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21 Tage davor

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Erschöpft lehnte ich mich gegen die Innenseite der Haustür, als ich mit einem erleichterten Seufzen die Welt hinter der Holzverkleidung meiner Tür zurückließ. Nach dem heutigen Tag sehnte ich mich nach stupider Fernsehunterhaltung und einem schönen Glas Bier. Ich hatte mich dagegen entschieden, dieses Bier mit Bobby zu trinken. Heute war mir nicht nach Unterhaltung zumute. Ich musste erst einmal die Bilder von Merkmanns unrühmlichen Dahinscheiden verarbeiten.

Ich streifte umständlich meine Schuhe ab, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu bücken. Wir wohnten im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses, in einer kleinen, aber teuren Wohnung mit Blick auf den Rhein, der sich jedes Mal auszahlte, wenn ich mich auf dem Balkon weit über die Brüstung nach links lehnte, um mit zusammengekniffenen Augen und ein bisschen Phantasie die dunkle Oberfläche des Wassers zwischen den angrenzten Häusern sanft im Abendrot schimmern zu sehen. Bobby hatte bei seinem letzten Besuch in seiner typisch unverblümten Art vehement die Meinung vertreten, er könne nichts anderes sehen als Taubendreck und Mülltonnen, aber ich ließ mir den Ausblick nicht von ihm vermiesen. Der Blick auf das Wasser war mein Ausgleich für das Leben in der Stadt, das Sandra sich so sehnlich gewünscht hatte.

Da wir keine Kinder hatten, brauchten Sandra und ich nicht viel Platz. Wir hatten es uns in unserem kleinen Liebesnest gemütlich gemacht, als sicherer Hafen gegen die Außenwelt, die wir konsequent aus unserer Wohnung ausschlossen. In den vier Jahren, die wir mittlerweile in dem Gebäudekomplex wohnten, waren mir weder die Namen, noch die Gesichter unserer zahlreichen Nachbarn in Erinnerung geblieben. Sie ließen uns in Ruhe und wir ließen sie in Ruhe, in einer perfekten, friedlichen Koexistenz der Nichtbeachtung.

Sandra saß in unserem kleinen Wohnzimmer in der schmalen Ecke, die wir als unser Büro bezeichneten, und malträtierte die abgenutzte Tastatur ihres alten Notebooks. Sie war freie Journalistin und verdiente sich ihr Zubrot mit Gelegenheitsartikeln, die sie an die zahlreichen Fach- und Sensationsblätter der deutschen Medienlandschaft verkaufte. Manchmal war es sehr schwierig für sie, ihre Artikel überhaupt an die Zeitschriftenverlage bringen zu können. Ohne mein regelmäßiges Beamtengehalt hätten wir wahrscheinlich aus Düsseldorf wegziehen müssen, um die horrende Miete unserer Wohnung gegen eine günstigere Alternative irgendwo im Ruhrpott zu tauschen.

Ich beobachtete sie unauffällig aus dem Türrahmen heraus. Ich liebte sie für ihren unermüdlichen Eifer und ihren unerschütterlichen Glauben, irgendwann eine gefeierte Sensationsjournalistin zu werden. In ihrer eigenen Wahrnehmung war ihr gegenwärtiger, anhaltender Nichterfolg lediglich eine lange Durststrecke auf dem Weg zu Ruhm und Anerkennung.

Das warme Licht der Schreibtischlampe schimmerte golden in ihren braunen Haaren, während sie mit ihrer rechten Hand von Zeit zu Zeit inne hielt, um sich die störrische Locke hinter ihr rechtes Ohr zu klemmen, die sie so furchtbar störte. Ihr Blick schweifte ständig zwischen dem Computerbildschirm und einem dicken Wälzer neben ihr hin und her, während ihr Mund unermüdlich auf einem alten Kugelschreiber kaute, der von der permanenten Überbeanspruchung längst seine Fähigkeit eingebüßt hatte, Tinte aufs Papier zu bringen.

Ich schlich mich langsam näher und streifte mit meiner Hand ihre langen Haare beiseite, um zärtlich ihren Nacken zu küssen. Sie zuckte leicht zusammen und ließ ihren Stift fallen. „Hast du mich erschreckt!“, beschwerte sie sich und versuchte, mit ihren tiefblauen Augen möglichst finster in meine Richtung zu funkeln.

„Was machst du?“, fragte ich unverbindlich und umarmte sie von hinten, damit sie wenigstens für ein paar Minuten von ihrem Computer abließ. Nach dem heutigen Tag hätte ich etwas Nähe gut vertragen können, die nicht von den Grabschhänden unseres Gerichtsmediziners stammte. Ihre Haare verströmten einen sanften Geruch nach Kokosnuss.

Sandra schlängelte sich aus meiner Umarmung und drehte sich mit dem Bürostuhl zu mir um. „Ein neuer Artikel!“, brabbelte sie aufgeregt und setzte ihre Brille ab, die sie aus falsch verstandener Eitelkeit nur vor dem Bildschirm trug. Mir war es egal, in meinen Augen sah sie sowohl mit als auch ohne Brille absolut hinreißend aus. „Ich habe dir doch von dem Informanten erzählt, der sich letzte Woche bei mir gemeldet hat. Du weißt schon, der Mitarbeiter in der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft! Er hat mir heute eine E-Mail geschickt, um ein Treffen vorzuschlagen.“

„Ja und?“, brummelte ich und zog meine Stirn in Falten. Ich hatte die Diskussion mit ihr bereits mehrere tausend Male geführt und es inzwischen aufgegeben, mich weiter mit ihr zu streiten. Ich hatte meinen Standpunkt mehr als einmal deutlich gemacht, dass mir ihre Treffen mit fremden Männern Bauchschmerzen bereiten. Fast regelmäßig traf sie sich mit irgendwelchen dubiosen Gestalten, von denen sie nicht mehr als den Namen kannte, aber weder wusste, ob der Name stimmte, oder ob die Fremden tatsächlich lautere Absichten hegten. Ich hatte sie angefleht, mich zum Schutz mitzunehmen und ihr sogar angeboten, unauffällig im Wagen zurückzubleiben, aber sie war darauf nicht eingegangen. Sie konnte einen unglaublichen Sturkopf besitzen, wenn es um ihre Arbeit ging. Sie bezeichnete die Beziehung eines Journalisten zu seinen Informanten als ‚schmales Band des Vertrauens’, das durch jede unbedachte Geste ‚irreparablen Schaden’ erleiden konnte. Und sie war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen, immerhin war ein zünftiger Sensationsjournalist auf seine Quellen angewiesen. Was wiederum bedeutete, ich musste mit der Angst um sie leben lernen.

„Das ist die Sensation!” Sie lachte aufgeregt und wippte mit dem Bürostuhl vor und zurück. Sie zog das Wort ‚Sensation‘ endlos in die Länge. „Er hat nicht viel verraten, aber einiges angedeutet. Wenn das alles stimmt, dann ist das der Durchbruch für mich.”

Sie hob mit einem träumerischen Blick ihre beiden Hände und zeichnete einen Bogen in die Luft. „Ich sehe die Titelzeile schon vor mir: Korruptionsskandal in der Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Von Sandra Bachmann.” Sie lachte überschwänglich.

„Korruptionsskandal?“, fragte ich müde. Ich hatte inzwischen gelernt, ihre beinahe alltäglichen Ruhmesphantasien nicht allzu Ernst zu nehmen. In ihrer Laufbahn hatte sie schon viele ‚Durchbrüche’ vor ihren Augen vorbeiziehen sehen, aber bisher war ihr der große Wurf noch nicht geglückt. Aber es war absolut bewundernswert, dass sie trotzdem ihren großen Traum nicht aufgab. Jedes Mal, wenn sich ihre neue Coverstory als Ente entpuppte, trauerte sie zwei Tage, stand wieder auf, klopfte den Staub ab und machte sich auf die unermüdliche Suche nach der nächsten Topstory.

„Ja. Der Informant behauptet, er hätte Beweise, die zwei Richter und einen Staatsanwalt der Korruption überführen.“

„Aha“, machte ich. „Was für Beweise sollen das sein?“

„Weiß ich noch nicht“, erwiderte sie patzig. „Das werde ich schon noch sehen.“

Trotzig drehte sie sich von mir weg. „Ich muss vorher noch etwas recherchieren“, grummelte sie.

„Ach, komm schon“, schwenkte ich auf einen Schmusekurs um und zog sanft an ihrem Arm, so dass der Stuhl wieder in meine Richtung pendelte. „Du hast für heute mit Sicherheit genug gearbeitet. Komm mit mir auf die Couch!“

Ich legte meinen Hundeblick auf und schielte in Richtung unseres breiten Ledersofas.

„Ach, ich weiß nicht“, murmelte sie, immer noch ein wenig verstimmt. „Wie spät ist es?“

Seufzend blickte ich auf die Uhr. „Kurz vor Acht!“, stellte ich fest. „Also genau die richtige Zeit für einen gemütlichen Fernsehabend.“

„Was? So spät schon!?” Sandra sprang auf. „Ich muss los! Ich treffe mich in einer halben Stunde mit meinem Informanten.“

„Jetzt noch? Kann das nicht bis Morgen warten?“, warf ich ungnädig ein und hielt ihr demonstrativ meine Uhr vor die Nase. „Außerdem ist es schon fast dunkel draußen.“

„Ja, jetzt noch.” Sie verpasste mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und hetzte eilig zu Garderobe. „Warte nicht auf mich!“, rief sie, während sie sich bereits in ihren Mantel zwängte. „Könnte spät werden.“

Und bevor ich überhaupt zu einer Erwiderung ansetzen konnte, war sie bereits durch die Tür verschwunden. Lediglich der Duft ihres Parfums schwebte noch eine zeitlang im Raum vor mir, bevor auch dieser Geruch langsam verflog.

Seufzend speicherte ich ihr letztes Dokument, ohne es zu lesen, und fuhr ihren Computer herunter. Das Leben mit Sandra war nicht immer einfach. Im Grunde genommen waren wir beide das sprichwörtliche Beispiel für die Gegensätze, die sich anziehen.

Sandra war das Paradebeispiel für einen impulsiven Menschen. Sie reagierte spontan, unüberlegt und ließ sich von ihren Gefühlen leiten, während ich versuchte, unser Leben möglichst sorgsam zu planen und auf einem sicheren Kurs zu halten.

Vielleicht funktionierte unser Zusammenleben deswegen so gut. Während sie die Würze in unser Leben brachte, kümmerte ich mich als ruhiger Pol darum, dass wir ein Dach über dem Kopf und genügend Essen im Kühlschrank hatten und dass unser Schiff der Ehe nicht allzu weit vom Kurs segelte.

Meine Freunde hatten mir von der Heirat abgeraten, aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ich hatte sie durch Zufall kennengelernt, auf der Party eines gemeinsamen Freundes. Sie war mir direkt ins Auge gestochen, mit ihren wilden, ungebändigten Haaren und ihrem Gesichtsausdruck, der mir die pure Lebensfreude versprochen hatte. Ihr Lebensentwurf war das genaue Gegenteil von dem, was ich unter einem behüteten Leben verstand, aber sie hatte mir eine neue Welt außerhalb meiner begrenzten Wahrnehmung gezeigt. Sie hatte mir geholfen, zufrieden mit mir und meinem Leben zu sein.

Ein Blick hatte genügt, und schon war es an jenem Abend um mich geschehen gewesen. Als wären seit diesem Lebensabschnitt nur Minuten und nicht bereits 15 Jahre vergangen, mutierte ich innerhalb von Sekunden zum verliebten Teenager. Nur die Pickel hätten noch gefehlt, und ich wäre das perfekte Abbild meines früheren Selbst gewesen, inklusive Stottern, schweißnassen Händen und dem unwiderstehlichen Drang, mich zum Idioten zu machen, sobald Mädchen in der Nähe waren.

Während ich noch die bestmöglichste Strategie abklopfte, wie ich sie ansprechen sollte, hatte sie bereits die Initiative ergriffen und mich zum Tanz aufgefordert. Es sollte eine lange Nacht werden, an deren Ende wir irgendwann morgens auf feindlichem Territorium aus einer Kneipe in Köln torkelten, über 50 Kilometer von unseren eigenen Wohnungen entfernt.

Als sie zu meinem Heiratsantrag nur wenige Wochen später mit Tränen in den Augen ‚Ja’ sagte, hatte sie mich zum glücklichsten Mann auf Erden gemacht.

Mit einem Ächzen ließ ich mich auf der Couch fallen und flippte durch die Kanäle, ohne hinzuschauen. Für heute war ich wirklich nicht mehr aufnahmebereit.

Als das Telefon klingelte, blickte ich leidend auf den Telefonhörer, der eine gefühlte Weltumrundung von mir entfernt auf dem Esstisch lag. Erst als das penetrante Klingeln nicht von selbst aufhörte, überwand ich meinen inneren Schweinehund und schlurfte zum Tisch.

„Ja?“, brummelte ich ins Telefon.

„Hi, Erik. Hier ist Mike.” Mike war der Barkeeper der kleinen Eckkneipe, in die Bobby und ich uns des Häufigeren verirrten, manchmal sogar innerhalb unserer Dienstzeit.

„Mike!“, erwiderte ich überrascht. „Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Alles in Ordnung?”

„Mit mir schon“, antwortete Mike schwammig. Er zögerte einen Moment, als würde er kurzzeitig abwägen, wieder aufzulegen. „Es geht um Bobby“, platzte es aus ihm heraus. „Ich will nicht die Pferde scheu machen, aber ich glaube, es ist besser, du kommst persönlich vorbei. Je eher, desto besser.“

Schattenseiten

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