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Vorwort

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Es hätte so sein können … „Im ersten Monat des tausendjährigen Dritten Reiches erhielt Herr Dr. Armin Müller, Oberstudienrat am x-schen Gymnasium in Berlin-Dahlem, vom neuen Kultusministerium den Auftrag, einen ‚Leitfaden der deutschen Geschichte‘ für die höheren Lehranstalten nach den Gesichtspunkten der Rasseforschung und der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verfassen.“

Dieser ‚Leitfaden‘ kam indessen nicht zustande. Dafür sammelte der beflissene Studienrat „Dokumente zur Geschichte seiner Sippe“, die ihn bis zu seinem Urahnen Millesius und in das taciteische Rom zurückführten. Millesius war es, der Tacitus von Leben und Gewohnheiten, Charakter und Eigentümlichkeiten, Sitten und Gebräuchen der Germanen frei fabulierend berichtete und damit den Anstoß zu dessen Germania gab. Der von seinen Eltern nach dem im 19. Jahrhundert zum „Urdeutschen“ stilisierten Arminius genannte Armin Müller berichtete nicht nur ironisch-amüsant über Entstehung und Hintergründe der Germania; er verfolgte vielmehr auch die Nachfahren von Millesius durch die Jahrhunderte bis in seine Gegenwart. Dabei erzählte er bis zum tragischen, die nationalsozialistische Wirklichkeit abbildenden Ende jene deutsche Geschichte, wie sie deutsche Nationalisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts an und mit erhöhten Anstrengungen seit dessen Ende erdacht, konstruiert und propagiert hatten – und wie sie schließlich vom Nationalsozialismus adaptiert wurde.

Walter Mehring, ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus, der in der Nacht des Reichstagsbrandes aus Deutschland ins Exil fliehen musste, firmierte als fiktiver Herausgeber der Müller’schen ‚Dokumente‘. 1935 erschien sein satirischer Roman über deutschen Untertanengeist, Opportunismus und völkische Geschichtsideologie im Wiener Gsur-Verlag unter dem Titel „Müller. Chronik einer deutschen Sippe“. Nur drei Monate nach dem Erscheinen wurde der Roman, wie Mehring ein Vierteljahrhundert später berichtete, auf Betreiben des deutschen Gesandten Franz von Papen konfisziert. Dieser hatte im Namen der deutschen Reichsregierung protestiert, da dieses „Machwerk […] eine vorsätzliche Kränkung des arischen Rasse-Empfindens und eine grobe Entstellung der germanischen Geschichte darstelle.“

Papens erfolgreiche Intervention verweist auf das im Verlauf des 19. Jahrhunderts von gebildeten Laien und mit tatkräftiger Unterstützung von Historikern wort- und bildgewaltig ausformulierte, schnell allgemein anerkannte Geschichtsnarrativ, das die Gleichung „germanisch = deutsch“ aufmachte und die deutsche Geschichte mit den Germanen beginnen ließ. Der bereits im 16. Jahrhundert zu Hermann mutierte Arminius galt danach als der „erste Deutsche“ (Hjalmar Kutzleb) und Tacitus’ Germania als authentisches ethnographisches Zeugnis der vorgeblich autochthonen germanischen Vorfahren – und damit unbeschadet jeglicher Quellenkritik als das „schönste Denkmal […] unsere[r] germanische[n] Frühzeit“ (Theobald Bieder). Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, hochmotivierte Laienforscher und fanatische Ideologen des integralen Nationalismus scheuten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts keine Anstrengungen, diese germanenideologisch grundierte deutschnationale Geschichtsdeutung und -erzählung bis in eine ferne Vergangenheit zu verlängern. Mit Hilfe des Rassenparadigmas und ähnlich wissenschaftlich obskurer, ja abenteuerlicher Theorien und Beweisführungen erhoben sie die Germanen in den Rang globaler Kulturschöpfer und geborener Weltbeherrscher. Sie eigneten sich in eigenwilliger Weise die kaiserliche Kritik an dem missverstandenen Humboldt’schen Bildungsideal an, um fürderhin forciert „nationale junge Deutsche zu erziehen und nicht junge Griechen und Römer“ (Wilhelm II.). Denn mit „derselben uneigennützigen Hingebung, mit der ein Germane sich furchtlos in die Schlachtenreihen stürzte“, stellten diese ideologisch geleiteten, selbsternannten „Gelehrte[n]“ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „die gefährlichsten wissenschaftlichen Untersuchungen“ (Otto Ammon) an und dehnten kurzerhand den „Himmel über den Germanen“ (Otto Sigfrid Reuter) zunächst nach Südeuropa aus und germanisierten – in der Folge nicht nur – die griechischen und römischen Hochkulturen.

Diesem bizarren deutschvölkischen, im Nationalsozialismus übernommenen und dynamisch ausgestalteten Geschichtsnarrativ widmet sich der französische Historiker Johann Chapoutot in seiner umfassenden Studie zu den nationalsozialistischen Antike-Diskursen. Er zeigt die vielfältige Vereinnahmung der griechischen und römischen Antike in nationalsozialistische Weltbilder, Weltdeutungen und weltanschauliche, nicht selten gegenwartsbezogene und tagesaktuelle Argumentationen. Johann Chapoutot belässt es nicht dabei, die Hauptprotagonisten und Sachwalter des nationalsozialistischen Antike-Diskurses von Hans F. K. Günther, Richard Walther Darré, Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler über zahllose Kleinideologen und Multiplikatoren bis hin zu Adolf Hitler zu analysieren, ihre ideologischen Deduktionen nachzuzeichnen sowie ihre divergierenden, auch grundlegend konträren Ansichten von griechischer und römischer Antike in Verbindung mit deren multiplen Funktionen in den verschiedenen Segmenten des polykratischen Herrschaftssystems herauszuarbeiten. Die Studie nimmt zugleich auch den Beitrag von universitären Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen in den Blick. Sie veranschaulicht weiterhin die Indienstnahme der formulierten Antike-Ideologeme im nationalsozialistischen „Jahrzwölft“ (Werner Bergengruen), sei es für die Begründung von Antisemitismus und Rassismus, sei es im Schulunterricht und in der universitären Lehre, im Film, in der NS-Fest- und Feierkultur, bei den Geschlechterstereotypen, beim Autobahnbau, im Weltkrieg und bis hin zu dessen zum manichäischen „Endkampf“ pervertierten Ende.

Johann Chapoutot analysiert erstmals auf einer breiten, vielfältigen Quellengrundlage systematisch und in ihren Verästelungen die in die nationalsozialistische Ideologie, Propaganda und Herrschaftspraxis eingelagerte Anverwandlung der griechischen und römischen Antike. In der Tradition französischer Geschichtsschreibung erzählt er heutigen Leserinnen und Lesern eindrücklich die absurd anmutenden Geschichten der nationalsozialistischen griechisch-römischen Antike und deren Geschichte in den Jahren 1933 bis 1945.

Die vorzügliche Studie ging aus einer an der Sorbonne vorlegten Dissertation hervor und erschien 2008 unter dem Titel Le national-socialisme et l’Antiquité. Schließen wir hier den Kreis zum Anfang und kehren zu Dr. Armin Müllers „Sippen-chronik“ oder vielmehr zu Walter Mehring zurück: Was dieser als „Herausgeber“ am Ende der Vorbemerkungen empfahl, ist auch Johann Chapoutots Studie zu wünschen: Und nun nehme „der Leser […] Einsicht in die Dokumente! Dann möge er sein Urteil fällen!“ Es wird ein gutes sein.

Februar 2014 Uwe Puschner
Der Nationalsozialismus und die Antike

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