dass ein Gespenst in besonderem Maße unter den Mächtigen in Europa umging, das der Antike. Spätestens seit der Renaissance bedarf es nur eines an das alte Rom erinnernden Gebäudes mit korinthischen Säulen, um die berauschende Erinnerung an römische Macht wachzurufen, an eine Herrschaft gegründet auf Waffen und auf das Recht, mit einem Hang zum Universalismus. Der Rückgriff auf das Exempel Rom ist nichts Außergewöhnliches in einem Abendland, dem nur lateinische Vokabeln zur Verfügung stehen, um die höchste Macht zu benennen: Imperator und Kaiser, ein Wort, das sich, wie übrigens auch Zar, von Caesar herleitet. Seit Karl dem Großen haben sich alle Anwärter auf Weltherrschaft die Gewänder des verblichenen imperium romanum übergestreift und alle Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Deutsche wie Österreicher, Franzosen und Briten, träumten den Traum von der restauratio imperii.

Auch Griechenland geriet nie in Vergessenheit. Man erinnerte sich freilich mehr an seine Sprache gewordene Hinterlassenschaft als an seine kriegerischen Taten. Es wurde zuständig für den seelischen Mehrwert, für den Adel des griechischen Profils und die Erhabenheit der Philosophie. Gerne richtete man eine Glyptothek ein, damit sich die Schönheit der antiken Bildhauerei zur Macht gesellen möge. Das philhellenische Deutschland Friedrichs des Großen, der Weimarer Klassik und Ludwigs I. von Bayern schrieb sich in diese Tradition ein, konnte es doch mit dem Griechenland Mesolongis zugleich das nationale Prinzip feiern.

Für den Historiker ist die Instrumentalisierung von Geschichte, der Rückgriff auf historische Paradigmen nicht nur im Fall der Antike ein geläufiges Phänomen. Es tritt besonders häufig in totalitären Regimen auf, da diese danach streben, das von ihnen angepriesene, noch unbekannte politische Objekt in der Tiefe historischer Normalität zu verankern. Stalin bestellte bei Eisenstein erst einen Alexander Newski, um dem russischen Widerstand gegen den germanischen Imperialismus historische Substanz zu verleihen, und dann einen Iwan den Schrecklichen, der zeigt, wie mitten im 15. Jahrhundert der Kreml gegen die Boyaren kämpft.

All das ist bekannt. Mussolini suchte ein imperium wiederherzustellen, dessen Landkarten er auf der Via dei fori imperiali zur Schau stellte. Die unmittelbare und wahrhaft spektakuläre Bezugnahme des italienischen Faschismus auf die Antike war bereits Gegenstand zahlreicher Forschungen. Dabei bleibt dieser Bezug zur Antike jedoch in der Regel bloße Inszenierung, reines Dekor. Im Vergleich damit scheint der Dichte der Vergangenheit im Fall des Nationalsozialismus eine weitaus tiefer gehende Bedeutung zuzukommen. Die Kunstpolitik des italienischen Faschismus zeigt, dass er offen war für Neues, während der Nationalsozialismus die Vergangenheit, diesen heiligen Ursprungsort, hegte, pflegte und verehrte.

Und doch hat der Bezug des Nationalsozialismus zur Antike kaum das Interesse der Historiker geweckt. So bereitwillig man anerkennt, dass die Nationalsozialisten ein authentisches und unbezweifelbares Germanentum für ihre Zwecke einspannten, so sehr widerstrebt man der Herstellung einer Verbindung von Nationalsozialismus und griechisch-römischer Antike.

Dabei ist diese allgegenwärtig. Man trifft sie an in den neugriechischen Akten eines Breker und eines Thorak, in der neudorischen Architektur Troosts und in den neurömischen Bauten Speers; in den Schulbüchern findet sich eine überraschende Sicht auf die mediterrane Antike und unter den akademischen Arbeiten aus der Zeit des „Dritten Reichs“ finden sich so unvergängliche Meisterwerke wie etwa Die blonden Haare der indogermanischen Völker des Altertums, oder aber Artikel voller ideologischem Opportunismus wie „Der Jude in der griechisch-römischen Antike“1. Die Antike stieß also im „Dritten Reich“ auf besonderes Interesse, und das gilt bis in die letzten Stunden des April 1945. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten der Völkische Beobachter und die Wochenzeitung Das Reich noch Texte über den Zweiten Punischen Krieg und die Schicksalswende im Kampf Roms gegen Hannibal-Stalin.

Unserem Erstaunen tut dies alles keinen Abbruch. Es stellt sich weiterhin die Frage, aus welch seltsamem Antrieb heraus die Würdenträger des Nazi-Regimes sich dazu veranlasst sahen, überhaupt von den Griechen und Römern zu sprechen und weshalb sie das so oft taten; weshalb sie neo-antike Kunstwerke und Presseartikel über das Rom der Fabier in Auftrag gaben; zu welchem Zweck sie die Antike mit Hilfe von akademischen Arbeiten und Lehrplanreformen einem gehörigen ideologischen aggiornamento unterzogen.

Für unser Wissen und Denken ist der Nationalsozialismus die ideologische und praktische Vollendung des Rassismus. Rassismus bedeutet aber Ausgrenzung: Der Rassismus trennt nach dem Freund-Feind-Schema auf der Grundlage eines strikten biologischen Determinismus. Dieser begründet eine strenge Selektion der Lebenden wie der Toten, der Zeitgenossen wie der Vorfahren. Die Vorstellung von der Übertragung der biologischen Rasse-Merkmale schließt alle Seitensprünge außerhalb der eigenen Abstammungslinie, jegliches genealogische Fremdgehen aus; sie erfordert vielmehr große patrilineare Konsequenz, einen pedantischen Agnatismus. Der Rasse-Stammbaum mag weit verzweigt sein, gleichwohl müssen Einheit und Reinheit des Stamms historisch verbürgt sein. So folgen sie denn vermeintlich in direkter Nachfolge aufeinander: die Germanen im Schoß des Urwalds und entlegener paläontologischer Landschaften, die Schwertbrüder und die Deutschherren-Ritter, Friedrich II. und Bismarck, schließlich Hindenburg und Hitler als Erfüllung der Propheten und krönender Höhepunkt der Abstammungslinie.

Im Rassismus überschneiden sich teilweise Ideologie und Genealogie, und das erklärt die besondere Affinität von Nationalsozialismus und Vergangenheit, Rasse und Verfolgung, Ausdruck der Identität und Suche nach dem Ursprung. Die SS verlangte vor Erteilung ihrer Heiratsgenehmigungen die Vorlage von Arier-Nachweisen bis ins Jahr 1750. Nachdem im Jahr 1943 zwei SS-Offiziere herausgefunden hatten, dass sie einen gemeinsamen jüdischen Vorfahren, Geburtsjahrgang 1685, hatten, ordnete Himmler an, dass sich die akribischen Prüfungen nach dem Krieg bis auf das Jahr 1650 erstrecken sollten. Dieser genealogische Reinheitswahn betraf sowohl den Einzelnen, der gemessen, vermessen und karteimäßig erfasst sowie hinsichtlich seiner Vergangenheit durchleuchtet wurde, als auch die Rasse selbst. Die SS und ihre archäologischen Bataillone vom Deutschen Ahnenerbe gruben in Sachsen, Schleswig, Lothringen, Polen, seltsamerweise aber auch in Olympia. Sollten dort Vorfahren zu finden sein?

Ein so obsessiver Rassismus wie der Nationalsozialismus müsste eigentlich von vornherein jegliche andere Bezugnahme als die auf ein genau definiertes und sorgfältig abgestecktes Germanen- und Deutschtum ausschließen. Was also haben Griechen und Römer in diesem Zusammenhang zu suchen, was die Statuen und Diskurse, von denen bereits die Rede war? Welches Bedürfnis diktierte diesen Rückgriff auf die griechisch-römische Antike? Haftet etwa dem Bezug aufs Germanische, dem germanischen Exempel, ein Geburtsfehler an, eine in seinem Wesen begründete Unzulänglichkeit?

Wenn es darum ging, den Nationalstolz und einen aktuellen Wettstreit zu beflügeln, hätte eigentlich der Vorrat an Bezügen auf die deutsche Geschichte den Bedarf reichlich, ja überreichlich abdecken können. Der Nationalsozialismus konnte doch in Bezug auf Vorbilder und Archetypen aus dem Vollen schöpfen in der Geschichte Preußens, des Heiligen Römischen Reichs und des Drangs nach Osten des Deutschherren-Ordens. Jeder Abschnitt dieser Geschichte liefert eine Vielzahl von Typen, die jeweils einen bestimmten Charakterzug des politischen Soldaten hervorheben, den der Nationalsozialismus verherrlichen wollte. So war die preußische Armee ein Muster an Disziplin, an Organisation und Drill, der Alte Fritz erfüllte alle Wünsche nach dem Bild einer vom Schicksal belohnten Zähigkeit und Hartnäckigkeit, das Heilige Römische Reich kam den hegemonialen Tendenzen des nationalsozialistischen Reichsgedankens entgegen und das deutschherrliche Epos lieferte ein Beispiel für den Eroberungsgeist, der eine Rasse auf der Suche nach ihrem Lebensraum beflügelt.

Schon ein Triptychon bestehend aus Hermann dem Cherusker, Heinrich dem Löwen und Friedrich II. von Preußen hätte genügen sollen, um alle Aspekte des nationalsozialistischen Ethos zu veranschaulichen, die von der Partei- und Regierungspropaganda dargestellt wurden. Sich andernorts umzusehen, musste doch geradezu unschicklich gegenüber dem Nationalstolz sein. Die deutsche Kultur vermochte sehr wohl, eine Kultur sui generis zu sein, eine durch und durch germanische nämlich. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, erweckte dies bei den kulturellen Nationalisten durchaus berechtigte Hoffnungen, insbesondere bei den Vorgeschichtlern. Diese meinten, nun könnten sie endlich in den Bibliotheken und Hörsälen Schluss machen mit Latein und Griechisch zugunsten eines germanischen Altertums.

Warum also die Antike-Referenz und so viel Reverenz vor Griechen und Römern, obwohl doch die genuin germanischen exempla in so hoher Zahl und Qualität vorhanden waren? Wo sollte hier der Mehrwert für die Nazis liegen?

Die germanischen exempla veranschaulichten ein Ethos, das des politischen Soldaten, eine Moral des Mutes, der Zähigkeit und der Aufopferung für die Gemeinschaft. Sie bildeten das transalpine Gegenstück zu den Porträts eines Titus Livius, zu Lhomonds De Viris Illustribus, zu Camillus, Regulus und Cincinnatus, die – hervorgegangen aus einer alchimistisch-subtilen Mischung von Wissenschaft, Folklore und wohlverstandenem politischen Interesse – in keinem der nationalen Gedenk-Diskurse fehlten. Grimm vermählte sich hier mit Lavisse, dem Oberlehrer der französischen Nation.

Doch ein ethos ist kein genos, eine Ethik keine Genealogie. Die rassisch aufgefasste Bezugnahme auf die Antike bot den Nazis die Gelegenheit, sich einen Ursprungsdiskurs zusammenzureimen in Gestalt der Biographie eines Urvolks, das durch das Prestige eines Augustus und eines Perikles zusätzlich geadelt würde.

Denn der ausschließliche Bezug aufs rein Germanische wäre zu ungehobelt gewesen. Die Archetypen dieser Geschichte leiden an einem nicht korrigierbaren Geburtsfehler, dem Mangel an kulturellem Prestige, das den leicht unterbelichteten germanischen Ursprüngen offenkundig abgeht. Wenn man die humanistischen Kulturen des Abendlands nach dem Grad der Zivilisiertheit einteilt, dann fehlt es der germanischen Grobheit an historischer Urbanität. Hitlers wiederholt proklamiertes Ziel war es aber, den Stolz einer durch das „Diktat von Versailles“ gedemütigten Nation wiederaufzurichten. Diese nationale Therapie beruhte nicht nur auf Wiederaufrüstung, auf Stiefelschritt im Saarland, in Österreich und Mähren sowie auf einer größenwahnsinnigen Architekturpolitik. Zwar sollte auch Europas Geographie die Wirkung von Hitlers Führungshand verspüren, seine Geschichte aber nicht weniger. Gegenwart und Raum waren nicht genug, vielmehr sollten auch Vergangenheit und Zeit ihren Beitrag zur Wiederaufrichtung eines Stolzes beitragen, der 1918 und 1919 so zerfleddert wurde. Der Annexion einer antiken Vergangenheit, ihrer Werke und Staaten, kam dabei eine zentrale ideologische Bedeutsamkeit zu.

Colette Beaune2 und Claude Nicolet3 haben uns die phantasievoll-fiktiven Genealogien der mittelalterlichen Nationen nahegebracht. Bei ihnen erfahren wir etwa, dass die französischen Monarchen den Hebräer David und den Trojaner Francus zu ihren Vorfahren erhoben, während die englischen Könige sich auf einen Nachfahren des Aeneas namens Brutus beriefen. In einem Kampf zweier Rassen, der im Frankreich des 16. Jahrhunderts ausbrach, hatte der Adel seine Franken, der Dritte Stand und dann die Republik hatten ihre Gallier.

Doch es ging hier nicht darum, eine Genealogie zu erfinden. Wenn Rosenberg und Hitler von den Griechen als „nordischem Volk“ sprechen, dann geht es nicht um Abstammung, Sohnschaft, sondern um den Anspruch auf Vaterschaft, womit eine bezeichnende Umkehrung des traditionellen Schemas einhergeht. Und wenn alles aus Deutschland käme? Diese Vereinnahmung des arischen Mythos war im Deutschland des 19. Jahrhunderts die Spezialität einiger sprachwissenschaftlicher und historischer Zirkel. In ihnen stellte man sich gerne vor, die Dorier Spartas seien aus dem Norden gekommen. Von den Nationalsozialisten wurden solche Betrachtungsweisen systematisiert und rassisch interpretiert. Wenn Deutschland mit hohem Prestige ausgestattete Zivilisationen hervorgebracht hatte, musste es zwangsläufig eine starke Nation sein. Somit war die Nachahmung der Antike weder „ehrenrührig“ noch „mit der nationalen Würde unvereinbar“, handelte es sich dabei doch lediglich um die legitime Wiederaneignung indogermanischen Erbes.

Trotz der erheblichen Dichte von Bezugnahmen auf das griechisch-römische Altertum im „Dritten Reich“ hat die Frage nach der Beziehung der Nationalsozialisten zur Antike die Historiker nur sehr gelegentlich interessiert. Diese befassen sich lieber mit dem Germanen-Mythos und der Rolle, die ihm in der Nazi-Ideologie zukommt.

Einige Historiker haben ganz speziell die Geschicke der Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich“ untersucht, so etwa Otto Gerhard Oexle4 und Peter Schöttler5, die sie als Legitimationswissenschaft der NS-Ideologie definieren. Die Rolle der Antike im Nationalsozialismus und das Schicksal der Disziplin der Alten Geschichte scheint im Übrigen weniger eine Angelegenheit der Zeitgeschichtler zu sein als vielmehr der Althistoriker, die zurückblicken auf Ethik und Methoden ihrer Disziplin. Auch die Kunsthistoriker treibt diese Frage um. So ist etwa eine Arbeit von Alex Scobie6 dem Verhältnis von NS-Architektur und Antike gewidmet.

Es liegt aber keine globale, zusammenfassende Studie zur Bezugnahme auf die Antike im „Dritten Reich“ vor, keine, die sich mit der Vielzahl ihrer Elemente und den diesen zugewiesenen Funktionen befassen würde. Diese globale Erfassung der vielfältigen Elemente soll hier geleistet werden, verbunden mit der Absicht, die mutmaßliche tiefere Bedeutung dieser Bezüge im Rahmen des Gesamtsystems der NS-Diskurse zu ermitteln.

In der großen Menge der von uns herangezogenen Quellen sind die Bezüge zur Antike reichlich, ja überreichlich vorhanden. Wir konnten das Vorhandensein eines in sich stimmigen Annexions-, Imitations- und Analogie-Diskurses feststellen, wobei dieser Diskurs von zahlreichen Zitat-, Echo- und Wiederholungselementen bestimmt wird sowie von Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Quellen. Sie alle leisteten ihren Beitrag zur Ausformung dieses umfangreichen und weit verbreiteten Diskurses, den man entsprechend der Bedeutung, die man ihm beimaß, weiterzutragen suchte.


Im Rahmen der Olympischen Spiele 1936 fand auf dem Reichssportfeld in Berlin die Ausstellung „Sport der Hellenen“ statt, in der u.a. diese Kopie des Poseidon von Kap Artemision gezeigt wurde.

Die Geschichte wurde neu geschrieben, wobei Griechen und Römer der nordischen Rasse einverleibt wurden. Der verbissene Machtwille, der dem NS-Totalitarismus zu eigen war, kam hier zu voller Entfaltung. Es ging ja nicht nur darum, Gegenwart und Zukunft zu beherrschen, sondern auch die Vergangenheit, eben um somit die Verfügungsgewalt über Gegenwart und Zukunft zu vervollkommnen.

Hannah Arendt zeigt auf, wie sehr der Totalitarismus auf die „Stimmigkeit einer fiktiven Welt“ abzielt, „mit der die wirkliche Welt […] nie und nimmer in Konkurrenz treten“7 kann. Diese fiktive Welt entspricht dem Postulat der totalitären Doktrin, denn diese beansprucht ja, die Gesetze der historischen Entwicklung entdeckt zu haben. Im Fall des Nationalsozialismus handelt es sich um das Postulat des Rassenkampfes, eines Kampfes, der sich im Fall der „Semiten“ nicht in der Ehre des Kampfes ausdrückt, sondern im zwielichtigen Halbschatten des Komplotts. Dieses Postulat lässt sich nicht im Sinne Poppers falsifizieren, es lässt sich nicht widerlegen im Rahmen eines narrativen Diskurses über die Wirklichkeit, die ja gerade dazu aufgerufen ist, dieses Postulat zu illustrieren, sodass sich die totalitäre Lüge in das Gewand beruhigender Kohärenz zu hüllen vermag. Arendt bemerkt, die Lüge antworte wohl auf das Verlangen eines Publikums, das sie hören wolle, auf einen Durst nach Fiktion, der seinerseits der „Sehnsucht der Massen nach einem völlig in sich konsequenten, verständlichen und voraussagbaren Geschehen“8 entspringe. Aus dem Chaos einer vielstimmigen und widersprüchlichen Geschichte wird so wohltuende Ordnung dank des Erklärungspostulats mit seinem Einheit stiftenden Prinzip. Vor allem die Vorstellung eines Komplotts hat den riesigen Vorteil, gegen jeglichen Widerspruch immun zu sein, ja diesen in sich aufnehmen und auflösen, aufheben zu können; simpel und leicht nachvollziehbar, gestattet diese Vorstellung eine Totalerklärung der Wirklichkeit.

Hannah Arendt betont, dass totalitäre Propaganda und Indoktrination sich durch ihre „bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt“9 auszeichnen, und sie zeigt auf, wie eng Lüge und übersteigerter Machtwille miteinander verbunden sind. Die Lüge des totalitären Diskurses verrät, „daß die Beherrschung des Erdballs das notwendige Ziel der totalitären Bewegungen ist; denn nur in einer vollständig kontrollierten und beherrschten Welt kann der totalitäre Diktator alle Tatsachen verachten, alle Lügen in die Wirklichkeit umsetzen und alle Prophezeiungen wahr machen“10.

Die totalitäre Logik will sich aber nicht nur auf die synchrone Realität erstrecken, sie drängt danach, sich auf die Diachronie auszudehnen. So ausgedehnt die Eroberungen auch sein mögen, die Geographie allein genügt nicht, auch die gesamte Geschichte muss der totalitären Ideologie angeschlossen, einverleibt werden.

Im Fall des Nationalsozialismus haben wir es mit einer Lüge zu tun, die selbst zur Macht wurde und die ihre phantasievollen Konstrukte in den Tiefen der entlegensten Vergangenheit zu verwurzeln suchte. Die Erschaffung einer fiktiven Welt beschränkte sich nicht auf die Gegenwart, sie durchwühlte auch die Vergangenheit, grub die Toten aus und führte ihre Schädel und Skelette auf der Bühne der Wissenschaft vor, um ihnen den Beweis zu entreißen, der den Diskurs beglaubigt, mit dessen Hilfe diese fiktive Welt erzeugt wurde. Das Palimpsest der Vergangenheit wurde, wie in George Orwells 1984, so lange bearbeitet, bis es der totalitären Gegenwart entsprach. Vergangenheit wurde repräsentiert, vergegenwärtigt.

Der Nationalsozialismus bot eine ganze Mythologie. Der Realitätsgehalt seines imaginären Narrativs wurde durch den Staat und seine Institutionen beglaubigt, insbesondere durch akademische und künstlerische Einrichtungen. Die Lüge wurde als Wahrheit präsentiert. Die Entsprechung von Diskurs und Sachverhalt, wie sie die klassische Definition von Wahrheit vorsieht, wurde ersetzt durch die bloß interne und auf sich selbst bezogene, selbtreferentielle Entsprechung von Diskurs und Postulaten des Diskurses.

Der Begriff „Lüge“ mag aufgrund seiner Hannah Arendt wohl nicht fremden moralischen und axiologischen Konnotation den einen oder anderen Leser stören. Was wir als Lüge sehen, wahrnehmen und verurteilen, ist es wohl nicht für alle Handelnden. Man darf manchen Antike-Liebhabern dieser Zeit beflissen-zynischen Opportunismus unterstellen, die Aufrichtigkeit anderer steht außer Frage, etwa die Hitlers, wenn er selbst noch in seinen Tischgesprächen über das Indogermanentum der Römer spricht, oder die eines Fritz Schachermeyr, seines Zeichens Professor für Alte Geschichte in Wien, der noch nach 1945 von der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident in der Antike besessen war. Der Mythos von einem nordischen griechisch-römischen Menschenschlag in Auseinandersetzung mit dem semitischen Feind bekräftigte das ideologische Postulat, er befriedigte einen nach Kohärenz strebenden Geist und beruhte mehr oder weniger auf dem Erbe der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts; all das sind Elemente, die – mit Bourdieu zu sprechen – den Glauben glaubwürdig machen.

Die Frage nach der Verwendung der Bezugnahme auf die Antike war von zentraler Bedeutung für die Konstruktion des nationalsozialistischen Subjekts durch das Regime: Die Neuschreibung der Geschichte der Rasse unter Vereinnahmung von Griechenland und Rom als Bestätigung und Veranschaulichung ihrer hervorragenden Eigenschaften war integraler Bestandteil des Projekts der Schaffung eines neuen Menschen. Wie aber sollte dieser Mensch erneuert werden? Wie ihn vom Kulturbolschewismus befreien und aus ihm einen politischen Soldaten machen, der endlich stolz wäre auf sein Land und seine Rasse, dem Führer ergeben und zum Kampf bereit?

Seine physische Erzeugung war Aufgabe der Eugenik bzw. der staatlichen Zootechnologie, die das neue Regime eingeführt hatte. Dieses beförderte eine neue Ethik und Ästhetik des Körpers, die sich übrigens an das griechische Modell als großen Vorgänger anlehnte. Der Sport, die Freizeitgestaltung der Organisation „Kraft durch Freude“ (Kdf) und die Propagierung eines gesunden Körpers ermöglichten die physische Ausformung des neuen Menschen.

Neben dessen physischer Formung stand seine psychologische Modellierung; sie war Aufgabe der staatlichen Propaganda. Diese war vielgestaltig hinsichtlich ihrer Verfahren und Ziele. Sie bezog vieles ein – die Kunst, Plakate, Radiosendungen, Massenversammlungen, kurze, frappierende und allgegenwärtige Slogans, aber auch die Schule, die Hochschule, die verschiedenen Parteigliederungen und die von diesen angebotenen Lehrgänge. Endziel dieser Propaganda war es, den neuen Menschen mit einer Persönlichkeit, einer neuen Identität auszustatten, mit anderen Worten: die Erzeugung des „Führer, Volk und Reich“ ergebenen nationalsozialistischen Subjekts, wie es dann in den Totenreden für die im Kampf gefallenen Soldaten heißen sollte. Die Frage nach der Identität führte zu der nach dem Ursprung: Wo komme ich her? Aus welcher Rasse bin ich hervorgegangen? Welche Geschichte hat die Gruppe, der ich angehöre, hinter sich? Die Ideologen des Regimes erzählten daher die Geschichte der Rasse, das große Epos vom nordischen Menschen, das den neuen Menschen mit einer neuen Vergangenheit versah. Der Nationalsozialismus setzte somit das große Unterfangen einer Neuschreibung der Geschichte in Gang, ein „rewriting“, das einigen ideologischen Postulaten entsprach, deren Vorrang zuvor festgelegt und auferlegt wurde.

Es ging dabei nicht nur um die Vergangenheit, um den berechtigten Stolz, der sich aus ihr ableiten ließ, sondern auch um die Zukunft. Die so durch den Diskurs über die Antike hergestellte neue Identität sollte zugleich Ursprung und Orientierung sein.

Bei einem seiner öffentlichen Auftritte unternahm es Heinrich Himmler, die drei Zeitformen miteinander zu verbinden: „Ein Volk lebt solange glücklich in Gegenwart und Zukunft, als es sich seiner Vergangenheit und der Größe seiner Ahnen bewusst ist.“11 Die drei Dimensionen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wurden so miteinander zu einer Sentenz verbunden, die man als weniger trivial betrachtet, wenn man weiß, dass sie allen Veröffentlichungen der SS-Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe als Motto vorangestellt wurde. Das war also der Sinn der Betätigung all jener Historiker, Archäologen und Sprachwissenschaftler, die der Schwarze Orden damit beauftragte, die Vergangenheit der Rasse zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren, eine Bestätigung und Veranschaulichung der „Größe der Ahnen“, deren erneute Entfaltung mit Hilfe eines starken Selbstbewusstseins nun angegangen werden konnte.

Der Heldenmythos von der Rasse hatte nicht nur Bedeutung für die Identitätsbildung, sondern auch die Aufgabe zu mobilisieren. Der Rückbezug auf die Vergangenheit ist zugleich verpflichtender Zukunftsbezug, die Herkunft weist in die Zukunft. Ursprung verpflichtet und tröstet in einem. Das Rassenepos macht aus der Zeit ein Kontinuum, der Vektor Zeit existiert in ihm nicht als diskrete, unterteilbare Gegebenheit. In völliger logischer und ontologischer Kontinuität erzeugt die Vergangenheit die Gegenwart, die Gegenwart die Zukunft, entsprechend der zwingend-unverbrüchlichen Notwendigkeit des Rassendeterminismus. Das Blut lügt nicht. Was war, bleibt erhalten, zumindest als Latenz und Potenz. Verbürgte Exzellenz wird wieder Wirklichkeit werden, auch wenn es im Ablauf der Zeit zu Unfällen und Ausfällen der Rasse kommen mag. Die Napoleonischen Kriege, das Ende des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik waren solche Phasen, in denen die Rasse durch die Zeitumstände, durch die Vermischung ihres Bluts und das üble Komplott vorübergehend Schwäche zeigte.

Die Geschichte der Rasse hielt dazu an, nicht zu verzweifeln, sie tröstete und mobilisierte. Die potentielle Exzellenz würde mit ontologischer Notwendigkeit wieder reale Exzellenz werden.

Somit wird die ganze ideologische Bedeutsamkeit einer Neuschreibung der Geschichte des Altertums begreiflicher. Sie wurde ja als die erste große Periode der indogermanisch-nordischen Geschichte dargestellt. So wird auch verständlich, dass diese Neuschreibung sich nicht auf die behagliche Vertraulichkeit einiger gelehrter Werke beschränkte, sondern dass sie mit Hilfe vieler Kanäle weit verbreitet wurde. Die Akte Toraks und Brekers, die Repräsentationsarchitektur der Nationalsozialisten, aber auch Unterrichtswesen und ideologische Schulung, Kino, Presse und verschiedene Massenveranstaltungen des Regimes waren allesamt Medien im Dienst der Verbreitung dieser neuen Auffassung von Geschichte und Rassenvergangenheit und demzufolge auch der Identität. Sie alle wurden zu Transmissionskanälen einer Information, deren Kohärenz und Einklang jene von eindeutigen und einseitigen Zeichen gesättigte Umwelt hervorbringen, die den Raum des Totalitarismus kennzeichnet. Der Diskurs im weiten Wortsinn lässt sich hier nicht trennen von der Praxis. Der Antike-Bezug wird nicht nur in Worte gefasst, sondern von einer Vielzahl weiterer Vermittlungsformen transportiert, von Praktiken, die stimmliche oder räumliche Inszenierungen jenes Bezugs sind, Praktiken, die weder dekorativen noch kosmetischen Charakter haben, sondern hohe Signifikanz aufweisen. Wenn Athena an die Spitze eines Umzugs deutscher Kunst gestellt wurde, wenn man in München dorische Tempel errichtete und in Berlin ein riesiges Pantheon plante, wenn man für Partei und SS römische Standarten entwarf, dann waren das nicht bedeutungsleere Vorgänge, sondern hierin zeigt sich die rassistische Aneignung einer der nordischen Rasse einverleibten griechischen und römischen Identität.

Der Vielzahl von Bezugnahmen auf die Antike kommt Systemcharakter zu. In ihrer Gesamtheit bilden diese ein symbolisches Universum, dessen Bedeutung es herauszuarbeiten gilt. Getreu der hegelianischen Auffassung, die die Geschichte als Folge und Wandlung symbolischer Universen betrachtet, definiert Ernst Cassirer in seinem Versuch über den Menschen den Historiker als Linguisten und die Geschichts-wissenschaft als Lektüre einer ausgestorbenen Sprache, als Wiederherstellung des symbolischen Codes einer Epoche, deren Diskurs man nur mit Hilfe eines Schlüssels verstehen kann. Man kann die seltsamen Ausführungen eines Rosenberg und eines Hitler nur dann entschlüsseln, wenn man sie zusammensieht mit den Arbeiten von Historikern dieser Zeit, mit den Essays der Rassenforscher, den Skulpturen Thoraks und den Projekten Speers. Diese Auffassung liegt jedenfalls dieser Arbeit zugrunde, von ihr leiten sich ihre Zielsetzung und ihre Identität ab. Sie hat sich dabei deutlich von historischen Arbeiten anregen lassen, die ihrerseits auf Wiederaneignung und Wiederherstellung eines geistigen Universums abzielen, wie etwa Lucien Febvres Rabelais, Jean-Pierre Vernants Origines de la pensée grecque oder die Arbeiten des Philosophen und Historikers Lucien Jerphagnon. Sehr viel verdanken wir aber auch Erwin Panofsky, Denis Crouzet, George Mosse und Fritz Stern.

Die Erschaffung dieses symbolischen Universums aus Worten, Akt-Darstellungen, Säulen und Filmen ist wohlgemerkt nicht spontan erfolgt. Sie ist einesteils Erbe des 19. Jahrhunderts, wurde aber auch stark ermutigt durch den Willen der Partei und dann des Staates, einen Geschichtsdiskurs zu erzeugen, mit dem wiederum auf die Wirklichkeit eingewirkt werden sollte.

Um den ganzen Reichtum dieses symbolischen Systems zu erschließen, haben wir uns mit höchst unterschiedlichen Quellen befasst, die den verschiedenen Verbreitungskanälen dieses Diskurses entsprechen, aber auch der Vielfalt der Themen, von denen in dieser Studie die Rede sein wird. Die Frage des Antike-Bezugs betrifft Ideologen, Historiker, Philosophen, Rasse- und Kolonialismus-Theoretiker ebenso wie Filmregisseure, Bildhauer, Architekten, Kunstschreiner, Sportler …

Begonnen haben wir mit Texten, die zum Kanon nationalsozialistischer Ideologie gehören, also zuvörderst mit den Reden, theoretischen Schriften, Tagebüchern, Memoiren und Tischgesprächen Hitlers, Rosenbergs, Goebbels, Görings und Himmlers, die das Dogma darlegen und erläutern.

Auch die Wissenschaft dieser Zeit wurde herangezogen, nämlich in Gestalt einer Vielzahl wissenschaftlicher Artikel unterschiedlicher Provenienz, wie etwa der Rassenlehre, der Anthropologie, der Geschichte, veröffentlicht in Broschüren, Sammelbänden und einer Reihe von Zeitschriften, die wir für die Periode von 1933 bis 1945 systematisch ausgewertet haben. Das reiche ikonographische Korpus entstammt insbesondere der amtlichen Kunstzeitschrift des „Dritten Reichs“ namens Die Kunst im Dritten Reich. Hier findet sich eine Vielzahl von Skulpturen, Denkmälern, Modellen, Einlegearbeiten, Mosaiken, Medaillen, Briefmarken, Festumzugswagen und Plakaten, allesamt Ausdruck der höchst umfänglichen künstlerischen Vermittlungsformen des Bezugs zur Antike.

Die Presse haben wir darüber nicht vergessen. Wir haben im Berliner Filmarchiv die Wochenschauen ausgewertet, die einige Ereignisse in Zusammenhang mit unserem Thema betreffen. Die Printmedien, also der Völkische Beobachter, Das Reich und die SS-Wochenzeitschrift Das Schwarze Korps haben sehr breit über Themen berichtet, die unser Thema angehen, und reichlich auf die Antike Bezug genommen, etwa anlässlich der Olympischen Spiele von Berlin und während des Endkampfes im März/April 1945. Auch das Kino wirkte mit, etwa mit Leni Riefenstahls Olympia; die Operette steuerte mit Reinhold Schünzels Amphitryon ein Historienspektakel bei, während auf dem Gebiet der Oper Richard Wagners Rienzi offenbar den jungen Hitler tief beeindruckte und seine Beziehung zur Geschichte nachhaltig prägte. Auf kunstfernerem Gebiet sind verschiedene Gesetzes- und Verordnungstexte zu nennen, die die Lehrinhalte für Latein, Griechisch und Geschichte bestimmten. Aber auch Texte, in denen die solchen Entscheidungen vorangehenden Debatten festgehalten wurden, haben uns die Verbreitung des Antike-Diskurses verdeutlicht; nicht minder gilt dies für Lehrwerke und Bücher über deutsche Geschichte, für alle Popularisierungen und Schulungstexte, die auf ihnen beruhen.

Die Archive des Reichserziehungsministeriums, des Propagandaministeriums und der Reichskanzlei klärten uns über Einzelaspekte des Antike-Bezugs auf. Es ging dabei 1936 etwa um die Frage, welchen Namen das Olympiastadion erhalten sollte, einen griechischen oder einen deutschen, oder 1941 darum, ob deutsche oder lateinische Schrift für die Dokumente von Partei und Staat zu verwenden sei.

Die Archive in Berlin-Lichterfelde enthalten auch eine beeindruckende Fülle von Schulungsbroschüren für die verschiedenen Parteiorganisationen. Diese Heftchen von SS, SA und Hitlerjugend, die den politischen Soldaten des neuen Deutschlands ihr ideologisches Rüstzeug liefern sollten, räumen einer in durchgesehener und verbesserter Version erzählten Geschichte des Altertums breiten Raum ein.

Wie für jeden Zeitgeschichtler, der schnell in der Breite seines Themas und der Fülle seines Materials unterzugehen droht, stellte sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit einem solchen Reichtum an Quellen. Wir haben schlicht und einfach diese Quellen gelesen, angehört und betrachtet, um allmählich herauszufinden, welche Echo-Effekte, Entsprechungen und Widerspiegelungen sich feststellen ließen, wenn man diese Texte, Mosaiken, Filme und Statuen aufeinander bezog. Welche Begriffe und welche Themen kehrten immer wieder, welche Konstanten und Obsessionen gaben dieser Neuschreibung der Alten Geschichte ihre Struktur? Auf Grundlage dieser Fragestellungen konnte die diskursive Grundstruktur der Bildung eines Geschichtsmythos im Dienst einer Ideologie herausgearbeitet werden.

Dabei sind allerdings chronologische Entwicklungen in der Art der Themenbehandlung zu verzeichnen. Beispielsweise verändert sich das Bild Roms in deutlicher Abhängigkeit von den wechselnden Beziehungen des Reichs zu Italien; so steht einem Artikel von 1935, der das Lateinische geringschätzt, der Sammelband Rom und Karthago von 1942 gegenüber, der die Achse Rom-Berlin stützt, indem er daran erinnert, dass Rom ein indogermanisches Reich war, das im Kampf gegen das phönizisch-semitische Karthago stand, einem Vorschein des zeitgenössischen Englands. Veränderung ist auch im Hitler’schen Diskurs erkennbar. Seine Betrachtung der römischen Geschichte hatte in Mein Kampf noch belehrenden Charakter, während sie in den Tischgesprächen von 1942 als Warnung, Vorhersage und Vorwegnahme des Untergangs fungierte. In Landsberg ließ er sich von Rom zu Aufbauendem inspirieren, während er sich im radikal anderen Kontext von 1942 von Rom den Totalwiderstand gegen den Rassenfeind und 1945 schließlich einen ruhmvollen Tod abschauen wollte.

Dieser Diskurs über das griechisch-römische Altertum weist allerdings eine bemerkenswerte Kohärenz auf. Von den kanonischen Texten der NS-Ideologie, allen voran Mein Kampf, über Schulbücher und Artikel aus der Feder von akademischen Fachleuten bis hin zu den Bauwerken von Nürnberg erstreckt sich ein homogener Antike-Diskurs, der aus dieser Epoche die erste und, mit Ausnahme eines Teils des ottonischen und hanseatischen Mittelalters, die einzige große Periode der nordischindogermanischen Geschichte machte, mit ihren glorreichen Erfolgen und ihrem tiefen Leid, mit ihren Fehlern und schließlich ihrem Tod. Das griechisch-römische Altertum wurde von einer Vielzahl unterschiedlicher Medien neu gelesen und neu geschrieben. Am Ende stand schließlich ein System, das dem Leser, Schüler, Studenten, Zuschauer oder Untertan des neuen Reichs einen klar strukturierten Diskurs über diese Epoche bot.

Diese weitgehend erdichtete Geschichte machte aus der griechisch-römischen Antike eine Projektionsfläche oder einen Transferraum für alle Phantasmen, Obsessionen und Ängste, die dem Nationalsozialismus zu eigen waren. Das homophile Phantasma des perfekten Körpers konnte so in der makellosen Harmonie des ephebenhaften griechischen Körpers seinen Ausdruck finden. Die Phantasien von der totalitären Beherrschung einer Gesellschaft von politischen Soldaten leitete sich vom Mythos Sparta her, der hegemoniale Traum von imperialer Weltherrschaft fand in Rom seinen Archetyp. Die Obsession vom Rassenkampf fand Stütze und Bestätigung in den Punischen und in den Perserkriegen. Die Verschwörungsobsession berief sich auf das Eindringen des orientalisch-semitischen Christentums in Rom. Was die Ängste angeht, so bezog sich ihre erste und wichtigste, die vor der Endlichkeit, auf die zerbrochenen Säulen und die Ruinen griechischer und römischer Tempel, sie verzeichnete mit Bestürzung den Untergang dieser großen Kulturen des Altertums, die für die Ewigkeit erschaffen zu sein schienen und doch so rasch verschwanden.

Unser Anliegen ist es, die Diskursökonomie dieser anderen Geschichte der Antike darzulegen, indem wir die drei Funktionen untersuchen, die sie für eine Partei und dann einen Staat hatte, die beide darauf aus waren, einen neuen Menschen zu schaffen, ein neues Reich zu errichten und eine neue Gesellschaft aufzubauen: eine beflügelnde Funktion, eine Vorbildfunktion und schließlich die Funktion prophetischer Warnung.

Der Nationalsozialismus und die Antike

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