Читать книгу Schattenseiten - Kai Kistenbruegger - Страница 7

12 Stunden danach

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Mein Kopf dröhnte, als hätte ich Stunden eines außer Kontrolle geratenen Saufgelages hinter mir, aber das war auch nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt. Ich musste mich stark konzentrieren, um den Ausführungen des jungen Arztes folgen zu können, der vor wenigen Sekunden das Zimmer betreten hatte. Nach einem kurzen Studium meiner Krankenakte, die er seinem Gesichtsausdruck zufolge das erste Mal vor Augen hatte, teilte er mir in gehobenen Medizinerchinesisch mit, ich hätte nicht mit bleibenden Schäden zu rechnen. Zumindest, soweit es meine körperlichen Funktionen betraf. Mit routinierter Stimme und nur marginalem Interesse leierte er meine Wehwehchen herunter, während sein Zeigefinger der Liste auf dem Klemmbrett mit stoischer Ruhe folgte. Ich fragte mich, wozu er sich überhaupt die Mühe machte. Er hätte uns beiden diesen mühevollen Moment ersparen können, indem er mir die verdammte Liste einfach zum Lesen gereicht und sich auf dem Weg zum nächsten Patienten gemacht hätte.

Ich hätte keine schwerwiegende äußere Verletzung, murmelte er leise in endloser Monotonie, sowie keine Organschäden oder Frakturen. In meinem Blut fanden sich allerdings größere Mengen eines verschreibungspflichtigen Hypnotikums, was meine Ohnmacht und meine Schwindelanfälle erklärten.

Das waren allerdings keine Neuigkeiten für mich.

Er nickte mir jovial zu, steckte sich das Klemmbrett unter den Arm und empfahl sich mit einem kurzen Gruß. Als die Tür sich mit einem leisen Klicken schloss, kehrten die Einsamkeit und die Stille ins Zimmer zurück.

Wahrscheinlich hatte er mich bereits mit dem Schließen der Tür aus seinem Kurzzeitgedächtnis gestrichen. Von seinem medizinischen Standpunkt aus gesehen war ich vermutlich keine weitere Minute seiner kostbaren Zeit wert. Ich wies keine Verletzungen auf, die sofortige ärztliche Behandlung erforderten, so dass er sich aus seiner Sicht dringenderen Fällen widmen konnte.

Was er übersah, war, dass es nicht meine körperlichen Beschwerden waren, die in unerträglicher Qual meine Brust zu zerreißen drohten. Es mag der Stress des Krankenhausalltags gewesen sein, zwischen Patienten, Operationen, Spritzen und Krankenakten, aber seine Gleichgültigkeit brannte wie Zunder in dem Feuer meiner Seelenqual. Er ließ mich alleine im Krankenzimmer zurück, dazu verdammt, einen einsamen, vergeblichen Kampf gegen die Dämonen der Erinnerung auszufechten.

Ich versuchte es mit Verleugnung, versuchte mir einzureden, dass nichts von dem passiert war, an das ich mich erinnerte, dass Sandra lediglich zum Einkaufen gefahren war, spazieren, oder in ihrem Yoga-Kurs. Aber es gelang mir nicht. Mein Realitätssinn stellte sich jeglichen Bemühungen entgegen, die grausame Wahrheit zum Wohle meines Seelenheils ignorieren oder verdrängen zu können. So sehr ich auch versuchte, mir vorzustellen, Sandra jede Minute im Türrahmen stehen zu sehen; mein Verstand beharrte unnachgiebig darauf, dass sie tot war und nie wieder zu mir zurückkehren würde.

Ich würde sie nie wiedersehen. Niemals. Nichts würde meine Fehler und mein Versagen ungeschehen machen. So sehr ich es mir auch wünschte, sie würde nicht plötzlich in der Tür zu meinem Krankenzimmer auftauchen. Nicht so wie vor fünf Jahren, als ich von einem flüchtigen Verdächtigen angeschossen worden war. Sie hatte für einen Moment zögernd in der Tür gestanden, mit einem schiefen Lächeln auf ihren weichen Zügen, das gleichzeitig Sorge wie Vorwurf ausgedrückt hatte. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich von Ärger fernhalten!“, hatte sie tadelnd gesagt, doch eine kleine Träne im Auge hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Sorge ihren Ärger überwogen hatte. Aber diesmal würde es nicht so ablaufen. Es war alles anders, denn diesmal war sie es, der etwas passiert war. Sie würde nicht kommen. Nie mehr.

Mein Leben war schlagartig zu einer unerträglichen Seelenpein verkommen, als hätte jemand in meinen Brustkorb gegriffen und brutal Teile meines Gefühlslebens herausgerissen. Es gab kein Zurück mehr; in meinen Ohren konnte ich immer noch Sandras letzten Schrei widerhallen hören; ein Schrei, den ich für den Rest meines Lebens zu hören verdammt war und der mir jede Illusion nahm, sie irgendwann wieder in den Armen halten zu können. Ich fing an zu weinen, hilflos, ein wehrloses Opfer meiner persönlichen Hölle.

Ich hörte erst auf, als mich ein verlegendes Hüsteln aufschreckte. Steinmann und Bobby standen in der Tür und musterten mich mit versteinerter Miene.

„Tut mir leid, Mann“, murmelte Bobby, als er sich vorsichtig ans Ende meines Bettes setzte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Er verstummte schlagartig und fuhr sich fahrig durch die Haare, wie immer, wenn er nervös war.

„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich Steinmann mit einer merkwürdig flachen Stimme, die ihre Kraft wahrscheinlich irgendwo in meinem Wohnzimmer verloren hatte.

„Keine schwerwiegenden Verletzungen“, antwortete ich. Ich vermied Worte wie ‚Gut’, oder ‚Den Umständen entsprechend’. Sie wären alle gelogen gewesen und hätte nicht annäherungsweise das ausgedrückt, was ich empfand.

Steinmann räusperte sich. „Es tut mir leid.” Er bedachte mit diesen Worten nicht nur meinen Verlust, sondern entschuldigte sich gleichzeitig für das, was jetzt unweigerlich folgen musste. Ich wusste, wie es ablief. Ich war selbst zu lange Polizist, um so ein Gespräch nicht bereits mehrere tausend Male geführt zu haben. Zuerst wurde der Zeuge nach seinem Befinden gefragt, verständnisvoll genickt und das persönliche Beileid ausgesprochen. Schema F, direkt aus dem Polizeihandbuch. Anschließend musste lediglich eine geschickte Überleitung gewählt werden, die nachsichtig aber mit Nachdruck die Wichtigkeit der Informationen betonte, die der Zeuge tief unter seinem Trauma verbarg. Sie würden so etwas sagen wie „So schwer es Ihnen fällt, bitte versuchen Sie sich an die letzte Nacht zu erinnern. Jedes Detail könnte von Bedeutung sein“ und ich würde traurig nicken und ihrem Wunsch nachkommen.

Ich ersparte ihnen die Pein, dieses Drama mit ihrem Kollegen und Freund durchspielen zu müssen.

„Ich kann mich kaum an etwas erinnern“, kam ich ihnen zuvor. „Nur ihr Schrei ist mir in Erinnerung geblieben…“, mir brach die Stimme weg, bevor ich fortfahren konnte.

„Weißt du, ob er es war?“, fragte Bobby. Mir entgingen nicht die leisen Zweifel, die in seiner Stimme mitschwangen.

Ich schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich weiß gar nichts! Es könnte genauso gut einer von euch gewesen sein, ohne dass ich mich daran erinnern könnte…“ Ich atmete tief ein. „Es hat an der Tür geklingelt“, fuhr ich mit mühsam kontrollierter Stimme fort. „Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Die Tür wurde unerwartet heftig aufgestoßen und ich ging zu Boden. Bevor ich reagieren konnte, beugte sich ein Mann über mich, spritzte mir etwas in den Arm…” Ich rieb gedankenverloren meine Armbeuge. „Er trug eine Skimaske, oder eine ähnliche Kopfbedeckung. Und dann hörte ich nur noch Sandras Schreie. Ich wollte ihr helfen, aber ich konnte mich kaum bewegen.“ Ich verstummte. „Ich habe es versucht, aber es ging nicht“, ergänzte ich leise. Meine eigene Stimme klang fremd.

„Ketamin“, sagte Steinmann. „Er hat Ihnen Ketamin gespritzt. Ein Narkosemittel, das auch als Partydroge verwendet wird und dementsprechend auf dem Markt leicht zu besorgen sein dürfte. Er hat ihnen genug verabreicht, um Sie auszuschalten, aber zu wenig, um Sie sofort das Bewusstsein verlieren zu lassen.“

„Ach, was!“, giftete ich. Auf die gut gemeinten Erklärungen des alten Haudegens konnte ich verzichten. Seine sachlichen Worte hörten sich in meiner gereizten Gemütslage wie der reinste Hohn an. Ich konnte es nicht verhindern, dass die Tränen zurückkehrten.

„Mein Gott. Ich habe zuhören müssen, wir Sandra starb! Dieser Mistkerl hat meine Frau vor meinen eigenen Augen umgebracht!“

Ich schluckte meine Wut und Tränen herunter. „Moment!“, murmelte ich und starrte Bobby an. Verlegen wich er meinem Blick aus. „Wieso kommt ihr auf die Idee, dass ‚Er’ es war? Hat er, ich meine, er hat doch nicht?“, stotterte ich und ließ das Ende unausgesprochen.

„Doch“, bestätigte Steinmann und nickte. Er sah in diesem Moment zu Tode betrübt aus. „Ein ‚R’, wie bei den anderen Opfern.“

„Ich weiß nicht“, brauste Bobby unerwartet auf. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Die anderen Opfer waren alle Kriminelle! Sandra passt überhaupt nicht in das Opferschema!“

„Vielleicht sind wir ihm zu dicht auf den Fersen“, mutmaßte Steinmann. „Vielleicht will er uns eine Warnung zukommen lassen.” Er trat näher ans Bett und ergriff meine Hand. „Was immer seine Gründe auch sind, ich verspreche Ihnen, Erik, hoch und heilig; wir werden diesen Bastard zur Strecke bringen!“

Schattenseiten

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