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Der Verlust an gemeinsamen Rhythmen

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Wer über die Rhythmik des Alltagslebens nachdenkt, erkennt schnell, dass sie sich in den letzten Jahrzehnten spürbar verändert hat. Die festen Rhythmen, die lange Zeit Ordnung, Struktur und Zusammenhang im persönlichen und sozialen Leben der Menschen aufrechterhalten haben, wurden immer mehr in den Hintergrund gedrängt und durch eine flexible, jederzeit individuell einsetzbare Zeiteinteilung ersetzt.

Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschten unerschütterliche Gewohnheiten – man verließ das Bett, arbeitete, ruhte und feierte zu festgelegten Zeiten. Als ich mit einem Kollegen die Zeitorganisation unserer Mitarbeiter besprach, erzählte er mir, dass sein Vater jeden Tag Schlag fünf sein Büro verließ, obwohl er einen anspruchsvolleren Job hatte als sein Sohn heute und mehr Angestellte unter sich. Trotzdem habe der Vater niemals mehr als acht Stunden pro Tag gearbeitet, geschweige denn am Wochenende. Er beneide ihn darum.

Auch ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater am Wochenende oder am Abend gearbeitet hätte. Als Kind saß ich oft um halb sechs auf dem Bürgersteig vor unserem Haus und wartete, bis er von der Arbeit angeradelt kam. Ich wusste, dass er nie zu spät sein würde. Meine Mutter stand in der Küche, der Tisch war gedeckt, und es war undenkbar, ohne ihn mit dem Abendbrot anzufangen.

Die Rhythmen, die einst die sozialen Gewohnheiten in eine zeitliche Ordnung brachten, gründeten sich auf religiösen Vorschriften und traditionellen Geschlechterverhältnissen. Die Disziplinierung durch die Religion führte zur Einrichtung eines wöchentlichen Ruhetags, von Feiertagen und zur Struktur der Schul- und Arbeitstage mit ihrer festen Abfolge von Arbeit, Pause und Freizeit. Die Anfänge dieser Disziplinierung reichen Tausende Jahre zurück.

In den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts begann sich diese Zeitdisziplinierung aufzulösen. Die Säkularisierung ließ die Menschen massenhaft aus der Kirche austreten. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen änderte sich. Jetzt waren auch die Frauen außer Haus berufstätig und die Männer übernahmen Pflichten im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder.

Aufgrund dieser Veränderungen war ein gemeinsamer Lebensrhythmus nicht länger selbstverständlich. Die traditionellen Rhythmen, die bisher für die Einteilung der Tage, Wochen und Jahre verantwortlich waren und nicht nur die Aktivitäten und die Ruhe zeitlich und räumlich voneinander trennten, sondern auch das Lernen vom Spiel, die sakralen von den alltäglichen Momenten, die „männlichen“ von den „weiblichen“ Tätigkeiten, wichen einer Zeitordnung, in der jeder persönlich entscheiden konnte, wie er seinen Alltag organisieren wollte. Ladenschlusszeiten, die Sonntagsruhe, der schulfreie Mittwochnachmittag in den Niederlanden, die landesweiten Schulferien und die festen Arbeits- und Schulzeiten waren nicht mehr selbstverständlich.

Nach wie vor weichen scheinbar unveränderliche, gemeinsame Rhythmen zunehmend „flexiblen Zeiten“. In Zukunft wird man zu jeder beliebigen Tages- oder Wochenzeit tun können, was einem gerade einfällt; jede Person wird für sich entscheiden können, was sie wann tun oder lassen will.

Außer Takt

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