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20 Tage davor

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Steinmann hatte eines unserer leer stehenden Büros im Revier zu unserer Einsatzzentrale umfunktioniert. In der Regel kümmerte sich unser Kommissariat, das KK11, um alle Todesfälle, bei denen die Gerichtsmediziner nicht eindeutig einen natürlichen Tod bescheinigen konnten. Im letzten Jahr waren das über 1.000 Fälle gewesen, die uns sieben Tage die Woche auf Trab gehalten hatten. Eine eigene Mordkommission, wie das Fernsehen den Zuschauern vorgaukelte, gab es eigentlich nicht. Lediglich bei Fällen, in denen eine schwierige Faktenlage eine besondere Aufmerksamkeit rechtfertigte, wurden Sonderkommissionen gegründet, um sich ausschließlich um die Klärung dieser Mordfälle zu kümmern. Nachdem sich unser Mörder als potenzieller Serientäter entpuppt hatte, war genau das geschehen.

Intern in unserer Abteilung lief der Fall unter der Bezeichnung ‚Der Rächer’. Der Vorschlag war hauptsächlich Bobby geschuldet, der nicht nur als erster den Vergleich mit Zorro in den Raum geworfen, sondern dem ‚R’ des Mörders auch noch die Bedeutung ‚Rache’ angedichtet hatte.

Allerdings tappten wir weiterhin im Dunkeln, welche Motive der Mörder tatsächlich hegte. Wir konnten es immer noch mit mehreren Mördern zu tun haben; die Spurenlage war zu dünn, um die Taten auf einen Einzeltäter eingrenzen zu können. Letztendlich lief alles auf eine Fragen hinaus: Wem waren die beiden Opfer so auf den Schlips getreten, dass sie auf diese brutale Weise mit ihrem Leben dafür hatten büßen müssen?

Nichtsdestotrotz hielt ich es auch nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf immer noch für eine gute Idee, Bobbys – im wahrsten Sinne des Wortes - Schnapsidee einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Ich verschwieg natürlich, in welchem Zustand Bobby auf diesen genialen Einfall gekommen war. Die Tatsache, dass beide Opfer vor Gericht gestanden hatten, aber nicht verurteilt worden waren, war, zumindest aus meiner Sicht, die derzeit einzige, überzeugende Verbindung zwischen beiden Mordopfern.

Unser Einsatzteam bestand aus einer zu diesem Zeitpunkt noch wachsenden Anzahl von Polizisten. Steinmann, Bobby, ich selbst, sowie drei bis vier weitere Kollegen, die unserer Sonderkommission als Spezialisten zugeteilt worden waren. Ich erinnere mich noch nicht mal mehr an ihre Namen oder an ihre Gesichter; sie waren für den späteren Verlauf der Geschichte nicht von Belang, sondern spielten lediglich bedeutungslose Komparsen in der Tragödie meines Lebens.

An diesem Morgen saß ich mit Bobby allein im Raum. Bobby war verständlicherweise nicht sonderlich gesprächig. Kreidebleich saß er zusammengesunken auf seinem Stuhl. Jedes kleine Geräusch ließ ihn zusammenzucken, als wäre er soeben aus dem Tiefschlaf aufgewacht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit litt er an einem unerbittlichen Kater, der sich in seinem Suffkopf häuslich eingerichtet hatte und rein aus Vergnügen von Zeit zu Zeit seine Krallen ausfuhr.

Auf der linken Seite des Raumes hatten wir eine riesige Pinnwand aufgestellt, auf der wir unsere Ermittlungsergebnisse sammelten. Zugegebenerweise war noch nicht sonderlich viel zusammen gekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir die Fotos unser beiden Opfer aufgehängt, mit Großaufnahmen der Verletzungen, die in ihrer Form dem Buchstaben ‚R’ entsprachen. Nach wie vor mussten wir der strikten Anweisung folgen, dieses Detail geheim zu halten.

Ansonsten fehlte es uns an allen Enden an weiteren Ideen, die uns auf die Spur des Mörders bringen würden. Wir hatten weder Zeugen, noch verwertbare Spuren, selbst nach Tagen und Wochen intensiver Befragungen im näheren Wohnumfeld der Opfer. Zwei unserer Kollegen wälzten seit diesem Morgen die Straf- und Prozessakten von Bruno Bauer und von Walter Merkmann. Es kam einer Lotterie gleich, oder zumindest einer gehörigen Portion Fleißarbeit, aber mit etwas Glück stießen die beiden Kollegen auf Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen – jeden der damaligen Prozessbeteiligten, ob Opfer oder Täter, mussten wir unter die Lupe nehmen. Sollte Bobby Recht behalten und das ‚R’ stand tatsächlich als Synonym für Rache, dann war der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Opfern der beiden Straftäter zu suchen. Vielleicht blieb am Ende eine Person übrig, die Opfer beider Männer geworden war.

Ich seufzte und nippte an meinem kalten Automatenkaffee. Er war kaum genießbar, aber versorgte mich mit der dringend benötigten Dosis Koffein. Allem Augenschein nach erwarteten uns Wochen, vielleicht sogar Monate, mit wenig Schlaf und noch weniger Freizeit. Sollten die Taten tatsächlich die Handschrift eines Serientäters tragen, würde eine Aufklärung schwierig werden.

Die meisten Morde werden aus Leidenschaft oder im Affekt begangen. Das bedeutet, in der Regel suchen wir den Täter im näheren Umfeld des Opfers. Täter, die ihren Mord aufgrund starker Emotionen oder aufgrund einer Kurzschlusshandlung begangen haben, sind leicht zu überführen. Sie verfügen weder über die Kaltblütigkeit, noch über die Erfahrung, ihre Spuren ausreichend zu verwischen. Wenn sie sich versehentlich nicht selbst verraten, ist häufig das eigene Schuldgefühl so groß, dass sie im Falle einer Verhaftung ein umfassendes Geständnis ablegen, in der schwachen Hoffnung, sich die quälende Schuld von der Seele reden zu können.

Anders verhält es sich bei Serientätern. Serientäter beziehen eine Art Stimulanz durch ihre Taten, in den meisten Fällen sexueller Natur. Sie sind ausgesprochen gefährlich. Sie sind Gewohnheitstäter, routiniert, und morden aus der Lust heraus, meistens ohne erkennbares Muster bei der Opferwahl. Für die Ermittler beginnt mit dem ersten Mord ein tödliches Wettrennen. Mit jedem Tag, den der Täter in Freiheit verbringt, wächst die Gefahr, dass er erneut zuschlägt. Erschwerend kommt hinzu, dass mit jedem weiteren Mord eine Art Gewohnheitseffekt eintritt, der dazu führt, dass die Abstände zwischen den Taten immer geringer werden, aus dem einfachen Grund, dass der Stimulus irgendwann nicht mehr ausreicht, um ihre sexuell motivierte Mordgier zu befriedigen.

Als ob dieser Druck auf uns nicht groß genug wäre, lässt sich eine Serie von Morden nur schwer aus der Öffentlichkeit fernhalten. Sobald die ersten Medien Lunte gerochen haben, ist alles möglich: Von der Massenpanik, bis zu öffentlichen Anklagen und Lynchmobs. Alles schon da gewesen, zumindest in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist also verständlich, dass jeder von uns den Druck spürte, der auf uns lastete, und eigene Mittel und Wege suchte, mit diesem Druck umzugehen. Ich will nicht behaupten, dass diese Mittel gut waren, wie zum Beispiel bei Bobby mit seinen Kneipenbesuchen, allerdings würde ich keinen Kollegen einen Strick daraus drehen.

Steinmann riss mich aus meinen Gedanken, als er ins Büro stürmte. Seine Krawatte hing lose gebunden um seinen Hals, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten. Er sah aus, als hätte er um die Akte kämpfen müssen, die er wie eine Trophäe vor sich her trug. „Ich habe Merkmanns Obduktionsbericht, sowie die Ergebnisse der Spurensicherung“, verkündete er mit aufgesetzt wirkender, professioneller Miene, obwohl es ihm deutlich anzumerken war, wie angespannt er sich fühlen musste.

Er schob mir die Akte hin. Er hatte mich zum leitenden Ermittler der Kommission ernannt, obwohl im Grunde auch Bobby dafür in Betracht gekommen wäre. Allerdings war es eine kluge personelle Entscheidung, Bobby in seiner derzeitigen emotionalen Verfassung nicht mit einem Fall dieser Größenordnung zu betrauen. Bei uns in der Abteilung standen wir füreinander ein. Wenn es einem von uns schlecht ging, hielten die anderen ihm den Rücken frei. Jeder von uns hatte zugesehen, Bobby zu entlasten, seitdem ihm die Sache mit Marie passiert war.

„Dann zeigen Sie mal her“, sagte ich wenig enthusiastisch und nahm die schwere Mappe in die Hand. Sollten die Ergebnisse nur ansatzweise wie im Fall Bruno Bauer ausfallen, dann waren wieder einmal viele Bäume umsonst gestorben.

Die ersten Seiten waren erwartungsgemäß wenig spektakulär. Sie listeten die Daten des Opfers auf, die wir inzwischen bereits kannten. Mit dem Finger folgte ich den Untersuchungsergebnissen, die sich mit den Spuren in der Wohnung beschäftigten, bis ich mit der Fingerkuppe auf den von mir gesuchten Eintrag stieß. „Aha!“, sagte ich triumphierend und tippte demonstrativ mit meinem Zeigefinger auf die winzige Schrift. „Der Urin konnte tatsächlich einer Person aus unserer Datenbank zugeordnet werden. Endlich!“

„Wer?“, fragte Bobby und richtete sich neugierig auf. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. „Soll das heißen, wir haben endlich einen Zeugen?“

„Genauso sieht es aus! Thomas Becher. Ein alter Bekannter!“

„Kenne ich nicht“, brummte Bobby. „Wer ist das?“

„Ein Junkie.” Ich blätterte ein paar Seiten weiter, bis ich auf seine Akte stieß. „Ich hatte mit ihm zu tun, als ich noch im Streifendienst tätig war. Er war einer von den obdachlosen Teenagern, die häufig am Hauptbahnhof herumlungerten. Wir hatten ihn wegen vielerlei Delikten am Schlafittchen: Diebstahl, Betrug, Körperverletzung, Hehlerei, Einbruch. Er hat sich an allem versucht, das ihm seine Sucht finanzieren konnte.“

Ich kratzte gedankenverloren an meinem Kopf, als ich versuchte, mich an mein letztes Zusammentreffen mit Becher zu erinnern. „Eigentlich hatten wir ihn von der Straße geholt. Richterlich angeordnet ist er vor ein paar Jahren in eine Einrichtung für betreutes Wohnen eingeliefert worden, da er zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war.“ Ich überflog seine Strafakte bis zum Ende. „Seitdem ist er nicht mehr straffällig geworden. Keine Ahnung, warum er sich ausgerechnet in Merkmanns Wohnung aufgehalten hat.“

Ich legte die Akte ab. „Soweit ich weiß, hat er es in dieser Einrichtung nur zwei Wochen ausgehalten und ist danach wieder untergetaucht.“ Ich überlegte kurz. „Ich frage mich, was aus ihm geworden ist. Ich kenne ein paar der Obdachlosen, mit denen er früher herumgehangen hat. Dort kann ich nachhaken, ob sie mehr wissen. Das dürfte schneller gehen, als über das Sozialamt, falls die überhaupt irgendetwas wissen.“

„Gut. Tun Sie das“, nickte Steinmann, „das spart vielleicht etwas Zeit. Ich werde parallel dazu beim Sozialamt nachfragen, ob mittlerweile ein fester Wohnsitz bekannt ist.“

„Sonst noch was?“, warf Bobby ein. „Irgendetwas von der Spurensicherung? Ich will mich ja nicht beschweren, aber ich würde auch gerne in irgendeiner Form zum Fahndungserfolg beigetragen.“ Er sprach den nächsten Nebensatz nicht aus, obwohl wir beide wussten, dass er ihn dachte: „…bevor ich wieder in der Kneipe versacke.“

„Mal sehen“, murmelte ich und nahm mir meine dicke Lektüre wieder vor. „Es gibt mehr als genügend Fingerabdrücke, die in den meisten Fällen Merkmann zugeordnet werden konnten.“ Ich nickte zufrieden. „Das passt. An der Tür fanden sich ebenfalls Abdrücke von Thomas Becher.“ Ich stutzte. „Das hier interessant“, sagte ich, und tippte mit dem Zeigefinger auf die passende Stelle. „An der Tür fanden sich Spuren eines Einbruchs, sehr professionell ausgeführt. Der Schließzylinder war nicht beschädigt.“

„Der Mörder?“, fragte Bobby.

„Unwahrscheinlich“, überlegte ich. „Warum sollte er sich die Mühe machen, auf diese Art und Weise an Merkmann heranzukommen? Es dürfte leichtere Wege geben, jemanden umzubringen. Nein, der Mörder hat entweder geklingelt, oder hat die Wohnung zusammen mit Merkmann betreten, darauf würde ich wetten.“

Ich nahm einen Schluck von meinem kalten Kaffee. „Ich würde auf Becher tippen. Er wäre ein Kandidat für den Einbruch, zumindest ist er mehrmals deswegen auffällig geworden. Ich vermute, er ist in die Wohnung eingedrungen, bevor der Mörder und Merkmann aufgetaucht sind. Wahrscheinlich wurde er überrascht und musste sich deswegen im Wandschrank verstecken.“

„Mist“, grummelte Bobby. „Wenn der Kerl selbst Dreck am Stecken hat, wird er kaum sonderlich motiviert sein, uns weiterzuhelfen.“

„Ja“, bestätigte ich gedankenverloren. Meine Aufmerksamkeit wurde gerade von einem Abschnitt im Bericht gefesselt, der sich mit der Tatwaffe beschäftigte. „Das hier ist wirklich interessant“, platzte es aus mir heraus. „An der Tatwaffe wurde nicht nur das Blut Merkmanns gefunden, sondern ebenfalls das Blut einer weiteren Person.“

Bobby rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl nach vorne. „Irgendwelche Treffer?“

„Nein, nichts in unserer Datenbank. Aber es wird noch besser: Das Blut stammt von einer Frau.“

Steinmann atmete scharf ein. „Der Täter ist eine Frau? Das wäre in der Tat ungewöhnlich.” Er ließ sich auf den Stuhl direkt gegenüber fallen und starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Außergewöhnlich“, murmelte er.

Es mag dem männlichen Geschlecht nicht sonderlich gefallen, aber in der Geschichte der Kriminalistik sind hauptsächlich Männer für Serienmorde verantwortlich. Nur in einem Bruchteil der Fälle konnten Frauen als Täter überführt werden.

„Wir sollten nicht vergessen, dass das Blut ebenso von einem früheren Opfer stammen könnte“, warf ich ein. „Ehrlich gesagt, halte ich das sogar für wahrscheinlicher, da die Spuren auf der Klinge und nicht auf dem Griff gefunden wurden.“

„Ja, mag sein“, grübelte Steinmann. „Wir sollten trotzdem keine Möglichkeit außer Acht lassen.“

„Es ist schon auffällig, dass er die Waffe überhaupt am Tatort gelassen hat“, warf ich ein. „Vielleicht will der Täter uns damit einen Hinweis geben; vielleicht mit vergangenen Taten prahlen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Serientäter auf diese Weise seine Überlegenheit demonstrieren will.“

„Oder er will uns verwirren“, überlegte Bobby. „Von wegen, Änderung der Vorgehensweise und so.“

Steinmann drehte sich zu Bobby um. Der Drehstuhl quietschte kläglich bei der Bewegung. „Das werden wir erst erfahren, wenn wir die DNA-Spuren einer Person zuordnen können. Sie werden sich durch die Vermisstenanzeigen der letzten Wochen wühlen. Finden Sie heraus, ob irgendwo eine Frau als vermisst gemeldet wurde.“

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Bobbys Lippen. Er war sichtlich froh, endlich etwas zu tun zu bekommen.

„Und überprüfen Sie ebenfalls die Gerichtsakten der letzten zwei Jahre. Wenn es einen ähnlich gelagerten Fall wie bei Bauer oder Merkmann gegeben hat, bei dem eine Frau vom Gericht freigesprochen wurde, will ich das wissen.“ Er starrte uns erwartungsvoll an. „Worauf warten Sie noch? Ich erwarte bis heute Abend Ergebnisse!“

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