Читать книгу Schattenseiten - Kai Kistenbruegger - Страница 9

21 Tage davor

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Obwohl die Spurensicherung den Tatort bereits freigegeben hatte, blieb ich für einen kurzen Moment zögernd auf der Türschwelle stehen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was mich erwartete. Ich verspürte keinen Drang, auch noch das Bild Merkmanns zu meiner Bildersammlung menschlicher Grausamkeiten hinzuzufügen. Bereits jetzt hatte ich Probleme damit, die Schrecken des Tages ausblenden zu können, in der Dunkelheit der Nacht gefangen in einem sich ewig drehendem Gedankenkarussell der Schreckensbilder. Bilder, die endgültig waren, Bilder, die sich nicht mehr ändern ließen.

Allein beim Gedanken an Merkmanns unnatürlichen Tod verspürte ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Leistengegend. Doch es gehörte zu meinem Job, mich mit den Abgründen der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Mir waren schon viele Straftäter begegnet, die offenkundig in einem perfekten Lebensidyll lebten, während unter der bürgerlichen Fassade bereits der Wahnsinn gewütet hatte. Der menschliche Verstand ist nichts anderes als ein schmaler Grat in dem Kampf zwischen Gut und Böse; viele kommen vom rechten Pfad ab, getrieben durch alles verändernde Tragödien in ihrem Leben: Sei es der betrogene Ehemann, der gekündigte Arbeitnehmer, oder der unerwartete Verlust von geliebten Menschen. Niemand ist davor gefeit, urplötzlich vor dem Abgrund seiner Existenz zu stehen und sich zu Entscheidungen gezwungen zu fühlen, die man vorher niemals in Betracht gezogen hätte. Oftmals fand ich Trost in dem Gedanken, dass wir als Polizei Wächter vor dem weit offen stehenden Tor zur Anarchie waren, sozusagen die letzte Bastion der Vernunft. Die Ritter in der grünen Rüstung. Haha. Doch es sollte sich noch zeigen, dass auch Bobby und ich emotional ebenso instabil waren wie der Rest der Menschheit. Wie gesagt, es kann jeden treffen, das ist die bittere Lektion aus dieser Geschichte.

„Was ist los mit dir? Traust du dich nicht?“, fragte Bobby frotzelnd hinter mir. „Keine Eier in der Hose?“ Er lachte schräg über seinen eigenen Witz und klopfte mir von hinten auf die Schulter.

„Bitte!“, flehte ich und versuchte das zunehmend flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dir diese Art von Witzen verkneifen könntest.“

Bobby legte eine betroffene Miene auf. „Tut mir leid!“, versicherte er wenig glaubhaft. „Mir war nicht bewusst, dass du so hart an dieser Nuss zu knacken hast.” Er lachte erneut und drängte sich an mir vorbei in die Wohnung.

„Ich meine das ernst!“, beschwerte ich mich. „Sagt dir das Wort ‚Pietät’ etwas? Respekt vor den Toten?“

Schlagartig hörte Bobby auf zu lachen und drehte sich mit finsterer Miene zu mir um. „Respekt? Vor Merkmann?“, fragte er ungläubig. „Beim besten Willen kann ich kein Mitleid für dieses Monster aufbringen!“ Mit einem abfälligen Schnauben wandte er sich ab. „Dieser Kerl war ein Kinderschänder! Abschaum! Ich würde seinem Mörder einen Orden verleihen, wenn ich könnte.“

Ich war ehrlich überrascht über seinen Stimmungswandel. Normalerweise brachte ihn nichts so schnell aus der Ruhe. Aber was war schon normal, seit Marie ihn verlassen hatte?

„So war es auch nicht gemeint“, verteidigte ich mich halbherzig. „Es geht hier ums Prinzip! Ich würde es meinem ärgsten Feind nicht wünschen, die Eier abgeschnitten zu bekommen.“

„Ich weiß, dass du es nicht so meinst“, winkte Bobby ab. „Meine Nerven liegen im Moment ein bisschen blank. Sorry.“ Er sah aus wie ein begossener Pudel, als er so verloren in dem Flur zu Merkmanns Wohnzimmer stand.

„Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend mal wieder ein Bier zusammen gönnen?“, schlug ich zur Versöhnung vor und boxte ihm spielerisch in den Arm. „Ein guter, zünftiger Männerabend! Etwas Ablenkung könnte dir bestimmt nicht schaden!“

„Ja, wäre cool“, murmelte Bobby. „Und du zahlst!“

Er erwiderte meinen Knuff mit einem kräftigen Schlag auf meinen Bizeps. Ich verkniff mir nur mühsam einen schmerzerfüllten Aufschrei und biss die Zähne zusammen.

„Und jetzt zu den unangenehmen Dingen!“, proklamierte er und folgte dem Flur ins große Wohnzimmer. Ich trottete leise fluchend hinterher und rieb meinen schmerzenden Oberarm.

Die Wohnung war nicht sehr groß und nur spärlich ausgestattet. Eine dreckige Küche, ein kleines Schlafzimmer und ein rustikales Wohnzimmer waren alles, was Merkmann dieser Welt hinterlassen hatte.

Die Spurensicherung war gerade dabei, ihre Ausrüstung zusammenzupacken.

Der Gerichtsmediziner, der sich mit prüfendem Blick über den Leichnam beugte, war derselbe, der mich schon bei Bruno Bauer ständig betatscht hatte. Großkopf. Schlagartig vergaß ich meinen schmerzenden Arm. Ich suchte hinter Bobbys schrankwandähnlichem Rücken Deckung vor den Händen des Mediziners und sondierte aus dieser relativen Sicherheit heraus den Tatort.

Merkmann hatte seit dem Kinderschänderskandal allzu offensichtlich an finanziellem Status eingebüßt. Seine Villa, die er damals bewohnt hatte, hatte über Wochen auf den Titelseiten der Zeitungen geprangt. Es war ein herrliches, herrschaftliches Haus aus der Jahrhundertwende gewesen, das mit Sicherheit auf dem Markt einige Milliönchen eingebracht hätte; zumindest, bevor bekannt wurde, dass der Vorbesitzer verdächtigt wurde, ein widerlicher Kinderschänder zu sein.

Dieses Drecksloch war der absolute Gegenentwurf zu dem Prunkbau, den Merkmann vorher bewohnt hatte. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, die Luft roch muffig nach den Ausdünstungen von Generationen von Vormietern, und der Teppich war eine Komposition unterschiedlichster Grau- und Schwarztöne. Das wäre an sich nicht so schlimm gewesen, hätte ich nicht den starken Verdacht gehegt, der Teppich wäre irgendwann vor Jahrzehnten einmal weiß gewesen.

„Was wissen wir bereits?“, fragte ich, ohne mich hinter Bobby hervorzutrauen. Ich hatte es bisher vermieden, einen Blick auf das Opfer zu werfen, aber ich konnte es leider nicht vermeiden, dass meine Augen den riesigen Blutfleck auf dem Boden streiften, der in seiner Form verdächtig einem Rorschachtest ähnelte. Mir wurde leicht übel. Meine Verdauung setzte für einen kurzen Moment aus und überlegte angestrengt, welche Richtung mein Mittagessen einschlagen sollte. Zum Glück entschied sich mein Körper, es nicht wieder die Speiseröhre zurückzuschicken, sondern alles seinen natürlichen Weg gehen zu lassen.

Großkopf blickte träge auf und zeigte Merkmann demonstrativ zwischen die nackten Beine.

„Zwei glatte Schnitte“, stellte er emotionslos fest und deutete mit seinem Finger auf zwei große, verkrustete Wunden unterhalb von Merkmanns Geschlecht. Sein Gesicht war der Inbegriff der Professionalität. Offensichtlich war ich der einzige, der bei diesem Anblick unter Phantomschmerzen zu leiden hatte.

Merkmann lag mit ausgestreckten Armen und Beinen inmitten des Wohnzimmers. Hanfseile fixierten seine Extremitäten an der Couch und an ein paar Sesseln, die aussahen, als hätte Merkmann sie vom Verwertungshof seines Vertrauens bezogen. In seinem aufgequollenen Mund steckte ein Knäuel Socken, sorgsam mit doppelseitigem Klebeband fixiert. In dieser Position sah Merkmann aus wie der ‚Vitruvianische Mensch’ von Leonardo da Vinci, davon abgesehen, dass ihm zwei kleine Details im Vergleich zu der Anatomiestudie des großen Meisters fehlten.

„Die Tatwaffe wurde bereits von der Spurensicherung sichergestellt. Ein zweischneidiges Jagdmesser, mit langer Klinge. Es lag neben dem Opfer.“

Er musterte Merkmann unberührt. „Soweit ich es sagen kann, wurde das Opfer mehrere Stunden misshandelt.“ Er zeigte mit seinen mit Latexhandschuhen bewehrten Händen auf ein paar dunkle Flecken, die sich entlang der gesamten Leiche auf der bleichen Haut abzeichneten. „Diese Verletzungen sprechen eine klare Sprache.“

Er blickte zu uns auf und musterte uns durch seine dicken Gläser schief. „Um Ihre nächste Frage vorweg zu nehmen“, sagte er, „der Tod ist vor etwa 24 Stunden eingetreten. Es dürfte in etwa eine halbe bis eine Stunde gedauert haben, bis der Blutverlust zum Tode geführt hat. Allerdings vermute ich, dass er nicht die ganze Zeit bei Bewusstsein war. Die Schmerzen müssen atemberaubend gewesen sein.“

Mit einem Ächzen richtete sich Großkopf auf und stolzierte bedächtig zum Tisch, auf dem er seine Tasche abgestellt hatte. „Steinmann hat mir bereits zu verstehen gegeben, dass der Fall oberste Priorität hat“, verkündete er mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Ich denke, ich werde Morgen Abend die Ergebnisse der Obduktion liefern können. Aber ich bezweifle, dass wir auf irgendwelche Überraschungen stoßen werden.“

Er hüstelte demonstrativ und raffte seine Sachen zusammen.

„Wenn die Herren mich jetzt entschuldigen würden, meine Frau wartet mit dem Abendessen auf mich.“

Im Türrahmen verharrte er für eine Sekunde. „Ich denke, Omelette wäre heute genau das Richtige.“ Er lachte kurz auf und verabschiedete sich mit einem überfreundlichen „Guten Abend, meine Herren!“

Bestürzt starrte ich ihm hinterher. Sollte das gerade ein Witz gewesen sein? „Der Kerl hat Humor“, bestätigte Bobby lachend meine Befürchtung.

Ich schüttelte entsetzt den Kopf. „Ich weiß nicht“, kommentierte ich pikiert. „Das war absolut nicht witzig! Es sollte Gerichtsmedizinern von Amtswegen verboten werden, Witze zu reißen. Das passt nicht zusammen, so wie…“, ich zögerte einen Moment auf der verzweifelten Suche nach einem passenden Vergleich, „…, Köln und Düsseldorf.“

Bobby grummelte etwas Unverständliches, etwas in Richtung „So viel Humor wie ein Stück trocken Brot“ und folgte dem Gerichtsmediziner in den Flur. „Ich schaue mich mal ein bisschen um“, verkündete er lautstark, als er das Zimmer bereits verlassen hatte, immer noch leise über den Witz des Nicht-Pathologen lachend.

Ich blieb unschlüssig im Wohnzimmer stehen und versuchte, mir den Leichnam nicht allzu genau bildlich einzuprägen. Für heute hatte ich genug Blut gesehen. So oder so, der Fall versprach, eine harte Nuss zu werden. Es gab im Haus keine Zeugen, die irgendetwas gesehen oder gehört haben wollten, das wussten wir bereits nach ersten Befragungen. Und das, obwohl einem Mann bei lebendigem Leib seine Kronjuwelen abgeschnitten worden waren. Ich bezweifelte, dass das lautlos vonstatten gegangen war, selbst bei dem überdimensionierten Knebel im Mund des Opfers.

Ich seufzte leise. Der Druck auf uns war bereits jetzt hoch; mit einem zusätzlichen Toten dürfte sich die Lage nicht vereinfachen. Doch leider konnte niemand von uns hexen und aus unserem Hut einfach ein paar auskunftswillige Zeugen oder Beweise zaubern. Es blieb uns in dieser Situation nichts anderes übrig, als die Ergebnisse der Spurensicherung abzuwarten. Auch unser Mörder würde irgendwann einen Fehler begehen, der uns letztendlich auf seine Spur bringen würde. Die Frage war nur, wie viele Morde würde er begehen, bis es so weit war?

Eine Hand an meiner Schulter riss mich aus meinen Gedanken. „Eine Sache habe ich noch vergessen“, sagte eine Stimme hinter mir. Großkopf! Ich zog mit einer panikartigen Bewegung meine Schulter unter seiner Hand hervor und drehte mich übellaunig um. War es denn wirklich so schwer für den Kerl, seine Hände bei sich zu lassen!? „Was denn?“, grummelte ich unfreundlich.

„Sie sollten den Wohnzimmerschrank genauer unter die Lupe nehmen“, erwiderte Großkopf, unbeeindruckt von meiner feindseligen Körperhaltung. „Wir haben etwas sehr interessantes entdeckt!“

Mit einem geheimnisvollen Nicken deutete er auf einen schlichten Wandschrank, der in der hinteren Ecke des Raumes in die alte Tapete eingelassen war.

Irritiert öffnete ich die abgenutzte Tür und schreckte sofort einen Schritt zurück. Ein unangenehmer Duft breitete sich im Zimmer aus. „Was zum …!“, fluchte ich und hielt mir die Hand vor dem Mund. „Was ist das?“

„Urin“, verkündete Großkopf stolz, als hätte er gerade den Nobelpreis gewonnen.

„Urin?“, fragte ich ungläubig. Ich kniete mich auf den Boden und untersuchte den Schrank. Großkopf hatte Recht. Der mit Teppich ausgelegte Schrankboden wurde durch einen großen, dunklen Fleck dominiert, von dem der stechende Geruch nach Ammoniak ausging. „Vom Opfer? Oder vom Täter?“, überlegte ich laut über meine Schulter.

„Schwer zu sagen. Wir haben eine Probe genommen. Aber wenn Sie meine persönliche Meinung wissen wollen, würde ich sagen: Nein, nicht vom Opfer. Die Kampfspuren lassen nicht darauf schließen, dass sich der Kampf bis zum Schrank ausgeweitet hat.“

Überrascht fuhr ich hoch und vergaß für einen Augenblick den strengen Geruch.

„Sie meinen also, …“, hakte ich vorsichtig nach.

„Ich meine, in diesem Schrank hat sich jemand versteckt.“

„Jemand, der sich nicht herausgetraut hat, um zur Toilette zu gehen“, ergänzte ich aufgeregt. „Vielleicht, weil es zu gefährlich war und es seine Anwesenheit verraten hätte.“

„Korrekt“, bestätigte Großkopf mit einem zufriedenen Lächeln. „Entweder, der Mörder hat unserem Opfer hier längere Zeit aufgelauert, was ich nicht für sonderlich wahrscheinlich halte, oder aber es gibt zumindest dieses Mal einen Zeugen für die Tat.“

Schattenseiten

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