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19 Tage davor

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Es war inzwischen kurz vor Mitternacht. Den größten Teil der Fahrt verbrachten Bobby und ich schweigend. Obwohl wir noch nicht wussten, was uns am Tatort, außer einer weiteren Leiche, erwarten würde, gab es an der Situation nichts zu deuteln. Wir beide waren uns stillschweigend einig, dass es kein Zufall sein konnte, dass unser potenzieller Zeuge nur einen Tag nach seiner Identifizierung eines unnatürlichen Todes gestorben war. Es widersprach zwar meiner Natur, immer vom Schlimmsten auszugehen, aber mit den uns vorliegenden Tatsachen konnte selbst ich nicht meine Augen vor der Wahrheit verschließen: Irgendwer hatte Informationen nach draußen gegeben. Ob absichtlich oder unabsichtlich, würde sich noch zeigen müssen.

„Es könnte auch Zufall sein“, platzte es plötzlich aus Bobby heraus, ohne dass ich irgendetwas hätte sagen müssen. „Der Kerl hat definitiv nicht das Leben eines Heiligen gelebt. Mit Sicherheit hat er sich auf der Straße genügend Feinde gemacht. Sein Tod muss nicht zwangsläufig mit unserem Fall zu tun haben.“

„Vielleicht nicht“, stimmte ich widerstrebend zu, obwohl alles in mir dieser Theorie widersprach. „Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Becher Opfer eines Mordes wird, kurz nachdem er ins Blickfeld unserer Ermittlungen geraten ist!?” Ich schluckte die bittere Erkenntnis herunter, dass ich es gewesen war, der die Chance leichtfertig vertan hatte, über Bechers Zeugenaussage den Druck auf unseren Serientäter zu erhöhen.

Verdammt! Ich hätte heute Abend an unserer Spur dranbleiben müssen, anstatt unsere kostbare Zeit in der Kneipe zu vertrödeln!

Ich starrte deprimiert aus dem Fenster des BMWs, den Bobby mit mobilem Blaulicht durch die Straßen Düsseldorfs manövrierte. Vor uns machten die zu dieser Stunde nur sporadisch auftretenden Autos hektisch unserem Einsatzfahrzeug Platz. Es war inzwischen stockdunkel. Düsseldorf schlief den Schlaf der Gerechten; mit Einschränkungen jedenfalls. Einer der Einwohner dieser Stadt hatte heute Abend erneut ein Kapitalverbrechen begangen; und er führte uns nach Strich und Faden an der Nase herum. So langsam stellte sich mir die Frage, wer hier wen jagte, und wer dieses Spiel dominierte. Im Moment jedenfalls waren wir es, die nach jedem seiner Züge dazu gezwungen waren, einer schnell kalt werdenden Spur zu folgen. Nicht wir diktierten die Spielregeln, wir versuchten lediglich verzweifelt, dieses mörderische Duell unter unsere Kontrolle zu bringen, ohne auch nur ansatzweise die Regeln zu kennen oder verstanden zu haben.

„Becher hat den Ausstieg versucht. Er lebte nicht mehr auf der Straße“, warf ich ein, nachdem ich einige Zeit geschwiegen hatte. „Ich glaube nicht daran, dass alte Feindschaften ihm ausgerechnet jetzt den Garaus gemacht haben. Das wäre einfach zu viel des Zufalls!“

„Ausschließen können wir es aber nicht!“, entgegnete Bobby trotzig, zuckte jedoch verärgert mit den Schultern, als er meinen zweifelnden Blick sah. „Ach, du hast ja Recht!“, murmelte er verstimmt und warf unter seinen Augenbrauen einen finsteren Blick durch die Windschutzscheibe. „Es widerstrebt mir nur, unsere Kollegen zu verdächtigen.” Völlig überraschend schlug er plötzlich mit der flachen Hand gegen den Lenkradkranz. Ich zuckte alarmiert zusammen. „Mein Gott, Erik, die meisten kennen wir seit Jahren, viele sind sogar unsere Freunde. Und es könnte jeder von denen gewesen sein. Die Jungs im Labor, dann noch dieser Gerichtsmediziner, ach, wie heißt er noch …“, Hilfe suchend starrte Bobby mich an.

„Großkopf“, murmelte ich verstimmt. Ich mochte diesen Kerl mit seinem gesteigerten Bedürfnis nach Körperkontakt zwar nicht; aber das hieß nicht, dass er unsere Ermittlungen sabotierte.

„Richtig. Großkopf. Sogar der Polizeipräsident kommt in Frage. Jeder, der irgendwie von dem Zeugen wusste.” Angespannt rieb er sich mit der linken Hand den Nacken. „Das will ich sehen, wie du dich vor Beckmann hinstellst und ihn der Plauderei bezichtigst!” Bobby lacht kurz spöttisch auf, wurde aber sofort wieder Ernst. Traurig folgten seine Augen der Straße, als er über eine einsame, rote Ampel fuhr. „Vor allem unsere Sonderkommission wäre verdächtig, einschließlich Steinmann und uns beiden.” Er warf einen flehentlichen Blick in meine Richtung. „Willst du sie alle unter Generalverdacht stellen, wenn wir gar nicht wissen, wer tatsächlich für Bechers Tod verantwortlich ist?“

„Ist ja gut!“, seufzte ich verteidigend. „Ich verstehe deinen Standpunkt! Es ist einfach ein sehr beunruhigender Gedanke, mehr will ich damit gar nicht sagen.” Mein Blick erhaschte die Blaulichter vor uns, die flackernd die enge Straße erleuchten. „Glaub mir, ich hoffe inständig, dass ich mich irre.“

Das Gebäude, vor dem sich die Polizeiwagen kreisförmig versammelt hatten, war ein typisches Mehrfamilienhaus aus Nachkriegszeiten. Der Architekt hatte Begriffe wie Ästhetik oder Schönheit sicherlich nicht als Bestandteil seines Repertoires gepflegt. Selbst im Grau der tiefen Nacht war zu sehen, dass die Form des düsteren Betonkastens eindeutig der Funktion folgte und mit allgemeiner Schönheitslehre wenig zu tun hatte.

Steinmann stand bereits neben meiner Beifahrertür, bevor Bobby den Wagen zum Stillstand bringen konnte. Sein Gesicht zeigte eine dunkelrote Einfärbung, als die Innenraumbeleuchtung für einen kurzen Augenblick auf ihn fiel. Ich konnte in seinem Gesichtsausdruck ablesen, wie schwer es ihm fallen musste, mich nicht an meinem Kragen aus dem Wagen zu zerren.

„Wo waren Sie?“, keifte er, während eine dünne Zornesader auf seiner Stirn bedenklich an Umfang zunahm. Er rümpfte die Nase, als ihm der angestaute Biermief aus dem Wageninneren entgegenschlug. „Haben Sie etwa getrunken!?“, stellte er mehr fest, als er fragte. Er hielt mir seinen Zeigefinger drohend vor die Augen. Seine Stimme überschlug sich beinahe. „Ich verspreche Ihnen; sollten die Ermittlungen zeigen, dass dieser Zeuge aufgrund Ihres verantwortungslosen Handels umgekommen ist, werden Sie persönlich die Konsequenzen dafür zu tragen haben! Wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, Ihren Dienst zu beenden!?“

Ich hatte Steinmann schon des Öfteren wütend gesehen, aber in diesem Moment schien er kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Normalerweise war ich mit einer großen Klappe gesegnet – oder verflucht, wie immer man es auch betrachtete – aber in diesem Moment wusste ich nicht, was ich auf Steinmanns Vorwürfe antworten sollte. Das Schlimme war; er hatte mit seiner Schimpftirade Recht. Es war einfach nicht entschuldbar, dass ich der Spur, die ich zu unserem Zeugen Thomas Becher erhalten hatte, nicht unverzüglich nachgegangen war. Sollte der Mörder durch mich tatsächlich die Möglichkeit erhalten haben, seine Mordserie fortzusetzen, so war das alleinig meine Schuld. Und ich war mir nicht sicher, ob ich mit dieser Schuld würde leben können.

„Was ist hier denn überhaupt passiert?“, sprang Bobby plötzlich hinter mir in die Bresche und lenkte Steinmann von seinem auserwählten Sündenbock ab.

„Das sollten Sie sich selbst ansehen. Wir sind auch noch nicht allzu lange hier.” Steinmann fuhr sich fahrig durch die Haare, schien aber zu dem Schluss zu kommen, dass er mich auch zu einem späteren Zeitpunkt zur Sau machen konnte. Er stampfte mit wütenden Schritten in Richtung Hauseingang davon und gab uns mit seiner Hand ein Zeichen, ihm zu folgen.

Bobby klopfte tröstend auf meine Schulter. „Mach dir nichts draus“, flüsterte er mir zu. „Niemand konnte damit rechnen! Das weißt du, das weiß ich und das weiß auch Steinmann. Morgen hat er sich wieder abgeregt.”

Er trottete Steinmann hinterher, ließ sich aber absichtlich viel Zeit. Er liebte es, den alten Haudegen zu reizen.

Ich blieb jedoch für einen kurzen Moment zögernd stehen. In mir wuchs langsam die unheilvolle Vorahnung heran, dass wir erst am Anfang einer schrecklichen Mordserie standen, die uns noch lange in Atem halten sollte, weitaus länger, als irgendjemand von uns ahnte. Doch selbst in dieser Sekunde der plötzlichen Einsicht sollte ich noch nicht einmal einen Bruchteil der Schrecken vorhersehen können, die in den kommenden Wochen noch auf mich warten sollten.

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