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21 Tage davor

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Mit einem sonoren Sirren kämpften die Scheibenwischer gegen den fortdauernden Strom von Regen an. Bereits seit drei Tagen regnete es unablässig wie aus Kübeln, und inzwischen kroch die Feuchtigkeit durch alle Ritzen und Fugen in die Häuser und Herzen der Menschen. An den Straßenrändern strömte das Wasser in reißenden Bächen in die Kanalisation und erweckt unwillkürlich den Eindruck, Düsseldorf wäre nicht auf festem Grund, sondern wie Venedig auf einem ständig schwankenden Untergrund aus Wasser erbaut. Selbst in dem wohlig temperierten Innenraum der Limousine, mit einem stetigen Zustrom warmer Luft im Gesicht, drang die klamme Kälte von draußen bis tief unter meine Haut. Die Scheiben waren beschlagen, so dass außerhalb des Wagens kaum etwas zu erkennen war. Selbst die Klimaanlage kapitulierte vor der Aufgabe, der Luft ihre überschüssige Feuchtigkeit abzutrotzen.

„So ein Scheißwetter!“, fluchte Bobby neben mir und schmierte mit seinem Jackenärmel ein winziges Guckloch in die Windschutzscheibe. „Seit meinem letzten Urlaub am Meer habe ich nicht mehr so viel Wasser auf einmal gesehen!”

Ich kannte Robert Bukowski, Bobby, bereits seit Jahren, seit unserer gemeinsamen Zeit auf der Polizeischule. Er war seit inzwischen beinahe vierzehn Jahren mein Kollege bei der Kriminalpolizei, oder vielmehr noch: Er war mein Freund. Seitdem wir beide zum Kriminaloberkommissar befördert worden waren, war unsere Freundschaft sogar noch enger geworden. Rückblickend betrachtet, schmerzt sein Tod am meisten. Sandra zu verlieren, war eine Tragödie; sie war mein Leben, mein Ein und Alles. Und trotzdem, mit Roberts Tod verlor ich endgültig alles, was mir von meinem alten Leben noch geblieben war. Wäre ich in der Lage, die Zeit zurückzudrehen, würde ich ohne zu zögern zu jenem trüben Novembertag zurückspringen, um die verhängnisvolle Kette an Ereignissen zu unterbrechen und das Leben meiner Frau und meines Freundes retten. Aber leider saß ich ahnungslos im Auto neben Bobby und ahnte nicht im Geringsten, welche Grausamkeiten mein Schicksal für mich bereithalten sollte.

Ich erinnere mich an all die kleinen Details, als wäre es erst gestern passiert. Der Geruch im Wagen; es roch penetrant nach alten Zigaretten, obwohl keiner von uns beiden rauchte. Das beige Sakko, das Bobby bevorzugt trug, war von dem kurzen Weg bis zum Auto durchnässt und schimmerte in einem dunklen Braunton. Im Radio lief irgendein Song, eine Eintagsfliege, deren Urheber längst von einer schnelllebigen Popkultur aus dem selektiven Gedächtnis der Radiosender gestrichen worden war. Seit jenem Tag habe ich das Lied nie wieder bewusst im Radio gehört, doch die nichtssagende Melodie dudelt immer noch in meinem Kopf, wenn ich an diesen Moment zurückdenke.

Bobby starrte mit finsterem Blick mürrisch auf die Straße und versuchte angespannt, unter der Wasserlache vor ihm den Asphalt ausfindig zu machen.

„Wir sollten anfangen, die verdammte Arche Noah zu bauen, um unsere Ärsche in trockene Gefilde zu verfrachten“, fluchte er, die Hände fest um das Lenkrad gekrallt.

Er ignorierte die nächste rote Ampel und schlängelte den BMW an ein paar parkenden Autos vorbei.

Ich lachte. „Im Gegensatz zur Arche Noah hat dieses Fahrzeug aber Bremsen, Bobby!”

Bobby warf mir einen warnenden Blick zu. „Da bin ich mir nicht sicher“, murrte er. „Im Moment schwimmt das Auto eher, als dass es fährt.“

„Dann pass wenigstens auf, dass du uns nicht direkt über den Jordan beförderst. Ich schwitze hier Blut und Wasser neben dir, bei Deiner wilden Fahrweise!“

Bobby grunzte. „ Jordan? Wasser, was? Hast du noch mehr kluge Witze auf Lager? Wenn ja, dann solltest du sie besser loswerden, solange ich vollends damit beschäftigt bin, diesen Kübel auf der Straße zu halten.”

Die nächste Ampel sprang auf rot und fluchend bremste er den Wagen ab. Der Wagen bockte ein bisschen, als das ABS steuernd eingriff, trotzdem ließ sich die schwere Limousine wie gefordert um die Kurve lenken. Das blinkende, mobile Blaulicht auf dem Dach erhellte für einen kurzen Augenblick den erschreckten Gesichtsausdruck einer Passantin.

„Ich hätte noch ein paar davon“, griente ich. „Aber zum Glück weiß ich, was gut für mich ist.“ Ich wechselte das Thema. „Was ist überhaupt mit dir los?“, rätselte ich. „Du bist doch sonst nicht so einfach aus der Ruhe zu bringen. Und jetzt macht dir das bisschen Wasser bereits zu schaffen?“

Bobby nahm nur für einen kurzen Augenblick die Augen von der Straße und warf mir einen nichtssagenden Blick zu. „Ich weiß auch nicht“, murmelte er. „Mir schlägt dieser Fall auf den Magen. Und dann die Sache mit Marie…” Er verstummte, als würde er es nicht wagen, seinen letzten Gedanken weiterzudenken.

Er brauchte nicht mehr zu sagen. Marie hatte ihn vor etwa drei Monaten verlassen, nur wenige Monate vor ihrer Hochzeit. Die ganze Geschichte klang, als wäre sie aus der Feder eines mittelmäßigen Autors von Schundromanen entsprungen, aber in Bobbys Fall war sie leider traurige Realität. Niemand wusste, warum sie nach sieben Jahren aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Sie hatte weder Bobby, noch ihren gemeinsamen Freunden jemals eine Begründung geliefert. Sie war aus unser aller Leben getreten, ohne einen Blick zurückzuwerfen oder sich mit uns aufzuhalten. Keinen von uns hat sie danach wieder kontaktiert.

Bobby war zurückgeblieben, ein Häufchen Elend, nur noch ein Schatten seines früheren Selbst. Seine Seele war gebrochen, auch wenn er äußerlich nach wie vor von beeindruckender Statur war. Bobby war ein Bär von einem Mann, mit breiten, muskulösen Schultern, wildem ungebändigten Haaren und mit einem Gesichtsausdruck, der potenzielle Gewalttäter innerhalb weniger Sekunden zu lammfrommen Christen bekehren konnte.

Als Marie ihre Koffer gepackt und in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Haus gelaufen war, hatte er jedoch irgendwie seinen Halt in der Welt verloren. An jenem Tag, als er mich völlig verzweifelt anrief und nach einem offenen Ohr suchte, habe ich Bobby das erste Mal in meinem Leben weinen gehört.

Morgen war der Tag, an dem sie hatten heiraten wollen.

Ich legte Bobby hilflos meine Hand auf die Schulter und hoffte, dass es irgendwie tröstend wirkte. Wir waren zwar gute Freunde, vielleicht sogar die Besten, hatten es bisher aber immer vermieden, über Gefühle zu sprechen. Ein Klaps auf die Schulter und ein gemeinsames, schweigsames Bier waren selbst in dieser Krise immer das Höchste der Gefühle gewesen. Manchmal wünschte ich, es wäre anders gewesen, aber selbst ich fühlte mich im Angesicht der tiefen Trauer, die Bobby empfand, einfach überrannt und überfordert. Ich hoffte, ihn durch meine Freundschaft wenigstens ein bisschen von seinem Unglück ablenken zu können. „Tut mir leid“, erwiderte ich ungelenk. „Daran hatte ich nicht gedacht.“

„Ach, Pustekuchen!“ Er machte eine Wischbewegung mit der Hand, als wollte er nicht nur die trüben Gedanken, sondern auch gleichzeitig die grauen Regenwolken beiseite wischen. „Das ist Vergangenheit! Und wir haben im Moment andere Probleme.“

Sein Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen. Trotzdem sprang ich auf seinen kläglichen Versuch, das Thema zu wechseln, an.

„Was weißt du bereits?“, fragte ich.

„Nicht viel“, überlegte er. „Steinmann hat über das Telefon nicht allzu viel verlauten lassen, aber offensichtlich handelt es sich bei unserem toten Drogendealer nicht um einen Einzelfall.“

‚Unser toter Drogendealer’, Bruno Bauer, war ein Mordfall, mit dem wir uns bereits seit über zwei Monaten herumschlugen. Der Fall war ein einziges Rätsel. Bis auf die Spuren der Polizisten und Ermittler am Tatort waren keine weiteren Fingerabdrücke oder verwertbare DNA Spuren aufzuspüren gewesen. Der einzige positive Aspekt an dem Fall war, dass er uns über die letzten Monate genügend beschäftigt hatte, um Bobby ein bisschen von Marie abzulenken.

„Wie kommt er darauf?“, fragte ich irritiert. „Wir haben doch keinerlei Hinweise auf den Täter, oder nicht?“

„Das nicht“, bestätigte Bobby ungerührt. „Doch heute haben sie eine weitere Leiche gefunden. Interessant daran: Der Mörder hat die gleiche Visitenkarte hinterlassen.“

„Oh“, entgegnete ich und verstummte. Keiner von uns beiden wollte das Wort ‚Serienmörder’ offen aussprechen, aber wir beide wussten, in welche Richtung dieser Fall zu kippen drohte.

„Wir sind da“, unterbrach Bobby meine Gedanken.

Vor uns lag eine ruhige Seitengasse, in der die eng aneinander stehenden Häuser gespenstisch durch die hektisch blinkenden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Einige Schaulustige hatten sich bereits an der Polizeiabsperrung eingefunden und versuchten ein paar neugierige Blicke auf die vielen Polizisten zu erhaschen. Aber die Kontrollpunkte waren klug gewählt und ließen keinerlei Schlüsse darauf zu, was in diesem ruhigen Stadtteil passiert sein mochte. Steinmann hatte das Gebiet weitläufig absperren und ein enormes Polizeiaufgebot auffahren lassen. Mir wurde etwas flau im Magen. Steinmann war ein sehr besonnener Mann. Er würde niemals mit einer so großen Aktion die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf einen Tatort lenken, es sei denn, er war an einer wirklich großen Sache dran.

Zu diesem Zeitpunkt sollte ich noch nicht wissen, wie Recht ich mit dieser Einschätzung haben sollte. Genauso wenig war mir bewusst, dass dieser Moment der erste Tag vom Ende meines behüteten und glücklichen Lebens sein sollte. Doch ich hatte bereits den ersten Schritt auf einem Weg getan, an dessen Ende meine Frau sterben sollte.

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