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SCHÖPFUNGSMYTHEN

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Wenn Theologen oder Archäologen die biblischen Geschichten auf ihre Ursprünge und Quellen hin untersuchen, wird es manchen Bibelgläubigen, insbesondere wenn sie von der Historizität biblischer Aussagen fest überzeugt sind, recht unbehaglich, weil sie befürchten, dass diese Forscher bei ihrem Versuch, ein historisch gesichertes Minimum sicherzustellen, die maximale göttliche Wahrheit verraten könnten.

Und wenn gar von Mythen und Mythologien gesprochen wird, taucht bei manchen bibelfesten Christen das Schreckgespenst der biblischen „Entmythologisierung“ des Neutestamentlers Rudolf Bultmann auf, worunter die meisten lediglich verstehen, dass viele der biblischen Geschichten einfach nicht wahr seien. Damit aber werden sie der Bedeutung des Mythos grundsätzlich nicht gerecht.

Mythen sind Überlieferungen, die sich mit der Entstehung der Welt, des Menschen, eines Volkes oder mit den Erlebnissen und Erfahrungen unserer Vorfahren und Helden befassen. Mythen wachsen auf dem Boden der Wirklichkeit. Sie repräsentieren individuelle und kollektive menschliche Erlebnisse von existentieller Tragweite. Sie sind wahr weniger im Sinne historischer, geologischer, astronomischer oder biologischer Faktentreue als im Sinne grundsätzlicher menschlicher und seelischer Grundwahrheiten.

Die Kenntnis der Mythen eines Volkes erlaubt ein Verständnis des Verhaltens und der Identität eben dieses Volkes. Unsere Mythen stellen unser kollektives Unterbewusstsein dar. Sie sind unsere Denkvoraussetzungen, die vorgegeben sind, bevor wir zu denken und zu handeln beginnen. Mythen sind nicht nur Geschichten der Vergangenheit, sondern auch Deutungsbilder, mit deren Hilfe wir unsere Gegenwart begreifen. Wir entwickeln Mythen über uns als Individuen, über uns als Volk und über unsere Welt als Ganzes. Mythen sind Erklärungsbilder, die den Zweck haben, unser Verständnis von uns selbst und der Welt zu vereinfachen.

Mythen haben nicht nur den Sinn, uns vereinfachte Weltbilder anzubieten, sondern sie helfen uns auch, menschliche Rätsel und existentielle Unbegreiflichkeiten einzuordnen, zu erklären und gegebenenfalls auch zu verklären. Sie wollen verarbeiten, was uns als Verirrungen und Verwirrungen im tiefsten Inneren berührt und betrifft. Mehr als von den Anfängen und Zerstörungen der Welt erzählen sie von den Verletzungen und Verstörungen der Seele. Sie sind Zeugnisse existentieller Bedrohungen und traumatischer Verletzungen, aber auch wundersamer Bewahrungen und Erlösungen. Somit stellen z.B. Schöpfungsmythen nicht nur eine Erklärung für die Entstehung der Welt dar, sondern sind in erster Linie eine reflexive Verarbeitung menschlicher Urerfahrungen.

Der Mythos steigt aus den Erlebnissen und Erfahrungen der Seele empor und damit aus einer Dimension, die der Mensch von jeher als „göttlich“ wahrgenommen hat. Der Mythos stellt mithin eine Verbindung her zwischen existentieller menschlicher Wirklichkeit und dem, was der Mensch zuweilen als „göttliche Offenbarung“ deutet. Im Mythos erschließt sich dem Menschen eine sakrale, göttliche Wirklichkeit, die er weniger mit seinem Verstand als vielmehr mit seinem Unbewussten, seiner Seele begreift. Aber diese „sakrale“ Dimension des Seelischen ist das eigentlich Wirkliche, das, was den Menschen in seinem innersten Kern berührt.

Der Mythos dient nicht nur der Welterklärung, sondern auch der Orientierung des Menschen in der Welt. So wie die (biblische) Schöpfung aus dem Chaos hervorgegangen ist, hilft der Mythos dem Menschen, aus dem ihn bedrohenden Chaos seiner Orientierungslosigkeit herauszufinden in eine Welt der Ordnung und des Verstehens. Der Mythos erlaubt es dem Menschen, die Himmelsrichtungen und damit den „Erdkreis“ festzulegen. Darum ist der Kosmos um ihn herum meistens kreisförmig und geschlossen; er konstituiert die Ordnung von Welt und Mensch.

Bei den Achilpa-Australiern gibt es einen Ursprungsmythos, gemäß dem Numbakula, ein göttliches Wesen, aus dem abgestorbenen Stamm eines Gummibaumes einen heiligen Pfahl, den Kauwa-auwa, geformt habe, an dem er dann, nachdem er ihn mit Blut beschmierte, hochklettert, um im Himmel zu verschwinden. Dieser Kauwa-auwa-Pfahl stellte für diese Ureinwohner Australiens eine Art kosmische Achse dar, die der Orientierung diente. Solange der Pfahl da war, wussten die Achilpa nicht nur, wo ihre „Mitte“ war, an der sie sich bei ihren vielen Ausflügen orientieren konnten, sie hatten durch ihn auch eine dauerhafte Verbindung zum Himmel. Der Pfahl versinnbildlichte sozusagen die vertikale und zugleich horizontale Ausrichtung des Stammes. Berichten zufolge glauben die Achilpa, dass, würde der Pfahl zerstört werden, sie dem Tod geweiht wären, weil dann ihre Verbindung zur Transzendenz und damit ihre göttliche Orientierung verloren ginge.1

Dieses Beispiel des rumänischen Religionswissenschaftlers Mircea Eliade (1907–1986) zeigt, wie der Mythos hilft, den Lebensraum eines Volkes zu „kosmisieren“. Durch die Kosmisierung wird dieser menschliche Raum geheiligt. In einem Kosmos zu leben bedeutet, in einem sakralen Raum zu leben, die Verbindung zu den Göttern aufrecht zu erhalten und auf diese Weise Orientierung für das eigene Leben zu gewinnen.

In vielen Kulturen zeigt sich diese Art der Orientierung übrigens auch an der Bauweise der Häuser, die oft rund (den Erdkreis darstellend) und manchmal mit einem Pfahl in der Mitte versehen sind, der das Zelt oder das Strohdach hält und die kosmische Achse, also den Mittelpunkt der Welt, symbolisiert.

Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Mythen und Mythologien: Göttersagen und andere religiöse Mythen, Königs- und Heldensagen, Katastrophenmythen, neuzeitliche Mythen, die sich moderne Gesellschaften selbst erschaffen und die sie zuweilen sorgsam pflegen (um unbequeme Realitäten zu verklären), ja es gibt sogar naturwissenschaftliche Mythen. Ich möchte mich hier vor allem mit Weltentstehungs- oder Schöpfungsmythen befassen.

Und sie dreht sich doch!

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