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77 Tage davor

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In meinem Leben hatte ich bereits viele Tatorte und damit einhergehend weitaus mehr Leichen gesehen, als einem einzelnen Menschen zugemutet werden sollte. Doch die Jahre im Polizeidienst hatten es mit sich gebracht, dass jede weitere Leiche mich etwas weniger aufwühlte, etwas weniger verfolgte, bis der Tod seinen Schrecken verloren hatte und auf erschreckende Art und Weise Normalität geworden war. Trotzdem wurde mir leicht übel, als ich den verwesenden Körper vor mir auf dem schmutzigen Teppich liegen sah.

Bruno Bauer war selbst zu Lebzeiten kein besonders hübscher Anblick gewesen, aber in seinem jetzigen Zustand trieb mir der strenge Geruch die Tränen in die Augen. Er starrte aus tiefen, eingefallenen Höhlen an die Decke, den Mund leicht geöffnet, als würde er lediglich schlafen. Seine weiße, wachsartige Haut fing bereits an, sich zu zersetzen. Einige Fliegenlarven krochen träge über die hügelige Kraterlandschaft seines verwesenden Körpers, dick gefressen, im fahlen Licht der Fenster fettig glänzend.

Neben ihm kniete bereits ein Mann, eingehüllt in einen der weißen Schutzanzüge, die zu Mord und Verbrechen gehörten wie das dumpfe Gefühl, die Grausamkeiten der Menschen kaum noch ertragen zu können. Ich erkannte die eingehüllte Gestalt erst auf den zweiten Blick: Gregor Großkopf. Er war der leitende Gerichtsmediziner im Gerichtsmedizinischen Institut in Düsseldorf, das in den meisten Mordfällen der vergangenen Jahre durch die Staatsanwaltschaft mit der Ermittlung der Todesart, des Todeszeitpunktes und der Todesursache betraut worden war. Insofern handelte es sich bei Großkopf um einen bekannten, aber nicht unbedingt gerne gesehenen Gast im trüben Grau meiner Alltagsarbeit. In seiner Nähe fühlte ich mich unwohl. Das war zum einen dem Umstand geschuldet, dass er eine merkwürdig unangemessene Unbekümmertheit zur Schau trug, obwohl sein Job der Tod war, zum anderen, weil wir uns bereits bei unserem ersten Kennenlernen auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Die alleinige Schuld an diesem Fehlstart unserer beruflichen Beziehung war Großkopf anzulasten, ohne Zweifel. Ich hatte als noch junger Polizist gewagt, ihn als Pathologen zu bezeichnen, was in seinen Augen einer ungeheuerlichen Beleidigung gleichgekommen war. Pathologen, wie er mir mit spitzer Stimme erklärt hatte, führten Obduktionen bei natürlichen Todesursachen durch, während er sich im offiziellen Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte der Aufklärung von Straftaten widmete.

Diese Lektion hatte ich unter „Aha, wieder etwas gelernt“ verbucht und Großkopf gleichzeitig gedanklich in die Schublade „Idiot“ verschoben. Seitdem fühlte ich mich besser, solange ein paar Meter Luftraum zwischen mir und dem Nicht-Pathologen lagen.

Ich hielt mir ein Taschentuch vor den Mund, um einen kurzen, tiefen Atemzug nehmen zu können, und drehte mich von der Leiche und von Großkopf weg. Ich stand inmitten eines Wohnzimmers, bei dem der Begriff ‚wohnen’ selbst mit viel Großzügigkeit noch übertrieben war. Der ganze Raum wurde unter Bergen von Bierdosen, Bierflaschen und alten Pizzakartons geradezu erstickt. Lediglich auf dem Sofa deutete eine müllfreie Stelle auf den Platz hin, an dem Bruno wahrscheinlich abends vor dem Fernseher seinen täglichen Rausch ausgeschlafen hatte. Zumindest, bis er zum Opfer seines Mörders geworden war.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass Bruno inmitten seines eigenen Mülls umgebracht worden war. Im Grunde war Bruno genau das, was umgangssprachlich als ‚Abschaum der Gesellschaft’ bezeichnet wurde. Seine Strafkartei glich einem Sammelsurium unterschiedlichster Delikte quer durch das Strafgesetzbuch: Hehlerei, Betrug, Körperverletzung, Drogenhandel, um nur ein paar zu nennen.

Erst vor knapp vier Wochen war er wegen Drogenbesitzes und Drogenhandels verhaftet, aber kurz darauf wegen eines Formfehlers und mit Hilfe eines windigen Anwalts wieder auf freien Fuß gesetzt worden, trotz überwältigender Beweislast. Nach wie vor war es mir ein Rätsel, wie ein schmieriger Typ wie Bruno Bauer sich einen derart teuren Anwalt hatte leisten können. Doch wie sich die neue Faktenlage darstellte, hatte auch das ihm nichts genutzt. Offensichtlich hatte er sich nicht lange an seiner neu gewonnenen Freiheit erfreuen können.

„Wie lange liegt er hier schon?“, fragte ich näselnd, das Taschentuch immer noch dicht über meinen Mund gepresst. Großkopf, der immer noch prüfend über dem Leichnam kniete, schaute auf und zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Ein paar Wochen. Genauer eingrenzen kann ich den Todeszeitpunkt erst nach der Obduktion.“

Ich seufzte auf und wendete mich dem jungen Polizisten zu, der mit bleichem Gesicht eng an die Wand gedrückt stand und die Szenerie mit angeekeltem Blick musterte. Ihm war die zweifelhafte Ehre zugefallen, den Toten zu entdecken. Nur ungern zog ich das Taschentuch vom Mund, um mit ihm sprechen zu können. Ich achtete darauf, durch den Mund zu atmen, um möglichst wenig des beißenden Gestanks an meine armen Geruchsrezeptoren zu lassen.

„Wer hat den Toten gemeldet?“, fragte ich, sorgsam darauf bedacht, selbst meine Haltung zu bewahren und dem jungen Mann nicht mein Mittagessen vor die Füße zu spucken. Das hätte mit Sicherheit kein gutes Licht auf meine Führungsqualitäten geworfen.

„Die Nachbarin über dieser Wohnung. Ihr ist der stechende Geruch im Hausflur aufgefallen.“

„Wurde sie bereits befragt?“

„Ja. Sie ist arbeitslos und ist deswegen nach eigenen Angaben die meiste Zeit in ihrer Wohnung. Trotzdem gibt sie an, nichts Verdächtiges gesehen oder gehört zu haben.“

„Nicht überraschend“, murmelte ich, leise genug, damit der junge Polizist meine Bemerkung nicht hören konnte. Diese Aussage verwunderte mich nicht. In einer Wohngegend wie dieser waren Polizisten nicht gerne gesehen. Die Gegend war ein Tummelplatz gescheiterter Existenzen, die zwar regelmäßig ihr Geld vom Staat bezogen, ansonsten aber jegliche Form staatlicher Autorität ablehnten und verachteten. Es war nicht zu erwarten, dass wir auch nur einen brauchbaren Hinweis von den liebreizenden Nachbarn unseres Toten erhalten würden. Und trotzdem würde es mir und den Kollegen nicht erspart bleiben, an jeder Tür persönlich zu klingeln und jeden einzelnen der Anwohner zu befragen. Polizeiarbeit war überwiegend Fleiß- und Beinarbeit, gepaart mit der Hoffnung auf das seltene Glück, den richtigen Hinweis zur richtigen Zeit geliefert zu bekommen.

Eine Hand auf meiner Schulter riss mich aus den Gedanken und ließ mich herumfahren. Großkopf! Etwas pikiert stellte ich fest, dass der Gerichtsmediziner immer noch seine blauen Handschuhe trug, mit denen er den Leichnam begutachtet hatte, und sich erst jetzt mit einer bedächtigen Bewegung des Latex entledigte. Sofort kehrte die Übelkeit zurück. Mein Jackett würde ich auf jeden Fall heute Abend noch in die Reinigung bringen müssen. Verbrennen war wahrscheinlich die bessere Idee. Gedanklich schüttelte ich mich und überlegte bereits, wie ich mich unauffällig meiner Anzugsjacke entledigen konnte, während ich versuchte, mit professioneller Miene den Ausführungen des Nicht-Pathologen zu folgen.

„Das Opfer wurde übel zugerichtet“, stellte er mit unbeteiligter Stimme fest. „Zahlreiche Hämatome am Kopf, am Oberkörper und an den Beinen deuten darauf hin, dass er vor seinem Tod brutal zusammengeschlagen wurde.“

„Vor seinem Tod? Was war die Todesursache?“

„Ohne Obduktion ist das schwer zu sagen. Keine der äußeren Verletzungen scheint mir schwerwiegend genug zu sein, um den Tod herbeizuführen. Allerdings scheint sein Martyrium mehrere Stunden gedauert zu haben. Wen auch immer er verärgert hat, der Täter hat sich viel Zeit genommen, seine Wut an dem Opfer auszulassen.“

Er zupfte mit spitzen Fingern an seiner Brille. Vielleicht hoffte er, durch diese Geste professionell oder intelligent zu wirken, allerdings verlieh sie ihm eher eine unbeholfene Note. Der Gerichtsmediziner war nicht mehr sonderlich jung, doch jeder Altersweisheit zum Trotz passte er durch seine schlaksige Art und durch seinen dürren, ausgemergelten Körper optisch nicht ganz in das stereotype Bild eines gebildeten wie belesenen Mediziners.

„Eine Sache ist mir allerdings noch aufgefallen“, ergänzte er, mit einem kurzen Blick auf die Leiche. „Unter dem Toten habe ich das hier gefunden.“

Er hielt eine Einwegspritze in die Höhe. „Er hat mit Sicherheit nicht regelmäßig Drogen oder andere Substanzen konsumiert. Ich habe nur eine Einstichstelle in seinem linken Arm gefunden, die allerdings von allerhand Hämatomen umgeben ist. Anhand der Verteilung würde ich vermuten, dass jemand Fremdes diese Spritze mit viel Kraft in den Arm gestoßen hat.“

„Also wurde er vergiftet?“

„Das werden die Blutuntersuchungen zeigen, aber ja, ich würde darauf wetten, dass der Tod durch die Spritze herbeigeführt wurde.“

„Interessant“, murmelte ich gedankenverloren, während meine Haut an der Stelle, an der mich der Gerichtsmediziner berührt hatte, anfing zu jucken. Das Jucken steigerte sich mit der Zeit zu einem kaum zu ignorierenden Schmerz. „Was war in der Spritze?“

Großkopf zuckte erneut mit seinen Schultern. „Heroin, würde ich vermuten. Das wird allerdings das Ergebnis der toxikologischen Untersuchungen zeigen.“

„Heroin“, murmelte ich. „Bauer war selbst Dealer, vielleicht ein verärgerter Kunde?“, überlegte ich laut.

„Der Kerl dürfte bei seinem Strafregister eine Feindesliste haben, die länger als das Düsseldorfer Telefonbuch ist“, warf Bobby brummelnd hinter mir ein. „Da kommen viele in Frage.“ Ich drehte mich halb zu ihm um. Er war nach mir am Tatort eingetroffen und hatte bisher noch kein Wort mit mir gewechselt. Er kam gerade aus der kleinen Küche des Apartments gestiefelt und wirkte etwas bleich um die Nase, aber das war bei dem Geruch in der kleinen Wohnung kein Wunder. „Die Küche ist ein einziger Dreckstall. Die Spurensicherung wird eine Heidenarbeit haben, den ganzen Abfall auszuwerten.“

Die Spurensicherung war bereits abgezogen. Besonders glücklich hatten die Kollegen angesichts dieser Herkulesaufgabe nicht ausgesehen.

„Nicht nur die Küche“, antwortete ich, als mich erneut eine Hand an meinem Arm herumfahren ließ. Im letzten Moment sah ich, wie Großkopf seine Hand zurückzog. Entsetzt starrte ich auf den weichen Stoff meines Jacketts.

Was war nur los mit dem Kerl!? Konnte er seine Finger nicht bei sich lassen!?

„Mir ist noch etwa aufgefallen“, bemerkte er mit seiner ruhigen Stimme, ohne auf meinen kaum verhohlenen Ekel zu reagieren. „Es ist mir erst ins Auge gestochen, als ich das Hemd des Toten beiseite geschoben habe. Ich denke, es ist besser, ich zeige es Ihnen persönlich.”

Er kniete sich neben Bruno Bauer, beziehungsweise vor das, was die Insektenmaden von ihm übriggelassen hatten, und zog vorsichtig, mit der Spitze seines Bleistifts im Knopfloch, das Hemd beiseite. Ein Teil einer eingefallenen, haarigen Männerbrust erschien mit einem ekelerregenden Schmatzen unter dem Stoff.

„Was zum Teufel?“, fluchte Bobby hinter mir. „Hält sich der Kerl für Zorro!?”

Er hatte nicht ganz Unrecht. Doch statt eines ‚Z’ als Markenzeichen, wie Zorro es in allen Filmen verwendet hatte, zeigte die freigelegte Brust ein tief eingeritztes ‚R’ aus schwarzem, geronnenem Blut.

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