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Die Erfindung eines indogermanischen Erbes

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Die nordische These und der auf ihr gründende Ursprungsdiskurs bedeuteten eine symbolische Einverleibung der Hochkulturen der Antike, die so weit ging, dass die „Geschichte Europas“ im Grunde identisch wurde mit der „Geschichte der nordischen Rasse“88. Diese konnte somit, jedenfalls nach Meinung der NS-Zeitschrift Wille und Macht, die Vaterschaft für alle großen Hervorbringungen geltend machen, die den Kulturen von hohem Rang wie der griechischen und römischen zugeschrieben werden. Ähnlich formulierte die bereits zitierte SS-Broschüre: „Die von den Indogermanen geschaffenen Hochkulturen der Inder, Perser, Griechen und Römer lassen einwandfrei den nordischen Schöpfergeist erkennen. Mit dem Niedergange der nordischen Führerschicht sind auch sie wieder verschwunden. Noch heute fühlen wir die Wesensverwandtheit mit diesen Kulturen, die artgleichen Ursprungs sind.“89

Deutschland konnte so ein reiches eklektisches Erbe für sich beanspruchen, eine Synthese aus allen großen indogermanischen Kulturtraditionen, ein Potpourri aus allem Hervorragenden und Erhabenen, ein großartiges Patchwork aus verstreuten Elementen – zerstreut im Laufe von Jahrhunderten, aber geprägt von tiefer Einheit, die in der homogenen Identität des Bluts gründet, das sie hervorgebracht hat. Ein schönes Beispiel für die Erfindung eines indogermanischen Erbes, dessen synthetischer Eklektizismus sich dessen disjecta membra einverleibt, ist der schmale Band von Walther Wüst et al. aus dem Jahr 1940, der sich mit den Todesvorstellungen in den verschiedenen indogermanischen Weisheitslehren befasst, ein kleines Vademecum – in Gestalt von Consolationes – für den Soldaten auf dem Weg an die Front in der Erwartung, dass dort das höchste Opfer auf ihn warten kann. Es trägt den Titel Tod und Unsterblichkeit: Aus indogermanischem Weistum90. Dieses Büchlein von 80 Seiten versammelt 11 Texte der griechisch-römischen Antike, 11 aus der Edda, 7 aus indischer Tradition und 58 aus deutscher Literatur und Philosophie, von Meister Eckhart bis Alfred Rosenberg. So kommt ein Kompendium der indogermanischen Kultur zustande, in dem, ganz im Geist eines selbstgewissen Synkretismus, Nietzsche, Homer, Empedokles, Tyrteus, Cicero, Marc Aurel, Seneca und die Edda neben heiligen brahmanischen Texten stehen. Die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Rasse verbindet den lakedämonischen Dichter Tyrteus, dessen Gesänge dem Schritt der Spartaner in der Schlacht den Rhythmus vorgaben, mit einem gefallenen jungen deutschen Soldaten, dessen letzter, von Opfergeist und hohem Sinn für Ehre durchdrungener Brief dem dorischen Dichter im Buch gegenübergestellt wird. Gleichwohl liefert die reichhaltige Bibliographie91 zur Frage der Plünderung der europäischen Kunstsammlung durch die Nazis keine Hinweise auf eine systematische Beschlagnahme antiker Kunstwerke. Die hauptsächliche Beute des Kunst- und Kulturraubs der Nazis, die sehr unterschiedlichen Instanzen und Kommando-Einheiten92 übertragen worden war, scheint die Malerei der Zeit vom 16. bis 19. Jahrhundert gewesen zu sein bzw. Fundstücke der vorgeschichtlichen und mittelalterlichen Archäologie, die das Interesse des Ahnenerbes der SS auf sich zogen.

Diese symbolische und kulturelle Einverleibung dient auch der Rechtfertigung handfesterer, nämlich territorialer und militärischer Annexionen einer späteren Zeit, auf die sie bereits verweist. Wenn alle Hochkulturen Äste sind, die vom nordischen Stamm ausgehen, dann ist die indogermanische Rasse überall bei sich zu Hause und überall dazu berechtigt, wieder in Besitz zu nehmen, was sie hervorgebracht hat und was ihr also mit vollem Recht gehört.93

Ein Lehrwerk der Sekundarstufe, das von Johannes Mahnkopf, erschienen 1942, also auf dem Höhepunkt der militärischen Macht und der territorialen Ausdehnung des Nazi-Reichs, trägt den vielsagenden Titel: Von der Urzeit zum Großdeutschen Reich. Geschichtsbuch für Mittelschulen. Das „Dritte Reich“ ist tief verwurzelt in der fernen Vorgeschichte, die Hans Günther mit seinen Karten und Argumenten den Nebeln der Vergangenheit entrissen hat.94

Nicht zuletzt die weite Verbreitung des Hakenkreuzes galt als hinreichender Beweis dafür, dass die Arier überall bei sich zu Hause waren. Die Swastika wurde so vom politischen Symbol zum wissenschaftlichen Beweisstück sowie zum Banner der Wiedereroberung der Gebiete, denen einst die nordische Bevölkerung ihren Stempel aufgedrückt hatte.

Der nordischen Urheimat entstammend, ist das Hakenkreuz, so schreibt Rosenberg, mit den Indogermanen mitgewandert: „Seit weit über 3000 v. Chr. trugen die nordischen Völkerwellen diese Zeichen nachweislich nach Griechenland, Rom, nach Troja, Indien.“95 Das Hakenkreuz wurde nun aber zum Symbol der Wiedergeburt Deutschlands und „die es schauen, denken an Volksehre, an Lebensraum, an nationale Freiheit und soziale Gerechtigkeit, an Rassereinheit und lebenerneuernde Fruchtbarkeit“96. Und es bleibt doch zugleich verbunden mit den „Erinnerungen an jene Zeit, da es als Heilszeichen den nordischen Wanderern und Kriegern voranzog nach Italien, Griechenland“97.

Ein kleines Buch aus dem Jahr 1934 liefert eine monographische Abhandlung zum Thema Hakenkreuz.98 Sein Autor hält zunächst fest: „Das Hakenkreuz ist ein ursprüngliches Eigentum der sich von Nordeuropa ausbreitenden germano-indischen Völkerfamilie. Als Nachfahren der Germanen haben die Deutschen ein unbestrittenes Recht auf das Hakenkreuz.“99 Es folgen lange Ausführungen zum Hakenkreuz in der griechischen Kunst100 und besondere Hinweise auf die große Zahl von Vasen mit Hakenkreuzen, die bei der Ausgrabung der Gräber am Dipylon-Tor101 in Athen gefunden wurden. Dabei bezieht der Autor sich insbesondere auf den großen Kunsthistoriker Alexander Conze102, um dann Schliemann anzuführen, der in Troja und Mykene zahlreiche Hakenkreuze zutage gefördert habe.103 Die ältesten Hakenkreuze wurden freilich, so schreibt der Autor, in Skandinavien entdeckt. Diese chronologische Reihenfolge finde ihre Erklärung in der Tatsache, dass die Völker der Antike aus dem Norden gekommen sind. Die Indien-These sei also scharf zurückzuweisen.104

Ein Propaganda-Faszikel der NSDAP, das einer für politische Offiziere der Wehrmacht (NSFO)105 bestimmten Reihe entstammt, greift Aussagen Rosenbergs und die Schlussfolgerungen des zuletzt angeführten Werks auf. Nach längeren Ausführungen zu Geschichte und Symbolik des Hakenkreuzes in der griechischen Kunst106 liefert das Heft eine Entstehungsgeschichte dieses Symbols:

Die bis jetzt bekannten frühesten Funde aus der Saalegegend beweisen, daß den in Mitteldeutschland wohnenden Indogermanen der Jungsteinzeit das Hakenkreuz […] bereits bekannt war. Von dort aus kam es in den donauländischen Kulturraum und strahlte dann nach allen Richtungen aus. Es wanderte nach Griechenland. Es begleitete den Zug der Arier nach Indien, wo es an den Toren des Landes um 2000 v. Z. zu finden ist“.107

Das Hakenkreuz ist demzufolge das Sonnenzeichen der indogermanischen Eroberung, ein Zeugnis der Zusammengehörigkeit unterworfener Gebiete, und nichts wird sich künftig seinem Einsatz als Banner der Wiedereroberung widersetzen.

Die Nürnberger Gesetze von September 1935 bestimmten das Hakenkreuz auf weißem, rotumrandeten Grund zum neuen Symbol des deutschen Staates. Ein Jahr später zeigten die anlässlich der Olympischen Spiele von Berlin präsentierte Ausstellung Sport der Hellenen108 sowie der sie begleitende Katalog griechische Vasen und Gefäße, auf denen man Athleten sieht, die mit Hilfe von Scheiben mit Hakenkreuzmustern trainieren: Das hellenische Indogermanentum und die tiefe rassische und geistige Zusammengehörigkeit zwischen Griechen und Deutschen wurde, wie man sieht, sehr nachhaltig propagiert.109

Der Nationalsozialismus und die Antike

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