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Arbeitszeitflexibilisierung

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Flexible Zeiten passen auch besser zu den modernen Geschlechterverhältnissen. Heute wollen beide Elternteile arbeiten und für die Erziehung der Kinder verantwortlich sein. Sie sind überzeugt, dass Kinder und Beruf sich besser vereinbaren lassen, wenn die Arbeits-, Schul- und Ladenschlusszeiten flexibler gehandhabt werden.15

Doch flexible Zeiten sind Teil einer 24-Stunden-Ökonomie, die den tradierten Rhythmen des Schlafs – von elf Uhr nachts bis zum nächsten Morgen um sieben Uhr – und der Arbeit – von neun Uhr vormittags bis fünf (oder sechs) Uhr nachmittags inklusive eines freien Wochenendes – zuwiderläuft. Bei flexiblen Arbeitszeiten müssen die Menschen bereit sein, spät nachts hinter der Kasse zu sitzen oder die Supermärkte mit Waren zu beliefern, sonntags die Post auszutragen, in einem Pflegeheim die Nachtschichten zu übernehmen oder noch vor Anbruch des Tages den Fußboden einer Disco zu putzen.

Obwohl es vor allem für die berufstätigen Eltern leichter geworden ist, Beruf und Familie miteinander zu verbinden, birgt die Abkehr von den gemeinsamen Rhythmen auch Risiken. Der Verweis auf festgelegte Zeiten kann in einer von „Flexzeiten“ regulierten Welt nicht länger als Entschuldigung dienen. Aussagen wie „Der Arbeitstag ist zu Ende“, „Es schlägt gerade sieben“ oder „Heute ist schulfreier Mittwochnachmittag und somit ‚Papa-Tag‘“ sind wirkungslos geworden. Wollen wir einen Auftrag nicht ausführen, können wir uns nicht mehr auf eine Autorität außerhalb von uns berufen. Das ist uns aber auch dann verwehrt, wenn wir etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt durchaus tun wollen. Die Sekretärin, die am Ende des Arbeitstages noch einen Eilauftrag auf den Schreibtisch bekommt, kann nicht darauf verweisen, dass die Kinderkrippe gleich schließen wird, denn die Kinderkrippe hat immer geöffnet. Allerdings kann dann auch ein junger niederländischer Vater nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass sein Arbeitgeber ihm den schulfreien Mittwochnachmittag als Elterntag gewährt, da es heutzutage zahlreiche Betreuungsangebote gibt.

Die zunehmende Arbeitszeitflexibilisierung führt somit zu einer Arrhythmie, bei der gemeinsame Rhythmen, bei denen Ruhe und Aktivität, Stille und Lärm, Werk- und Feiertage sich abwechseln, durch eine Vielzahl einzelner, für sich stehender Entscheidungen des Individuums darüber, wie es seine Zeit verbringen will, ersetzt werden. Die Summe dieser individuellen Entscheidungen ergibt jedoch nicht mehr automatisch ein rhythmisches Ganzes. Ähnlich wie bei einem Orchester, wo der Dirigent die einzelnen Spieler dazu bringt, rhythmisch zusammenzustimmen, ist auch im Alltagsleben ein „Dirigent“ nötig, der die vielen einzelnen Rhythmen in Einklang bringt. Sonst muss über jede Entscheidung, wer wann was zu erledigen hat, endlos diskutiert werden – wie viel kostbare Zeit dadurch verloren geht, weiß inzwischen fast jeder mit einer flexiblen Arbeitszeit.

Verschwinden die sozialen Rhythmen, führt dies zu einer Reduktion der deutlich gekennzeichneten Ruhemomente. Wenn Arbeit jederzeit möglich ist oder eingefordert werden kann, gibt es keine Momente mehr, in denen ganz selbstverständlich nicht gearbeitet wird. Die Grenze zwischen Arbeiten und Nicht-Arbeiten löst sich auf, das Risiko eines Burn-outs wächst, vor allem bei den Ehrgeizigen, die Karriere machen wollen.16 Derart ruhelos können Menschen sich buchstäblich zu Tode arbeiten.

Nicht einmal Arbeitslose sind vom Druck verschont, jederzeit und allerorts verfügbar zu sein. Ohne verordnete, gemeinsame Ruhemomente wird von uns allen erwartet, stets ans Telefon zu gehen, E-Mails zu beantworten oder dringend anfallende Arbeiten zu erledigen.

Der Verlust gemeinsamer Rhythmen führt zu einer anderen Auffassung von Zeit. Bisher versahen die Rhythmen die Zeit mit Etiketten, gaben dem Alltagsleben Sinn, legten klar dar, wann es Zeit war, zu arbeiten, aufzustehen, Sport zu treiben oder freizuhaben, teilten den Alltag in Zeiten für Aktivität und Passivität, Lärm und Stille, trennten die einzelnen Tätigkeiten voneinander.

Wie lange aber werden diese gemeinsamen Rhythmen noch gelten? Die Arbeitszeitflexibilisierung und die Individualisierung der Zeitordnung untergraben die gemeinsamen sozialen und kulturellen Rhythmen immer mehr. Fallen diese weg, kommt es zum Verlust einer zeitlichen Orientierung. Ohne einen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Montag und Freitag, Sommer und Winter, kurz gesagt: Ohne Rhythmik wird die Zeit austauschbar. Die Frage stellt sich, ob wir dann überhaupt noch von Zeit sprechen können.

Die Folgen solcher Veränderungen sind weitreichend. Wie können wir in einer rhythmuslosen „Zeit“ Verabredungen treffen? Vielleicht müssen wir dann eine numerisch ins Unendliche zählende Uhr benutzen, bei der die einzelnen Momente des Tages, der Woche oder des Jahres nicht mehr voneinander unterschieden werden? Vielleicht verabreden wir uns dann nicht mehr für den Nachmittag am dritten Montag des Monats November, sondern für den Zeitpunkt 34211888 oder 57690236?

Doch mit einer solch gleichförmigen, vom Alltag losgelösten, unendlich weitertickenden Uhr wird die Zeit eine andere und vielleicht am Ende bedeutungslos.

Außer Takt

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