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1 Zwischen dem linken und dem rechten Schuh Zeiterfahrung und Lebensrhythmus

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Was ist nur mit der Zeit los? Die Niederländer gehören zu denen, die am lautesten darüber klagen, zu viel zu tun zu haben. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung gesteht, sich gelegentlich bis häufig gehetzt zu fühlen.5 Und das, obwohl wir Niederländer über mehr Freiheit verfügen als der Rest Europas: fünfeinhalb Stunden pro Tag statt fünf. Auch verbringen wir weniger Zeit mit Arbeit, Haushalt und der Betreuung und Pflege von Familienangehörigen als Einwohner anderer Länder.6 Warum aber fühlen wir uns trotzdem gestresst und nehmen uns vor, in Zukunft alles etwas langsamer anzugehen?

Das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, ist nicht neu. Eine treffende Formulierung dessen, was ich die „Gehetztheitsthese“ nenne, fand ich beim niederländischen Journalisten Henk Hofland (1927–2016):

Unsere Zeit ist wie besessen von einer enormen Eile. Wie Windhunde rennen wir hinter einem künstlichen Hasen her. Wem es gelingt, sich mehr oder weniger erfolgreich vom Alltagsleben zu distanzieren und interesselos und objektiv das Tun und Lassen seiner Mitmenschen zu beobachten, erkennt, dass sie in einem Rausch leben oder in einem Rausch leben wollen, fest entschlossen und anderen Leuten gegenüber vollkommen rücksichtslos.

Das schrieb Holland keineswegs im 21. Jahrhundert, sondern in den Fünfzigerjahren des vorigen. Bereits in jenen, uns heute so träge erscheinenden Jahren machte sich Hofland ernsthaft Gedanken über die Auswirkungen des zunehmenden Zeitmangels.7 Dass Eile relativ ist, zeigt Hoflands Aufschrei. Was den Leuten damals schnell vorkam, erscheint uns heute als gemächlich.

Die Feststellung, dass die Zeit von der Eile wie besessen sei, scheint zu allen Zeiten gültig gewesen zu sein. Bei jeder Beschleunigung, die sich im privaten oder im öffentlichen Leben vollzieht, wird sie wieder vorgebracht, egal, ob es sich dabei um die Einführung der Dampflokomotive, des Fließbands, der Waschmaschine, des Flugzeugs oder des Internets handelt. Jedes Mal wird befürchtet, die neue Geschwindigkeit könne dem Menschen schaden. Angeblich hat man vor langer Zeit sogar vor der Schnelligkeit des Reitens gewarnt.8

Allen Aussagen gemeinsam ist, dass Eile, Hetze und Geschwindigkeit für den Menschen ungesund sind. Die Gehetztheitsthese wird meistens dann vorgebracht, wenn die Menschen davon überzeugt werden sollen, dass die neuen Geschwindigkeiten keinen Fort-, sondern einen Rückschritt darstellen, weil sie dem natürlichen Tempo des Menschen widersprechen und ihn gegen seinen Willen zwingen, immer schneller zu werden.

Die Geschichte beweist jedoch, dass der Mensch es durchaus vermag, sein spezifisches Tempo den Beschleunigungen anzupassen, die ihm von außen stets neu auferlegt werden. Er wundert sich längst nicht mehr über die Geschwindigkeit eines Zugs oder eines Autos. Im Gegenteil: Säße er in einem zu langsam fahrenden Zug, würde das mit Sicherheit seinen Unmut erregen.

Die Begriffe schnell und langsam und das damit verbundene Begriffspaar Eile und Trägheit basieren auf einer Perspektive des Vergleichs, wie der Soziologe Peter Peters in seiner Studie über die Mobilität feststellt.9 Eine Bewegung oder ein Prozess können nur als schnell erkannt werden, wenn sie in Beziehung mit etwas gesetzt werden, was weniger schnell geschieht. Ein Fahrradfahrer ist schnell, verglichen mit einem Fußgänger, doch langsam in Bezug auf einen Autofahrer.

Bei der Gehetztheitsthese wird der Vergleich unterschlagen: Eile und Hetze werden aus dem Kontext isoliert und per se für schlecht gehalten. Dadurch aber klammert man aus, dass die Eile nicht nur durch Geschwindigkeit oder Beschleunigung verursacht wird, sondern auch durch Trägheit oder Verzögerung. Wer im Stau steht und weiß, dass der Kindergarten in fünf Minuten schließt, steht unter hohem Zeitdruck und stürzt gehetzt aus dem Wagen, sobald er am Ziel angekommen ist.

Der wahre Grund dafür, dass das Problem des Stresses bis heute nicht gelöst wurde, ist nicht die mangelnde Befolgung des Aufrufs zur Entschleunigung, sondern die mangelnde Erkenntnis, dass nicht Hetze und Geschwindigkeit das eigentliche Problem sind. Das eigentliche Problem besteht aus der mangelnden Abstimmung der verschiedenen Geschwindigkeiten aufeinander, das heißt, es ist ein Problem der Rhythmik. Rhythmen sorgen dafür, dass Aktivitäten unterschiedlicher Geschwindigkeit und Dauer so miteinander kombiniert werden, dass uns genügend Zeit und Energie bleibt, damit wir auch tun können, was wir tun wollen oder zu tun für lohnenswert halten.

Außer Takt

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