Читать книгу Schattenseiten - Kai Kistenbruegger - Страница 11

21 Tage davor

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Bereits draußen vor der Kneipe konnte ich Bobbys durchdringenden Bariton bereits hören, obwohl der Straßenlärm der angrenzenden Hauptstraße alle anderen Geräusche der beginnenden Nacht verschluckte.

Die kleine Kneipe lag in einer verkehrsberuhigten Nebenstraße, die direkt in die stark befahrene Hauptverkehrsader zur Altstadt einmündete. Das hatte den charmanten Vorteil, in relativ kurzer Zeit ein Taxi organisieren zu können, das angeheiterte Kneipengäste nach zu viel Bier und Wein sicher nach Hause chauffierte. Der Nachteil war, dass in den lauen Sommernächten des Düsseldorfer Spätsommers Gespräche außerhalb des gemütlichen Gastraumes kaum in einer vernünftigen Lautstärke möglich waren. Aber das war in der Regel auch nicht Sinn der Übung; die meisten der Gäste waren schweigsame Zeitgenossen, die bei einem Bier und ausreichend Schnaps ihren Alltag zu vergessen suchten. Auch Bobby und ich bildeten keine Ausnahme. Als Alkoholiker hätte ich uns nicht bezeichnet, aber die ein oder andere abendliche Stunde in der Kneipe half uns dabei, die Ereignisse des Tages zurückzudrängen und unbelastet von den schrecklichen Bildern unseres Polizeidienstes nach Hause zu gehen.

In letzter Zeit war allerdings, zumindest in Bobbys Fall, der Besuch in der Kneipe zu einer besorgniserregenden Routine verkommen. Vermutlich lag das daran, dass Zuhause niemand mehr auf ihn wartete und die Kneipe sein letzter Zufluchtsort war, an dem man ihm ein offenes Ohr schenkte, auch wenn er dort keine Lösungen für seine Probleme finden würde, von ein paar gutgemeinten Ratschlägen abgesehen.

Hinter der breiten Eingangstür schlug mir der abgestandene Geruch nach schalem Bier und urigem Ambiente entgegen, das vor allem daraus seinen Reiz bezog, dass all die kleinen Pokale, Wandteller, Wimpel und Fähnchen eine altehrwürdige Patina angenommen hatten, die sie beinahe antik erscheinen ließen. In Wahrheit waren sie wahrscheinlich nur seit den siebziger Jahren, als Mikes Vater die Kneipe eröffnet hatte, nicht mehr abgestaubt worden.

Bobby stritt sich gerade lautstark mit einem anderen Gast, während Mike hinter der breiten Theke mit großen Augen bedeutungsschwanger in Richtung Bobby nickte. Sein Mund formte ein lautloses „Gott sei Dank bist du da“, bevor er sich wieder mit der ihm angeborenen stoischen Ruhe der Reinigung seiner Gläser widmete. Als Gastwirt durfte er sich durch solche kleinen Kabbeleien nicht aus der Ruhe bringen lassen, sonst hätte er seinen Laden gleich schließen können. Beinahe jeden Abend gerieten irgendwelche Streithähne aneinander. Nur durch seine ruhige Ader war Mike in der Lage, deeskalierend auf die randalierenden Besucher einzuwirken.

Es war kaum herauszuhören, worum sich Bobby und sein Kontrahent stritten. Beide waren stark angetrunken und wussten wahrscheinlich selbst nicht mehr, was sie ursprünglich in Rage gebracht hatte. Vermutlich Fußball; in der kleinen Kneipe war der Ballsport in achtzig Prozent der Fälle Ursache für alle Streitereien.

Ich legte Bobby brüderlich einen Arm um die Schulter und zog ihn unnachgiebig in Richtung Theke. Sein vorübergehender Widersacher blickte uns irritiert hinterher und vergaß augenblicklich, warum er aufgestanden war. Er torkelte zurück zu seinem Tisch und starrte melancholisch in die Überreste seines fast leeren Glases.

„Erik!“, lallte Bobby mit schwerer Zunge. „Schön, dass du es auch geschafft hast.“

Er klopfte mir mit der linken Hand freundschaftlich auf die Brust und ließ sich mit einem dumpfen Plumpsen auf den Barhocker fallen. Ich gab Mike zu verstehen, eine Tasse, oder besser noch einen ganzen Pott, Kaffee zu kochen.

„Weißt du“, murmelte Bobby, und sein Kopf sackte leicht nach vorne, während er sprach, „du bist der einzige, mit dem ich noch sprechen kann. Du bist ein guter Freund.“

Er versuchte, mich zu umarmen, aber zu seiner eigenen Sicherheit lenkte ich seine ungelenke Bewegung zurück an den Tresen. Ich hatte Angst, er würde ansonsten vom Stuhl fallen. Ich schob ihm die Tasse dampfenden Kaffees hin, die Mike inzwischen mit einem mitleidigen Blick vor uns hingestellt hatte. Mike hatte eine Art traurige Berühmtheit für seinen Katerkaffee erlangt, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Er schmeckte nicht sonderlich gut und konnte dir glatt die Schuhe ausziehen, aber er wirkte Wunder, wenn es darum ging, den Schnapsdrosseln wieder ein bisschen klaren Verstand einzuimpfen.

Als ich Bobby in seinem jämmerlichen Zustand beobachtete, überwältigte mich für einen kurzen Augenblick mein schlechtes Gewissen. Eigentlich hatte ich ihm versprochen, heute ein Bier mit ihm zu trinken, bevor ich jedoch der Aussicht auf einen Abend mit Sandra den Vorzug gegeben hatte. Offensichtlich war es Bobby nicht bekommen, alleine dem Alkohol zuzusprechen.

Rückblickend hätte ich viel sensibler auf die Nöte meines Freundes reagieren müssen. Wäre ich wirklich ein guter Freund gewesen, hätte ich viel früher erahnen müssen, wie schlimm es um Bobby stand. Dieses Versäumnis ist etwas, das ich mir immer noch vorwerfe. Leider erkannte ich zu spät, welche Abgründe sich in seiner geschundenen Seele auftaten. An diesem Abend erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf die Schmerzen, die sich in seiner Brust zu einem großen, alles erstickenden Knäuel geformt hatten, ihn von innen auffraßen und nichts als niederschmetternde Dunkelheit zurückließen. Vielleicht hätte ich ihn zu diesem Zeitpunkt noch retten können, aber das Schicksal hatte längst seine unerbittliche Bahn eingeschlagen.

„Sie fehlt mir so“, stammelte er plötzlich, als wäre er soeben aus seinem Rausch aufgewacht. „Ich ertrage es einfach nicht mehr, in der großen Wohnung alleine zu sitzen, in der mich alles an sie erinnert.” Er fing an zu weinen. Es zerriss mir das Herz, diesen Bär von einem Mann zusammengekauert in der Kneipe sitzen zu sehen, während seine Welt um ihn herum zerbrach. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, hilflos, ohne zu wissen, was ich in dieser Situation hätte sagen sollen.

„Komm, Großer!“, brummte ich entkräftet, „ich bringe dich nach Hause.“

Ich klärte mit Mike die finanzielle Seite von Bobbys Absturz und zerrte Bobby nach draußen in ein Taxi. Mike sah erleichtert aus, diese buchstäblich große Sorge loszuwerden. Bobby war zwar trotz seiner Körpermasse kein sonderlich gewalttätiger Typ, trotzdem konnte niemand garantieren, dass ein Streit nicht irgendwann doch noch eskalierte. Und wenn Bobby erst einmal in Fahrt geraten war, hätte ihn nur noch unser Sondereinsatzkommando stoppen können.

„Danke. Du bist ein guter Freund“, nuschelte Bobby erneut, als er seinen schweren Arm um meinen Hals legte und sich ins Taxi verfrachten ließ.

Die kurze Fahrt verlief schweigend. Erst als ich Bobby auf sein Sofa in seiner Wohnung hievte, klärte sich sein Blick. Vielleicht war das kleine Apartment wirklich kein guter Platz mehr für ihn. Überall war noch die Handschrift Maries zu erkennen, obwohl sie bereits so lange nicht mehr in dieser Wohnung wohnte. Bobby hatte alles unverändert gelassen. Gemeinsame Bilder aus glücklichen Tagen zierten die weißen Wände, überall dominierte der erlesene Geschmack Maries die ausgewählte Zimmerdekoration, und selbst mein kritischer Blick ins Badezimmer verriet mir, dass es Bobby noch nicht einmal über sein Herz gebracht hatte, ihre Zahn- oder Haarbürste zu entsorgen.

Es war wahrscheinlich wirklich nicht gesund, ihn noch länger in der Wohnung hausen zu lassen, gefangen in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. Überall fanden sich Zeichen seiner inneren Zerrissenheit; die ganze Wohnung war ein einziger Schrei nach Hilfe. Die Küche war ein Schlachtfeld aus den Überbleibseln einsamer Mahlzeiten, und auch im Wohnzimmer war dringend eine Grundreinigung angeraten. Der Geruch in der Wohnung grenzte beinahe an Körperverletzung.

Ich stellte Bobby ein großes Glas Wasser vor die Nase und ließ mich neben ihn in einen der schweren Sessel fallen.

„Und was jetzt?“, fragte ich hilflos, mehr mich selbst als ihn.

Bobby starrte mich mit trüben Augen an. Ich konnte in seinen Augenwinkeln noch die Tränen schimmern sehen, vielleicht waren es auch neue.

„Warum machen wir das alles überhaupt?“, fragte er, anstatt meine Frage zu beantworten, mit erstaunlich klarer Aussprache. „Ergibt unsere Arbeit überhaupt einen Sinn? Verändern wir tatsächlich etwas, nur weil wir da sind?“ Mit gequältem Gesichtsausdruck krallte er seine Pranken in seine Oberschenkel. „Beinahe jeden Tag bringen sich die Menschen gegenseitig um. Tag für Tag kämpfen wir einen aussichtlosen Kampf gegen diese Verbrechen. Aber wozu? Kaum haben wir einen Mörder festgenommen, springt der nächste für ihn ein.“ Er verzog angeekelt den Mund, als hätte er soeben selbst die Alkoholfahne gerochen, die mir unablässig entgegenschlug.

„Es ist doch alles sinnlos“, konstatierte er resigniert. „Selbst wenn wir einen Mörder schnappen, bekommt er höchstens ein paar Jahre für seine Tat, wenn er nicht gleich ganz freigesprochen wird, von unserem korrupten Rechtssystem!“

Für einen kurzen Augenblick drifteten meine Gedanken zu Sandra und zu ihrem Artikel. Vielleicht sollten Sandra und Bobby sich zusammensetzen; sie konnten ihre beiden Meinungen zum Thema Korruption mit Sicherheit gegenseitig befeuern. Ich verkniff mir ein Grinsen bei dem Gedanken daran und stellte kurz darauf irritiert fest, dass Bobby mich anstarrte.

„Was ist?“, fragte ich verunsichert.

„Ich sagte, vielleicht ist der irre Mörder das Beste, was uns passieren konnte.“

Beunruhigt setzte ich mich auf. „Wie kannst du so etwas sagen?“, fragte ich perplex. „Der Kerl bringt Menschen um!“

„Das sind keine Menschen!“, brauste Bobby auf. Feine Speicheltröpfchen sprühten auf den Glastisch vor ihm. „Alles Abschaum, der für seine Missetaten nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Es war an der Zeit, dass sie endlich jemand für ihre Schandtaten bezahlen ließ!“

Zuerst wollte ich Bobbys These entsetzt zurückweisen, aber tief in mir regte sich der Verdacht, dass Bobby gar nicht so falsch lag. Ich meine, selbstverständlich nicht mit seiner These, jeder könnte das Recht in die eigene Hand nehmen. Das können wir nicht zulassen; das Ergebnis wäre Anarchie. Unsere gesellschaftliche Ordnung würde schnell zusammenbrechen, sobald Recht und Gesetz nicht mehr durch den Staat geregelt werden. Doch Bobby hatte in seinem Suff tatsächlich einen interessanten Schluss gezogen. Bislang hatten wir uns noch keine wirklichen Gedanken über die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Fällen gemacht, über das Motiv. Aber Bobby hatte Recht; beide Opfer waren mutmaßliche Straftäter, die zwar angeklagt, aber nicht verurteilt worden waren.

Ich sprang auf. „Bobby, das ist genial!“, entfuhr es mir begeistert.

Doch Bobby reagierte nicht mehr. Ein leises Schnarchen deutete darauf hin, dass er endlich seinem Rausch erlegen und in einen tiefen Schlaf abgeglitten war.

Ich seufzte und deckte ihn provisorisch mit einer Decke zu, die neben der Couch auf dem Boden lag.

Ich wollte gerade die Wohnung verlassen, als mein Blick auf Maries Schlüsselbund fiel, das immer noch an dem kleinen Brett neben der Tür hing. Ich steckte ihn ein, mit Blick auf meinen großen Freund, der hilflos wie ein kleines Kind mit offenem Mund auf dem Sofa schlief, alle Extremitäten weit von sich gestreckt. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Es konnte nicht schaden, in Notfällen in seine Wohnung kommen zu können. Allerdings hoffte ich, er würde das Kapitel Marie endlich abschließen können, bevor es ihn endgültig zerstörte. Er war jedenfalls auf dem besten Weg, in eine Alkoholsucht abzugleiten, und nicht nur seinen Beruf, sondern auch sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Als ich nach Hause kam, war Sandra immer noch nicht da. Besorgt ging ich alleine im Bett, aber meine plötzlich aufkommende Müdigkeit forderte alsbald ihren Tribut. Als sie sich spät in der Nacht doch noch neben mich legte, war ich längst eingeschlafen.

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