Читать книгу Schattenseiten - Kai Kistenbruegger - Страница 17

19 Tage davor

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Der neue Tag begann, wie der vergangene aufgehört hatte. Ich hatte schlechte Laune. Wie zu erwarten gewesen war, hatte die Umfeldsuche rund um Bechers Wohnung keine verwertbaren Resultate ergeben. Wir konnten mangels Zeugen noch nicht einmal definitiv festhalten, ob der Mörder mit Auto, Straßenbahn oder zu Fuß geflohen war, geschweige denn, welchen Weg er auf seiner Flucht eingeschlagen hatte. Düsseldorf war einfach zu groß. In den unzähligen Straßen, Gassen und Trampelfaden die kalte Spur eines flüchtigen Täters finden zu wollen, grenzte beinahe an Wahnwitz.

Auch wenn es die Jungs von der Stadtreinigung wahrscheinlich gefreut hätte, fühlte sich verständlicherweise keiner von uns berufen, unter dem Unrat und Müll des vergangenen Tages nach Spuren zu suchen, die ein Täter unter Umständen, vielleicht und auch nur eventuell auf der Straße hinterlassen haben könnte. Diese Aktion hatte das Potenzial, sowohl die Spurensicherung über Jahre zu beschäftigen, als auch den öffentlichen Haushalt für die nächste Wahlperiode hoffnungslos zu überziehen, und kam damit von vornherein nicht in Frage. Zusammenfassend ließ sich nur festhalten, dass wir, trotz eines Zeugens, keinen Schritt weitergekommen waren, und, wie am Tag zuvor, hoffnungslos im Dunkeln tappten wie Blinde mit einer Augenbinde.

Als würde das nicht ausreichen, um meine Stimmung auf ein Tagestief zu drücken, hinterließen die letzten Stunden in mir zusätzlich das bohrende Gefühl, dass es alleinig meine Schuld war, dass wir keine Gelegenheit dazu erhalten hatten, Thomas Becher zum Tathergang zu vernehmen. Steinmann hatte mich zum Abschied nochmals in die Zange genommen und mir eine Verwarnung ausgesprochen, die ich zwar pauschal erst einmal seiner schlechten Laune zuschrieb, die mich aber trotzdem tief traf.

Vielleicht vermittelte ich nicht tagtäglich diesen Eindruck, aber ich war gerne Polizist, mit Leib und Seele. Ich sah es, trotz aller negativen Erfahrungen, immer noch als meine Berufung an, Verbrechen zu vereiteln und die bösen Jungs hinter Gitter zu bringen. Meine Sicht auf die Welt ähnelte mit dieser Einstellung vielleicht immer noch frappierend dem Grundtenor der Supermann-Comics, die ich als aufwachsender Dreikäsehoch geradezu verschlungen hatte, aber auch in der Realität ließ sich vieles auf die Frage von Gut und Böse reduzieren. Auf der einen Seite gab es diejenigen, die etwas Unrechtes getan hatten, auf der anderen Seite gab es uns, die Polizei, die dafür sorgte, dass die Übeltäter für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden konnten; auch wenn wir diese Aufgabe im Gegensatz zu meinen Comics ohne Superkräfte und nur selten mit der Anerkennung, die wir verdienten, erfüllen mussten.

Das Gefühl, bei dieser Aufgabe versagt zu haben, verklumpte sich in meiner Brust zu einer unerträglich schweren Last, die meine Laune auf den absoluten Nullpunkt absinken ließ. Die einzige Person, die mein Leiden hätte lindern können, war Sandra. Doch als ich todmüde um fünf Uhr nachts nach Hause torkelte, fand ich unser gemeinsames Bett leer vor. Sandra war wieder einmal ausgeflogen, um ihrer Korruptionsgeschichte nachzugehen, wie ein eilends und lieblos hingekritzelter Zettel auf dem Küchentisch verriet. Auch wenn es mir unverständlich blieb, wo auch immer sie mitten in der Nacht Informationen auftreiben wollte, hatte ich keine andere Wahl, als es zu akzeptieren und ihr zu vertrauen. Sobald Sandra eine neue Titelstory gewittert hatte, kannte sie weder Tag noch Nacht, keine normalen Uhrzeiten und in manchen dringenden Fällen noch nicht einmal mehr ihren Ehemann.

Ich schlief ein, sobald mein schwerer Kopf das Kissen berührte, und noch bevor ich überhaupt einen weiteren Gedanken fassen konnte.

Als ich zu wenige Stunden später völlig übermüdet aufwachte, stellte ich mit Erleichterung fest, dass Sandra doch noch irgendwann den Weg zu mir ins Bett gefunden hatte. Ich küsste sanft ihre Stirn, aber sie drehte sich mit einem unverständlichen Grummeln weg, ohne aufzuwachen. Für mich hingegen war die Nacht zu Ende. Steinmann hatte bereits für den frühen Vormittag zu einer Krisensitzung mit dem Rest des Teams geladen. Ich war bereits spät dran, weswegen ich Frühstück oder gar einen Kaffee notgedrungen von meinem Wunschzettel strich.

Niemand, den ich auf den lang gezogenen Linoleumfluren des Polizeireviers traf, war an diesem Morgen zu Scherzen aufgelegt. Allen voran Steinmann legte ein Gesicht an den Tag, das gleichzeitig beängstigend wie bemitleidenswert aussah. Seine Stirn hatte sich in tiefer Sorge und aus brennender Wut in Falten geworfen, und unter seinen Augen blühten graue Augenringe, die ihm die Grazie und Schönheit eines Zombies verliehen. Die letzte Nacht hatte bei Steinmann deutlich ihre Spuren hinterlassen, wie übrigens bei allen anderen im Raum auch.

Die meisten von uns hingen in ihren Stühlen wie ein Schluck Wasser in der Kurve und konnten sich nur mit Hilfe des kontinuierlichen Nachschubs an Automatenkaffee über den Vormittag retten, ohne in Trance zu verfallen. Steinmann hatte vor unserer Pinnwand Stellung bezogen, an die ein Foto von Thomas Becher seinen Weg gefunden hatte. Er tippte mit einer alten Antenne auf das Bild. „Das ist das Opfer von gestern“, kommentierte er unnötigerweise und bohrte die Spitze der Antenne unabsichtlich in dieselbe Stelle, an der auf dem Foto der Schaft des Messers zu sehen war.

„Das Labor hat Nachtschichten geschoben, aber wir haben keinerlei Anhaltspunkte auf den Täter vorliegen. Keine unbekannten Fingerabdrücke, keine Haare, einfach nichts, zumindest am Opfer, an der Tür oder am Messer. Die zahlreichen Fingerabdrücke in der Wohnung werden derzeit noch untersucht.” Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken und schloss gequält die Augen. „Laut Zeugenaussage Deckers hat sich der Täter nicht lange in der Wohnung aufgehalten, deswegen erwarte ich auch hierbei keine besseren Nachrichten. Entweder ist der Kerl furchtbar gerissen, oder er hat einfach unglaubliches Glück.“

Eine Hand schoss in die Höhe. Sie gehörte einem jungen Ermittler, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnern kann. Seine Augen sind mir jedoch im Gedächtnis geblieben. Er blickte trotz der kurzen Nacht wach und lebenslustig in die Welt; ein Blick, der noch ungefärbt von all den schrecklichen Dingen war, die Bobby und ich in unserer Polizeilaufbahn bereits gesehen hatten. Es ist nicht nur mein schlechtes Namensgedächtnis, das meine Erinnerungen an dieser Stelle trübt; der junge Kollege hatte nur ein kurzes Gastspiel bei uns im Team. Sein Bild verblasst langsam vor meinem inneren Auge, weil ich nie die Gelegenheit bekam, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Er war sicherlich ein feiner Kerl; aber direkt nach all den schrecklichen Ereignissen hat er um seine Versetzung gebeten. Ich vermute, die Einblicke in die Verdorbenheit der menschlichen Seele haben ihm zu sehr zu schaffen gemacht, um weiterhin in dieser Abteilung zu arbeiten.

„Gibt es denn Hinweise darauf, dass es sich um denselben Täter handelt, wie bei den anderen Morden?“, fragte er und musterte Steinmann mit der Unschuld eines Neulings, der immer noch an die Lüge glaubte, die in den zahlreichen Krimiserien im Fernsehen über die Polizeiarbeit verbreitet wurden: Die Lüge, die Wahrheit würde immer den Weg an die Oberfläche finden.

Steinmann ließ seine Antenne sinken und seufzte. „Nein“, gab er unumwunden zu. „Es gibt keine Parallelen zu den anderen beiden Morden. Kein eingeritztes ‚R’, und auch der Tatverlauf deutet nicht auf unseren Täter hin.” Er nahm das Foto von Thomas Becher und pinnte es ein bisschen abseits von den anderen Opfern auf die Pinnwand.

„Es ist durchaus möglich, dass es sich um verschiedene Täter handelt. Allerdings dürften wir eine Verbindung zwischen den Fällen nicht völlig ausschließen.”

Er zog ein weiteres Foto aus einem Aktenordner, der auf dem Konferenztisch lag, und hängte es neben Bechers Foto. Es zeigte die Kette, die wir in Thomas Bechers Wohnung sichergestellt hatten.

„Dieses Schmuckstück kann mit einem Einbruch von vor zwei Wochen in Verbindung gebracht werden“, erklärte Steinmann. „Dieser Zusammenhang war nicht schwer herzustellen; bei der Kette handelt es sich um ein Unikat. Das Opfer war eine ältere Dame, die sich zur Tatzeit nicht in ihrer Wohnung aufgehalten hat. An der Haustür waren augenscheinlich keine Einbruchsspuren zu erkennen gewesen, bei genauerer Untersuchung ließen sich allerdings im Schließzylinder Werkzeugspuren nachweisen. Rückblickend konnte die alte Dame sich an einen jungen Mann erinnern, der auf dem Weg nach Hause eine Zeitlang hinter ihr hergelaufen war, sich ansonsten aber unauffällig verhalten hatte. Ihre Beschreibung passt auffallend zum Erscheinungsbild von Thomas Becher. Das Tatvorgehen ähnelt einer Reihe weiterer Einbrüche, immer ältere Leute, alleinstehend.“

„Er hat seine potenziellen Opfer ausspioniert“, stellte Bobby fest und lachte grimmig. „So viel zum Thema Rehabilitation!”

„Das würde auch erklären, warum er sich zum Mordzeitpunkt in Merkmanns Wohnung aufgehalten hat. Merkmann passt ins Profil, alleinstehend, Rentner.“, überlegte ich laut und blätterte durch die Akte von Merkmanns Mord. „Das Türschloss zu Merkmanns Wohnung weist ebenfalls oberflächlich keine Beschädigungen auf, zeigt aber im Schließzylinder vergleichbare Spuren von Einbruchswerkzeug.” Ich blicke in die Runde. „Bechers Anwesenheit in der Wohnung war vielleicht nichts anderes als ein unglücklicher Zufall. Er konnte schließlich nicht damit rechnen, dass er bei seinem Einbruchsversuch gestört und Zeuge eines Mordes werden sollte.“

„Der arme Kerl!“, entfuhr es dem jungen Polizisten. „Er muss Stunden in dem Schrank ausgeharrt haben, bis der Mörder von Merkmann abgelassen hat.”

„Ja“, murmelte ich. Ich musste an den Urinfleck denken, den die Spurensicherung im Einbauschrank entdeckt hatte. Ich wage mir nicht vorzustellen, welche Ängste Becher durchlitten haben musste, während er hilflos mit anhören musste, wie Merkmann zu Tode gequält wurde, wohlwissend, dass jede eigene, falsche Bewegung seine letzte hätte sein können. Und trotzdem, obwohl er unentdeckt im Schrank ausgeharrt hatte, hatte der Tod ihn letztendlich nicht verschont.

Steinmann nickte. „Das ist der Grund, warum ich eine Verbindung zu unserem Fall nicht ausschließen möchte. Thomas Becher war der einzige Mensch auf Erden, der unseren Täter hätte identifizieren können. Ein paar Tage später ist er tot. Das ist kein Zufall.“

„Vorausgesetzt, es handelt sich bei dem Täter um unseren Mörder“, warf ich ein, „dann hat er sein Schema gewechselt. Er hat sich weder die Zeit genommen, Thomas Becher zu quälen, noch hat er sich bei der Wahl seiner Todesart von Bechers Straftaten leiten lassen, wie bei den anderen beiden Opfern.”

Als mich die anderen mit großen Augen anstarrten, ergänzte ich erklärend: „Na ja, der Drogendealer wurde mit einer Überdosis ermordet, der mutmaßliche Kinderschänder durch Kastration. Wir wissen zwar noch nicht, nach welchen Kriterien er seine Opfer aussucht, aber offensichtlich scheint sich unser Täter darüber Gedanken zu machen, welche Strafe für seine Opfer und ihre Straftaten angemessen ist. Nur Thomas Becher passt nicht ins Bild.“

„Du hast auffallend Recht!“, bemerkte Bobby erstaunt. „So habe ich die ganze Sache noch gar nicht betrachtet!” Er patschte mit seiner Pranke laut auf die Tischplatte. Er sprang auf und eilte zu einem kleinen Beistelltisch, auf dem er einen Haufen Akten in zwei unordentlichen, unsortierten Stapeln abgelegt hatte. Mit hektischen Bewegungen blätterte er durch die obersten beiden Mappen. „Als ich das erste Mal durch die Akten gegangen bin, habe ich der Tatsache nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber wenn die Art des Mordes tatsächlich mit dem Grund ihrer Anklage zusammenhängt, erscheint doch alles in einem anderen Licht“, stammelte er atemlos. „Aha!“, machte er und bohrte seinen Finger in das Papier vor seinen Augen. „Tatsächlich. In beiden Fällen, sowohl bei Bauer, als auch bei Merkmann, wurden die Anklagen vor Gericht von dem gleichen Staatsanwalt vertreten. Heinz Bohrmann.” Er lächelte triumphierend.

Steinmann schob seine Antenne zusammen und trat hinter Bobby, um einen Blick auf die Akte werfen zu können. „Ein Staatsanwalt, der eine sicher geglaubte Verurteilung verliert“, überlegte er murmelnd. „Ich weiß nicht, klingt in meinen Ohren ein bisschen zu sehr an den Haaren herbeigezogen.” Er seufzte laut auf. „Aber diese Verbindung ist alles, was wir haben.” Er nickte gedehnt. „Okay, fühlen Sie dem Anwalt auf den Zahn“, sagte er und warf Bobby und mir einen warnenden Blick zu. „Aber beweisen Sie Taktgefühl. Ich habe keine Lust, mich wegen Amtsanmaßung selbst auf dem Anklagestuhl wieder zu finden. Ganz davon abgesehen, dass die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft auch in unserer Ermittlung die Leitung innehat. Wir müssen vorsichtig sein, bevor wir jemand der Befangenheit bezichtigen.”

„Geht klar, Chef“, bestätigte ich mit der befreienden Erleichterung, endlich die Gelegenheit zu erhalten, meinen Fauxpas von gestern auszubügeln. Ich war mit Bobby im Schlepptau aus der Tür, bevor Steinmann es sich anders überlegen konnte.

Schattenseiten

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